Das Referendum über die Änderung der Verfassung in der Türkei

Acht Richter mehr für Erdogan

In der Türkei will die islamisch-konservative Partei von Premierminister Erdogan die Verfassung in mehreren Punkten ändern. Sie möchte vor allem ihren Einfluss auf die Justiz vergrößern. Am Sonntag soll in einem Referendum über die Änderungen abgestimmt werden.

Über die Straßen sind große Transparente gespannt: »Ja zur positiven Differenz für die Frauen!« Gemeint ist eine Verfassungsänderung, über die am 12. September in der Türkei in einem Referendum abgestimmt wird. Die Reform sieht unter anderem vor, dass dem Staat ausdrücklich erlaubt werden soll, benachteiligte Gruppen zu bevorzugen. Danach könnten Gerichte Fördermaßnahmen, wie zum Beispiel Frauenquoten, nicht mehr mit Hinweis auf den Gleichheitsgrundsatz einfach ablehnen. Das klingt gut, auch wenn unklar bleibt, was die Regierung mit dieser neuen Freiheit anfangen will. Premierminister Recep Tayyip Erdogan hat sich mehrmals dafür stark gemacht, dass Frauen »mindestens« drei Kinder gebären und dass sie überall ein Kopftuch tragen können, aber niemals für Frauenquoten oder ähnliche Maßnahmen. Wer dennoch wegen der potentiellen Besserstellung der Frauen am kommenden Sonntag mit »Ja« zur Verfassungsänderung stimmt, wird zugleich vielen anderen Vorhaben und dem Kleingedruckten zustimmen, wie etwa der Erhöhung der Zahl der Verfassungsrichter von elf auf 19.

Nun mag man sich fragen: Wen interessiert schon die Zahl der Verfassungsrichter? Dies ist jedoch die vielleicht wichtigste der vorgeschlagenen Änderungen. Die Opposition sieht in dem Vorhaben, den Aufbau des Verfassungsgerichts neu zu ordnen, den Versuch, die Justiz der Regierung zu unterwerfen. Der noch vom verstorbenen Staatspräsidenten Turgut Özal ernannte Vorsitzende des Verfassungsgerichts Hasan Kilic, steht der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP nahe. Ein weiterer der Regierung nahestehender Richter wurde vom amtierenden Staatspräsidenten Abdullah Gül, einem engen Weggefährte Erdogans, ernannt. Es verbleiben neun Richter, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, wenn auch nicht unbedingt in allen Fragen. Die AKP will diesen Zustand beenden und braucht dafür zehn weitere Richter im Verfassungsgericht. Diese sollen entweder von Gül oder mit einfacher Mehrheit vom Parlament ernannt werden. Mit dem Staatspräsidenten und der Parlamentsmehrheit auf ihrer Seite hat also die Regierung das letzte Wort. Die Kandidaten werden in einem sehr komplizierten Verfahren unter hohen Richtern, hohen Beamten und Rechtsanwälten ausgewählt. Das schränkt die Willkür bei der Besetzung der Posten jedoch nur bedingt ein. Wie bisher ist ein juristisches Studium nicht unbedingt erforderlich, um Verfassungsrichter zu werden.
Die AKP behauptet, die Verfassungsreform sei notwendig, um die Türkei für den EU-Beitritt zu modernisieren. Die Opposition dagegen sieht in dem Referendum vor allem den Versuch der AKP, die Kontrolle über sämtliche Bereiche des Staats zu übernehmen.
Viele der übrigen vorgesehen Änderungen hören sich gut an, haben aber allenfalls symbolische Bedeutung. Da heißt es etwa: »Der Staat ergreift Maßnahmen zum Schutz von Kindern gegen Missbrauch und sexuelle Gewalt.« Anstatt sich selbst ebenso selbstverständliche wie unverbindliche Aufträge zu erteilen, hätte die Regierung besser daran getan, ein konkretes Verbot von Kinderarbeit in der Verfassung festzuschreiben. Den Angestellten im öffentlichen Sektor wird das Recht zugestanden, Tarifverträge auszuhandeln. Doch kein Wort wird über ein Streikrecht im öffentlichen Dienst verloren.

Symbolisch ist auch eine andere wichtige Änderung. Es soll ein Paragraph gestrichen werden, mit dem sich die Putschisten von 1980 selbst Straffreiheit gesichert haben. Dies stand ursprünglich nicht im Entwurf, wurde dann aber auf Vorschlag der Opposition aufgenommen. Abgelehnt wurde der Vorschlag, zugleich die Verjährungsfristen zu ändern oder gar in einem Zusatz zur Verfassung ausdrücklich die Bestrafung der Putschisten zu fordern. Weil das alles unterblieben ist, kann ein alter Herr, der ehemalige General Kenan Evren, im angenehmen Mittelmeerklima des Badeortes Marmaris sich weiter seinem Hobby, der Malerei, widmen, ohne Angst haben zu müssen, für seine Verbrechen belangt zu werden. Andererseits versucht die Regierung, die Gegner der Verfassungsänderung als Sympathisanten der Putschisten hinzustellen. Dabei kommt ihr der Zufall gelegen, dass das Referendum auf den 12. September fällt, den 30. Jahrestag des Putsches unter General Evren.
Auch die Zuständigkeit der Militärgerichte soll eingeschränkt werden. Der Eindruck, mit der Verfassungsänderung könnten putschbereite Generäle endlich juristisch verfolgt werden, ist aber falsch. Gegen rund 200 angebliche Verschwörer innerhalb und außerhalb des Militärs laufen derzeit schon Prozesse. Die Beweislage ist in den meisten Fällen sehr dürftig.
Zu den umstrittenen Themen gehören umfangreiche Änderungen, die den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) betreffen. Der HSYK ist für die Beförderungen und Befugnisse von Richtern und Staatsanwälten zuständig und hat eine wichtige Funktion im Justizapparat. Der Vorschlag, die Verfassung zu ändern, wurde erst nach einem heftigen Streit zwischen der Regierung und dem HSYK vorgebracht.

Die Reformen sehen vor allem äußerst technische Änderungen vor, die vielen Bürgerinnen und Bürgern vermutlich schleierhaft bleiben. Dies gilt auch für die Möglichkeit, sich mit einer Klage direkt an das Verfassungsgericht zu wenden. Was wie eine neue Chance für die Bürger aussieht, ist in Wirklichkeit eine Möglichkeit für den Staat, die Zahl der gegen ihn gerichteten Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg zu verringern. Auf diese Weise wird nämlich der Rechtsweg in der Türkei verlängert, vor dessen Ausschöpfung eine Klage in Strasbourg nicht möglich ist. Dabei ist abzusehen, dass das Verfassungsgericht mit Tausenden von Klagen nicht fertig wird. Juristen rechnen mit Wartezeiten von zehn oder gar 20 Jahren.
Meinungsumfragen zeigen, dass es am Sonntag zu einem äußerst knappen Ergebnis kommen könnte. Erdogan konnte zwei kleine islamische Parteien auf seine Seite ziehen. Bei der Opposition fehlt die kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die zum Boykott aufruft, ebenso wie der gefangene PKK-Chef Abdullah Öcalan.
Die Regierung liegt derzeit um einige Prozentpunkte vorne. Ihre Kampagne ist viel besser finanziert und koordiniert als die der Opposition. Außerdem bieten die während des Fastenmonats Ramadan üblichen großen »Volksspeisungen«, eine islamische Variante der Sozialhilfe, den vor allem von der AKP beherrschten Gemeinden eine gute Gelegenheit, nebenher Propaganda für das Referendum zu machen.
Der Opposition fehlt vor allem eine klare Linie. Die Reformvorhaben sind so undurchsichtig, dass sie kaum klare Angriffspunkte bieten. Die Ultranationalisten der MHP ahnen wie immer den »Verrat an der Nation«. Die kemalistisch orientierte Republikanische Volkspartei (CHP) unter ihrem neuen Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu thematisiert die Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz. Doch mit diesem Thema lassen sich die Massen schwer aufrütteln.
Trotzdem ist das Land gespalten. Kilicdaroglu und Erdogan haben es geschafft, den Wahlkampf auf einen persönlichen Schlagabtausch zuzuspitzen. Kilicdaroglu ist politisch offener und bei weitem beliebter als sein Vorgänger Deniz Baykal. Doch Erdogan ist und bleibt der gewiefteste Wahlkämpfer der Türkei.
Auch wenn Kilicdaroglu den Zweikampf verliert, ist zu erwarten, dass nicht wenige Wähler mit »Nein« abstimmen werden. Das gibt dem Politiker die Möglichkeit, seine erstarrte Partei zu reformieren. Die Türkei bekäme endlich eine Opposition, die eine echte Alternative zu Erdogan wäre.
Die Abstimmung hat große politische Bedeutung. Gewinnt die AKP, so wird sie ihren Wählern nicht mehr sagen können, dass sie von der Justiz an diesem und jenem gehindert werde. Rufe nach einem deutlicheren islamischen Profil der Partei könnten laut werden. Außerdem ist zu erwarten, dass Erdogan nach einem Erfolg beim Referendum darangehen wird, eine Präsidialdemokratie zu errichten.