Der grüne Abgeordnete Sven-Christian Kindler erklärt, wie Haushaltspolitik funktioniert

Die Zukunft liegt in den Zahlen

Der grüne Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler findet Haushaltspolitik »spannend«. Er wühlt sich durch elf Megabyte große PDF des Finanzministeriums, in denen es etwa um »EP15« oder um Einzelposten wie »F 711 01-165« geht, und immerhin kann er dazu in »Haushaltsberichterstattergesprächen« Fragen stellen und den ein oder anderen Irrsinn aufdecken. Ein kleiner Einblick in die Funktionsweise der Politik, die in Wirklichkeit vor allem eins ist: Haushaltspolitik.

Ein »einmaliger Kraftakt« sei der Entwurf, sagte die Kanzlerin. Der schwarz-gelbe Bundeshaushalt 2011, landläufig bekannt als »Sparpaket«, werde »solide Finanzen« schaffen und zugleich »mit Zukunftsinvestitionen für alle eine Teilhabe an der Gesellschaft gewährleisten«, verkündete Angela Merkel. Das war Anfang Juni, gerade hatte sich ihr Kabinett nach zweitägigen Beratungen auf den Entwurf geeinigt. 11,2 Milliarden Euro wird der Bund demnach im nächsten Jahr sparen, fünf Milliarden davon bei den Sozialausgaben. »Maßvoll, ausgewogen und nachhaltig«, nannte dies Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU).

Bald darauf bekam Sven-Christian Kindler eine E-Mail von Schäubles Beamten. Im Anhang war eine PDF-Datei, 2 638 Seiten lang, elf Megabyte groß: der Bundeshaushaltsentwurf für 2011. Der 25jährige Grüne aus Hannover ist seit der letzten Wahl der jüngste Abgeordnete der Opposition im Bundestag und eines von 41 Mitgliedern des Haushaltsausschusses. Mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern, einem Sozialwissenschaftler und der ehemaligen Wahlkampfmanagerin der Grünen Jugend ist er in seiner Partei für die Einzeletats EP 5 (Auswärtiges Amt, 3,2 Milliarden Euro), EP 15 (Bundesministerium für Gesundheit, 16,1 Milliarden Euro), EP 16 (Bundesumweltministerium, 1,6 Milliarde Euro) und EP 17 (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 6,5 Milliarden Euro ) zuständig. Nachdem Kindler die Pläne gesichtet hatte, twitterte er: »Verteilungskrise verschärft sich«.
Als Haushaltspolitiker hat er bei den letzten Etatberatungen Anfang des Jahres fünf Bundestagsreden gehalten, in der Schlussdebatte sogar »als letzter Abgeordneter und einziger Grüner 13 Minuten lang direkt vor dem Finanzminister«. Das war am 19. März, wegen der Wahlen wurde der Haushalt 2010 erst zu diesem Zeitpunkt beschlossen. Kindler fing so an: »Ich werde immer gefragt, warum ich unbedingt Mitglied des Haushaltsausschusses werden wollte, ob es hier nicht um trockene Rechnerei geht und um endlose Zahlenkolonnen.« Darauf würde er immer antworten, dass dies »eine hochspannende, hochinteressante Aufgabe« sei. Denn der Haushalt, das sei »eigentlich in Zahlen dargestellte politische Zukunft«. Jetzt aber nicht, denn dieser erste Etatplan der schwarz-gelben Koalition sei »in Zahlen gegossene Vergangenheit«, weil die Regierung damit weder der sozialen Spaltung der Gesellschaft entgegentrete noch etwas gegen das Elend von über einer Milliarde hungernder Menschen unternehme. Nach Schäubles Rede, noch vor der Mittagspause, winkten die 313 anwesenden Abgeordneten von CDU/CSU und FDP den Haushalt durch.

Nun ist es also wieder soweit. Bis zur zweiten und dritten Lesung des Haushalts im Bundestag Ende November wird sich Kindler als Oppositioneller sechs Monate lang mit dem neuen Etat beschäftigt haben. Zum Beispiel mit dem EP 05, in dem steht, wofür Bundesaußenminister Guido Westerwelle nächstes Jahr Geld ausgeben darf. Der 40seitige Plan ist aufgeschlüsselt in über hundert Einzelposten wie »F 711 01-165«, »Kleine Neu-, Um- und Erweiterungsbauten«, im Kapitel »Sächliche Verwaltungsausgaben« des Deutschen Archäologischen Instituts: 360 000 Euro, 68 000 weniger als in diesem Jahr, sind dort vorgesehen.
Kindler, der in seinem Lebenslauf angibt, Atommülltransporte und den G8-Gipfel in Heiligendamm blockiert zu haben, hat ein duales BWL-Studium an einer Universität und beim Autozulieferer Bosch absolviert. Danach war er dort zwei Jahre Controller. »Das ist hilfreich, weil ich mich in den letzten Jahren schon mit der Aufstellung von Wirtschaftsplänen beschäftigt habe«, sagt er. Aber in den Bundeshaushalt könne man sich »auch einfach so reinarbeiten, zum Beispiel, wenn man vorher vor Ort in einer Kommune Haushaltspolitik gemacht hat.«
Gleich nachdem er den Plan in die Hände bekommen hat, hat Kindler Pressemitteilungen geschrieben. »Die große Linie, die hat man sofort gesehen, bevor man das im Detail durchgehen konnte.« In seinen Mitteilungen stand, dass die Regierung »Haushaltskonsolidierung auf dem Rücken der Ärmsten der Armen der Welt« betreibe, weil sie »massiv« bei den Mitteln für humanitäre Hilfe und Krisenprävention gestrichen habe. »Als Oppositionspolitiker muss man skandalisieren«, sagt er. »Schließlich macht die Regierung auch ihre Pressearbeit.«

Die Regierung ist dabei stets im Vorteil, denn es sind ihre Zahlen. Kindler muss sich alle Informationen, die über die nackten Zahlen hinausgehen, mühsam beschaffen. »Haushaltsberichterstattergespräche« sind ein Weg dazu. »Da trifft sich ein Abgeordneter von jeder Fraktion mit dem Minister und etwa 40 seiner Beamten.« Man geht den Plan durch, die Abgeordneten fragen, der Minister antwortet. Meistens jedenfalls, es sei denn, er hat keine Zeit, wie Westerwelle beim letzten Mal. Drei, vier Stunden sitzt man zusammen, und manchmal kommt etwas Brauchbares heraus, sagt Kindler. Beim letzten Mal zum Beispiel verplapperte sich Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Sie sprach von ihren Plänen, die vorsehen, dass Initiativen gegen Rechtsextremismus, die Geld von der Bundesregierung haben wollen, sich künftig einer Überprüfung durch den Verfassungsschutz unterziehen sollten. »Das ist eine extreme Vorverurteilung«, fand Kindler. »Der Verfassungsschutz hat ja bekanntlich ein sehr eigenes Verständnis davon, wie man die Verfassung schützt.« Kindler teilte Journalisten mit, dass Schröder »Intiativen, die wertvolle antifaschistische Arbeit leisten, diskreditieren will«. Zeitungen griffen die Information auf, das Ministerium gab klein bei, ein Sprecher bestritt, dass die Überprüfung durch den Verfassungsschutz überhaupt je geplant war.

»Ob das ein Erfolg von uns war, kann ich letztlich nicht einschätzen«, sagt Kindler. Haushaltspolitik in der Opposition drehe sich meist darum, »etwas zu verhindern«. Das Thema sei jedenfalls weiter aktuell. Ihn stört, dass Schröder und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) einen gemeinsamen Etat zur »Bekämpfung von Rechts- und Linksextremismus« sowie des Islamismus einrichten wollen. Kindler, der mit seinen Abgeordnetenmitteln Busse zur Antifa-Demonstration am 13. Februar in Dresden gesponsert hat, hält dies für eine »gefährliche pseudowissenschaftliche Verwirrung auf der Basis der Extremismustheorie«. Schröder setze Links- mit Rechtsextremismus gleich und »verharmlost so die Umtriebe von Neonazis sowie Rassismus und Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft«. Kindler forderte vom Familienministerium Berichte an, das zweite Instrument, das den oppositionellen Haushaltsexperten zur Verfügung steht. Geht das auf Kosten der Mittel gegen rechts? Welche Wissenschaftler sind an diesem Programm beteiligt? Solche Dinge wollte er wissen, zwei Wochen hatte das Ministerium Zeit, um zu antworten.
»Normalerweise sind die Antworten aus den Ministerien okay«, sagt Kindler. Nur beim Hause Schröders gebe es »öfter mal Ärger«, auch wenn die SPD oder die Linkspartei Anfragen stelle. Kürzlich gab es deswegen gar ein »Krisengespräch« mit Schröders Staatssekretär, trotzdem »läuft es immer noch nicht wirklich besser«. So musste Kindler auf seinen Bericht zum »Programm für demokratische Teilhabe und gegen Extremismus in den neuen Bundesländern« warten, bis Innenminister de Maizière vorige Woche dazu eine Pressekonferenz hielt. Erst dann kamen die Informationen. Immerhin, so stellte sich heraus, haben Schröder und de Maizière derzeit offenbar nicht vor, die Mittel für den Kampf gegen den Rechtsextremismus zu kürzen, um verstärkt gegen Autonome vorzugehen.

»Zehn, zwölf Berichte«, so schätzt Kindler, hat er für die laufenden Haushaltsberatungen schon angefordert, viele würden noch hinzukommen. Von Mittwoch bis Freitag ist Fraktionsklausur in Mainz, dazu hat er ein »Positionspapier« geschrieben, außerdem einen neunseitigen »Grünen Sanierungsplan«. Der ist für die Öffentlichkeit gedacht, und in ihm steht, wie Kindler sich eine soziale und ökologische Haushaltspolitik vorstellt. Am kommenden Mittwoch beginnt die erste Lesung im Bundestag, mindestens vier Reden wird Kindler im Laufe der Haushaltsverhandlungen halten, zu jedem Einzelplan eine. Dann stehen die »Haushaltsberichterstattergespräche« mit den Ministern Westerwelle, Röttgen, Rösler und Schröder an. »Das ist eine spannende Zeit, da gibt es nochmal Veränderungen«, sagt Kindler. Am Ende der Verhandlungen steht die »Bereinigungssitzung« im Haushaltsausschuss. Da kommen alle Minister zusammen, es geht nochmal um alles. Beim letzten Mal saßen die 41 Abgeordneten bis 3.30 Uhr in der Nacht mit dem Kabinett zusammen. Danach seien die Beratungen de facto gelaufen, auch wenn bei der letzten Bundestagsdebatte Ende November theoretisch noch Anträge gestellt werden können.
Seine Vorgängerin, die Grüne Anna Lührmann, zog 2002 mit 18 Jahren als jüngste Abgeordnete in den Bundestag ein. Nachdem sie gegenüber einer Journalistin von den »spannenden Gesprächen auf parlamentarischen Abenden« geschwärmt hatte, riet ihr diese am Ende eines Porträts: »Lauf weg aus der Politik, lauf um dein Leben, Anna.« Und Kindler? »Die Arbeit ist spannend«, sagt er, das Wort benutzt er häufig. Dass er gegenüber der Regierung auf verlorenem Posten steht, glaubt er nicht. »Immerhin konnte die FDP ihr einziges Wahlversprechen nicht durchsetzen: Massive Steuersenkungen für Reiche konnten sie nicht beschließen.« Dass er sich mit einem der größten Kürzungsprogramme der Geschichte der Bundesrepublik herumschlägt, während die sozialen Bewegungen in Apathie erstarren, entmutige ihn nicht. »Es ist eben leider nicht einfach, die Leute auf die Straße zu kriegen.«