Das deutsche »Wirtschaftswunder« und die Debatte um den Fachkräftemangel

Kein Land für Spezialisten

Die Wirtschaft boomt und die Industrie klagt über fehlende Fachkräfte. Das Problem dürfte angesichts der Kostensenkungslogik, die den globalisierten Kapitalismus bestimmt, eher größer werden.

Geht es um die Erholung von der Wirtschaftskrise, gilt Deutschland als erfolgreich. Allerdings ist für diese Erholung nahezu ausschließlich der Export verantwortlich. Um die Binnenwirtschaft ist es dagegen weiterhin schlecht bestellt. Daran ändert sich auch nichts, wenn jede geringfügige Steigerung der Inlandsnachfrage von übertriebenen Jubelmeldungen begleitet wird. Nun ist Warenexport immer auch ein Export von Arbeitslosigkeit, denn hierzulande werden Leute zur Erzeugung von Waren beschäftigt, die in Griechenland, Spanien, den USA und anderswo konsumiert werden. Dementsprechend sind dann dort Menschen ohne Arbeit. Das hiesige Wachstum findet also auf Kosten anderer Länder statt.
Nun soll angesichts eines drohenden Fachkräftemangels schon wieder das Ausland für die Lösung eigener Probleme herhalten. Einem Bericht des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) zufolge haben 70 Prozent aller deutschen Unternehmen Probleme, offene Stellen mit passendem Personal zu besetzen. Bei der fieberhaften Suche nach qualifizierten Mitarbeitern wird zunehmend die Anwerbung von Fachpersonal aus anderen Ländern ins Auge gefasst. Die Idee ist keineswegs neu. Bereits im Jahr 2007, gegen Ende jenes famosen »Aufschwungs«, der niemals so recht bei den Arbeitnehmern ankommen sollte, wurde der Fachkräftemangel beklagt.
Seinerzeit forderte unter anderem Annette Schavan (CDU), schon damals Bildungsministerin, qualifizierten ausländischen Arbeitskräften den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Auch in der derzeitigen Debatte um den Fachkräftemangel finden sich etliche Politiker, die diese Idee für gut halten. Allerdings hat Deutschland im globalen Wettbewerb um internationale Fachkräfte eine miserable Ausgangsposition. Und es wird wenig getan, um daran etwas zu ändern. Derzeit planen lediglich zwölf Prozent der Unternehmen, verstärkt ausländische Fachkräfte anzuwerben. Darüber hinaus ist unter der schwarz-gelben Bundesregierung kaum mit einer angemessenen Reform des Einwanderungsrechts zu rechnen. Gerade in der Union und ihrer Klientel sitzen die Vorbehalte gegen Migranten ausgesprochen tief. Die Tendenz, die Zuwanderung mit bürokratischen Maßnahmen zu beschränken, ist hier ungebrochen. Offener gibt man sich da schon in der FDP. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) spricht sich etwa für eine Senkung der Einkommensgrenze aus, um die legale Einwanderung von Arbeitnehmern zu ermöglichen. Es ist allerdings fraglich, ob diese winzige bürokratische Änderung viel bewirken wird.
Generell ist es eine hierzulande gern gehegte Illusion, dass Deutschland bei einer entsprechenden Öffnung von zuwandernden Arbeitnehmern überschwemmt würde. Doch für gut ausgebildete Fachkräfte ist Deutschland völlig uninteressant. Angemessen sind hier allenfalls die Gehälter. Dagegen steht eine komplizierte Bürokratie, eine schwierige Sprache und vor allem ein abweisendes soziales Klima. Nicht zuletzt spielen eigene Landsleute beim Neubeginn in der Fremde eine wichtige Rolle. Die befinden sich jedoch bereits in anglophonen oder skandinavischen Ländern.

Andere hegen die Hoffnung, dass künftig mehr Senioren, Frauen mit Kindern oder junge Menschen ohne Berufserfahrung bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben könnten. Personalchefs sollten endlich davon abrücken, sich nur auf junge, gesunde und gut ausgebildete Fachkräfte mit Berufserfahrung und ohne störenden Fami­lienhintergrund zu kaprizieren.
Eine solche Veränderung der Personalpolitik würde allerdings Zusatzkosten verursachen, etwa für schonendere Arbeitsbedingungen, familienfreundliche Arbeitszeiten oder für die Weiterbildung weniger qualifizierter Mitarbeiter. Kosten, die sich letztlich in den Produktpreisen niederschlagen, die Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten verringern und damit gerade jenen Exporterfolg gefährden, der dem ökonomischen Erfolg deutscher Unternehmen zugrunde liegt. Auch hier dürften also die Hoffnungen trügen. Es ist außerdem absehbar, dass die Warnungen vor einem drohenden Fachkräftemangel bald schon wieder ein Ende haben werden. Denn Importländer wie etwa Griechenland, Großbritannien oder die USA werden wohl bald wieder tiefer in die Krise rutschen und damit der deutschen Außenwirtschaft Schwierigkeiten bereiten. Dann dürfte sich die gegenwärtige Diskussion über den Fachkräftemangel so rasch erledigt haben wie einst im Jahr 2007.
Die Debatte um den Fachkräftemangel erscheint reichlich bizarr, wenn man bedenkt, dass seit etlichen Jahren weniger als die Hälfte aller Schulabgänger einen Ausbildungsplatz bekommt, der zu einem anerkannten Abschluss führt. Zwar sinkt demographiebedingt die Zahl der Anwärter, aber die Zahl der Lehrstellen sinkt noch schneller. Jahr für Jahr werden mehrere zehntausend Schulabgänger in Ausbildungsmaßnahmen untergebracht, die sich als reine Warteschleifen erweisen, weil sie zu keiner anerkannten Qualifikation führen. Andere jobben oder gehen ersatzweise auf weiterführende Schulen, bis sie vielleicht eine Lehrstelle finden. Die Statistik der Arbeitsagenturen zählt all diese Jugendlichen als vermittelt, weswegen sie auch weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden.
Traditionell fällt es in die Zuständigkeit der Unternehmen und bestimmter staatlicher Stellen, wie beispielsweise Stadtwerke oder Behörden, die berufliche Qualifizierung zu gewährleisten und den Großteil der Kosten dafür zu tragen. Aber nur ein knappes Viertel aller deutschen Firmen bildet heute noch aus. Und auch staatliche Stellen halten sich bei ihrem Ausbildungsangebot immer stärker zurück. Die Unternehmen bauen lieber Lehrstellen ab und kaufen sich ihre Fachkräfte fertig auf dem Markt, sofern sie dort noch welche vorfinden. Aber selbst ein leergefegter Arbeitsmarkt bietet kaum noch Anlass zu vermehrten Ausbildungsanstrengungen.

Die Unternehmen stehen unter enormem Kostensenkungsdruck. Permanent müssen sie ihre Leistungskraft steigern, um sowohl in der nationalen wie auch in der internationalen Konkurrenz bestehen zu können. Durch die Wirtschaftskrise wurde diese Tendenz noch einmal verschärft. Denn wie in jeder großen Krise sehen sich die Unternehmen auch dieses Mal dazu gezwungen, auf breiter Front ihre eigene Wettbewerbsposition zu verbessern.
Auch die deutsche Weltmarktstellung beruht in erster Linie auf rigiden Einsparungen. Nach dieser Logik nimmt die Ausbildung zu viel Zeit und Geld in Anspruch, jedenfalls deutlich mehr als andere Fertigungsschritte. Überdies drohen die Qualifikationen der Ausgebildeten rasch zu veralten. Eine neue Technologie kann etliche Fertigkeiten binnen kürzester Zeit wertlos machen. Außerdem ist niemals sicher, ob Menschen nicht den Betrieb verlassen, bevor sich ihre Ausbildung rentiert hat. So wenig zu qualifizieren wie möglich, ist daher schlicht ein Gebot der betriebswirtschaftlichen Vernunft. Weil weniger in die Ausbildung investiert wird, herrscht ein langsam, aber stetig wachsender Mangel an Fachkräften, während gleichzeitig viele Millionen Menschen keine Arbeit finden.