Das deutsche Sparprogramm

Mangel im Überfluss

Ohne großes Aufsehen hat die Bundes­regierung ein »Sparpaket« beschlossen, das die Ressentiments gegen die prekäre Unterschicht in Form von Gesetzen festschreibt.

Es ist mal wieder Zeit für die starken Männer – auch wenn diese, dem Zeitgeist gemäß, keine Krieger sind, sondern biedere Beamte, Berater und Amtsleiter. Eine von Bild am Sonntag in Auftrag gegebene Emnid-Umfrage hat in der vergangenen Woche ausgelotet, wer das Potential hätte, als Kandidat einer neuen »bürgerlichen Protestpartei« das Bedürfnis nach dem starken Mann zu stillen. Friedrich Merz, der von Angela Merkel zu Fall gebrachte, neoliberale CDU-Intellektuelle, könnte bei der nächsten Bundestagswahl 20 Prozent erringen, führte er eine solche Partei an. Joachim Gauck könnte als Parteivorsitzender auf 25 Prozent hoffen. Setzte sich Thilo Sarrazin an die Spitze einer solchen Partei, könnte er immerhin mit 18 Prozent rechnen. Bezeichnenderweise kämen der Umfrage zufolge die meisten Sarrazin-Wähler, nämlich 29 Prozent, aus den Reihen der Anhängerschaft der Linkspartei.
Die Sehnsucht nach dem führungsstarken Mann äußerten die Bürger just in der Woche, in der das Bundeskabinett das »Sparpaket« beschloss, das bis 2014 rund 80 Milliarden Euro Staatsgelder einsparen soll. Statt des Protests ­gegen jene Sparmaßnahmen, die vor allem Sozialleistungen betreffen und die Folgen der Finanzkrise auf die Lohnabhängigen abwälzen, regt sich bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung der Hass auf die Unterschicht, auf die »Integrationsverweigerer« und »Faulenzer«. Würde noch härter durchgegriffen, so offenbar die Hoffnung, träfe die Krise nicht mehr die sich vom Abstieg bedroht fühlende Mittelschicht, sondern nur die noch weiter unten Stehenden, die Unnützen. In den Tagen, in denen Sarrazin dank seiner kruden Thesen mehr und mehr zum Volkshelden wird, der endlich sagt, was alle denken, und die Regierung mit großer Geste verspricht, die Diskussion zu versach­lichen und endlich »ohne Tabus« über »Integration« zu sprechen – als hätte es die quälenden Debatten der letzten zehn Jahre nicht gegeben – wird nahezu unkommentiert das »Sparpaket« auf den Weg gebracht, vor dem die Opposition seit der letzten Bundestagswahl unablässig warnt.
In den Medien wird jedoch nur über die Maßnahmen diskutiert, durch die sich die Regierung Mehreinnahmen erhofft: die Flugverkehrsabgabe und die Pläne, die Atomindustrie etwa durch eine Brennelementesteuer zu belasten. Denn hier regt sich der Protest der Lobbyisten – ganz im Gegensatz zu den Einsparungen durch die »Neujustierung von Sozialgesetzen«. Selbstverständlich – die Gewerkschaften und die drei Oppositionsparteien im Bundestag kritisieren die Spar- und Steuerbeschlüsse der Regierung als »sozial unausgewogen« und »unrealistisch«. Doch die Töne bleiben verhalten. Tatsächlich spekulieren SPD und Grüne auf ein vorzeitiges Ende der zerstrittenen Regierungskoalition, in deren Reihen Guido Westerwelle und Horst Seehofer munter Amok laufen. Oder sie rechnen mit der Abwahl Angela Merkels spätestens bei der nächsten Bundestagswahl in drei Jahren. So oder so: Eine Linkskoalition sähe sich mit denselben Problemen wie die amtierende Bundesregierung konfrontiert und würde kaum anders handeln. Kein Wunder, dass man in diesen angespannten Zeiten den Mund nicht so voll nimmt.

Mit dem Beschluss der Haushaltssanierung wird es also ernst: Deutschland wählt den gleichen Weg, den zuvor die Krisenländer Griechenland, Spanien, Portugal, Irland, Rumänien und Großbritannien eingeschlagen haben. »Jahrzehnte des Leidens« haben Politiker dieser Länder angekündigt und sind für diesen Heroismus von der deutschen Regierung gelobt worden. Jetzt steht das Leid hierzulande vor der Tür. Schon im nächsten Jahr sollen 13 Milliarden Euro eingespart werden, ein Drittel der Summe wird durch Kürzungen der Sozialleistungen erzielt. So wird Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld komplett gestrichen, sofern sie nicht zu den »Aufstockern« gehören, die ihren Niedriglohn mit Sozialleistungen aufbessern müssen. 50 000 Alleinerziehende und 85 000 Paarhaushalte sind von der Streichung des Elterngelds betroffen, wie das Familienministerium mitteilte. Der Zwang, Arbeit anzunehmen, soll weiter erhöht werden, schließlich sollen Transferleistungen nicht zur Vergrößerung der Unterschicht beitragen. So werden die bevölkerungspolitischen Ideale Sarrazins vom schwarz-gelben Kabinett längst verwirklicht. Überhaupt stehen Menschen ohne Erwerbstätigkeit im Fokus der Kürzungen: Die Rentenversicherung für Hartz-IV-Empfänger fällt weg, ebenso werden die Zuschläge gestrichen, die Erwerbslose bisher beim Übergang vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II erhielten. Wer Wohngeld bezieht, muss demnächst auf den Heizkostenzuschuss verzichten. Nach Sarrazin sind 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur bekanntlich ohnehin genug, soll sich die Unterschicht doch dicke Pullover stricken.

Auch wer noch Arbeit hat, muss für das »Sparpaket« aufkommen: Der Arbeitslosenversicherung werden Zuschüsse und Darlehen gekürzt, was eine Erhöhung der Beitragssätze unumgänglich macht. Das entspricht einer indirekten Lohnkürzung. Auch die Steuererhöhungen wie etwa die Luftverkehrssteuer werden von den Firmen an die Konsumenten weitergegeben. Strom- und Energiesteuern sollen ebenfalls erhöht werden. Das soll dem Staat in zwei Jahren 800 Millionen Euro einbringen – also nur ein Prozent der Gesamtsumme. Das hat die Industriebranchen jedoch nicht davon abgehalten, unmittelbar nach Beschluss der Sanierungsmaßnahmen großen Druck auf die Regierung auszuüben – die Wettbewerbsfähigkeit dürfe nicht mit einer zusätzlichen Steuer belastet werden, Arbeitsplätze seien in Gefahr. Man kann sich darauf verlassen, dass die Industrieverbände die Steuererhöhungen in den nächsten Tarifrunden als Argument gegen Lohnerhöhungen anführen werden. Zudem werden dem großen Sparbeschluss des Bundes noch viele kleine folgen, auch Länder und Kommunen stehen vor drastischen Sparmaßnahmen. Straßenbahn- und Nahverkehrstickets, Zoo- und Theaterbesuche, öffentlich geförderte Kita-Plätze, die Mieten städtischer Wohnungsbaugesellschaften: Alles wird teurer. Auch Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst dürften gestrichen werden, denn hier liegt das wirklich große Sparpotential von Ländern und Kommunen.

Im Mittelpunkt der Sparmaßnahmen stehen demnach zwei Bevölkerungsgruppen: Zum einen das Prekariat. Hat man von diesen Leuten in den letzten Jahren etwas mitbekommen? Gab es politischen Druck von unten? Wenig. Also setzt man sie weiter von oben unter Druck. Gleichzeitig sollen die Erwerbslosen und Aufstocker weiter »aktiviert« werden. Durch die Kürzung von Leistungen erhoffen sich Staat und Wirtschaft mehr Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt um die immer weniger werdenden Jobs: Der Druck auf die Hartz-IV-Empfänger überträgt sich rasch auf die noch erwerbstätige Bevölkerung.
Auch die Beamten und öffentlichen Angestellten stehen unter Druck. Stellen, die frei werden, werden nicht neu besetzt, befristete Arbeitsverträge nicht verlängert. Denn auch im Konflikt mit den eigenen Angestellten riskiert der Staat nicht viel: Nicht nur weil deutsche Beamte und Angestellte in öffentlichen Betrieben als nicht besonders streikfreudig gelten und sich bislang loyal zeigen, auch weil sich deren Wut ohnehin auf die Bitt- und Antragssteller richtet, auf faule Schüler und pöbelnde Fahrgäste. Nicht zuletzt Angestellte und Beamte dürften sich von biederen Bürokraten wie Merz oder Sarrazin verstanden und vertreten fühlen. Das politische Kalkül des Staats liegt auf der Hand: Die Einsparungen werden denjenigen zugemutet, von denen keine Proteste zu erwarten sind. Indirekt betreffen die Sparmaßnahmen zwar den größten Teil der Lohnabhängigen, aber weil die zugleich den Druck der Arbeitsplatzkonkurrenz verstärkt zu spüren bekommen werden, werden sie noch erpressbarer. Das animiert nicht gerade zu Protesten oder gar zu Streiks, ganz davon abgesehen, dass politische Streiks in Deutschland verboten sind.
Selbstverständlich sind die Einsparungen so bemessen, dass Besserverdienende nicht betroffen sind, und damit auch nicht jene, die die Medienöffentlichkeit beherrschen. Wer die Sparmaßnahmen allzu vehement kritisiert, hat zu befürchten, dass sich die Medien gegen ihn stellen. Die Kritiker des »Sparpakets« üben sich daher vorsorglich in ganz besonders konstruktiver Kritik. Es schade der Konjunktur, es würde bei den falschen Leuten gespart, man müsse das Geld doch den Verursachern der Krise, den Banken, Hedge Fonds und anderen Spekulanten wegnehmen, so kritisiert die Linkspartei. Das »Sparpaket« ist tatsächlich ungerecht, es lädt zu jener Art der Kritik regelrecht ein: Ja, man könnte anders sparen. Die eigentliche Frage, die auch die Partei »Die Linke« nicht stellt, ist aber: Wozu muss man überhaupt sparen? Jahr für Jahr – völlig unbeeindruckt von irgendwelchen Konjunkturen – steigt die Arbeitsproduktivität und damit das Potenzial, immer größeren materiellen Reichtum mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft herzustellen. Eine vernünftige, kollektiv geregelte Produktion würde immer mehr Menschen immer mehr freie Zeit garantieren – das Gegenteil von Druck, Konkurrenz, Lohnverzicht und freiwilligen Überstunden. An diesem Widerspruch müsste die Argumentation von links ansetzen. Denn auch ein angeblich »gerechtes Sparpaket« könnte am Paradox einer Überflussgesellschaft, in der für immer mehr Menschen Mangel herrscht, nichts ändern.