Der Kongress der Fat-Rights-Bewegung in San Francisco

Reclaiming the F-Word

Die USA sind nicht nur das Land von Fast Food und Supersize-Portionen. Die aggressive Diätindustrie verdient dort mit der Angst vor Körperfett viel Geld. Dicksein gilt als unästhetisch und als Zeichen des Scheiterns. Dicke werden im Alltag und vor dem Gesetz diskriminiert. Doch es regt sich Widerstand. Die Fat-Rights-Bewegung gewinnt an Bedeutung, und auch in der Subkultur geht es fett zur Sache. Eine Reportage vom Kongress der National As­sociation for the Advancement of Fat Acceptance in San Francisco.

»Am 26. Oktober 1993 hatte ich einen wirklich schlechten Tag. Erst hat mir mein damaliger Freund gestanden, dass er sich mit mir vor seinen Freunden geniere, weil ich zu fett sei. Anschließend bekam ich auch noch einen Brief von meiner Krankenversicherung, die mir mitteilte, dass sie mich nicht versichern wolle, weil ich zu viel wiege. Spätestens da wurde mir klar: Weiter den Mund zu halten, bedeutet, dass ich mich damit einverstanden erkläre, schlecht behandelt zu werden, ausgeschlossen zu werden vom Leben und der Liebe.«
Die Szene, die Marilyn Wann, Herausgeberin des Magazins Fat! So? und eine der bekanntesten Fat-Rights-Aktivistinnen in den USA, hier beschreibt, ist kein Einzelfall. Dicke verdienen weniger, haben bei Vorstellungsgesprächen und Be­förderungen schlechtere Chancen, heiraten seltener, leiden unter einem eingeschränkten Zugang zum privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystem, vor allem aber haben sie unter einer Alltagskultur zu leiden, in der Fett als Zeichen einer schwachen Persönlichkeit gesehen wird.
Nichts scheint in die amerikanische Psyche stärker eingeschrieben zu sein als die Furcht, ein paar Kilo mehr zu wiegen als Super Models und Hollywood-Schauspielerinnen. Der prozentuale Anteil der US-Amerikaner, die regelmäßig Diät halten, ist seit den achtziger Jahren von 30 Prozent auf 40 Prozent gestiegen. Der durchschnitt­liche US-Amerikaner schränkt die Nahrungsaufnahme in seinem Leben mindestens sieben Mal künstlich ein. Insgesamt kamen so in den vergangenen 30 Jahren geschätzte zwei Milliarden ­Diätversuche zusammen. Eine 50-Milliarden-Dollar-Industrie profitiert von dieser Diät-Epidemie, die mittlerweile selbst Kinder und Haustiere erfasst hat. Im Internet können Fitness-Trainer künstliches Fettgewebe bestellen. Das soll ihren Kunden vorführen, was sie verlieren können, wenn sie sich nur richtig anstrengen: einen unnützen, ja geradezu gefährlichen Teil ihres Körpers.
Korpulente Menschen als fat zu bezeichnen, gilt dagegen als große Beleidigung im Land der Political Correctness. Doch warum eigentlich die ganze Aufregung um das F-Wort, fragt sich Marilyn Wann. Die Fettzelle habe doch eine harmo­nische Struktur, sei hübsch anzusehen. Außerdem sei Fett ein wichtiger Energiespeicher, der den Körper schütze. Fett ist für Wann keine Beleidigung. Viel schlimmer findet sie die bemühten Umschreibungen wie people of size, big oder large (groß), hefty (kräftig), heavy (schwer) und natürlich die medizinischen Fachausdrücke wie overweight (übergewichtig) und obese (adipös), die eine krankhafte Abweichung von einer vermeintlichen Norm zum Ausdruck bringen sollen. Die Fat-Rights-Aktivisten nehmen sich die Homosexuellen-Bewegung zum Vorbild: Gays und Dykes, das waren mal Schimpfwörter, heute bezeichnen sich Schwule und Lesben selbst so, und niemand findet etwas daran.

1967 fand im New Yorker Central Park ein »Fat In« statt. 500 Menschen trafen sich zu einem öffentlichen Picknick. Sie trugen Fotografien der kurvigen Schauspielerin Sophia Loren und verbrannten Diätbücher. Zwei Jahre später gründete William Fabrey, ein zierlicher schlanker Mann, der sich über die Diskriminierung seiner dicken Freundin geärgert hatte, eine Organisation, die endlich Schluss machen sollte mit der Intoleranz gegenüber Dicken. Er nannte sie National Asso­ciation to Aid Fat Americans, kurz NAAFA. Fabreys Ideen waren stark von der aufkommenden Bürgerrechtsbewegung inspiriert. So wie es Schwarze, Schwule und Lesben erfolgreich vorgemacht hatten, sollte die NAAFA endlich auch der Unterdrückung der Dicken durch den intoleranten Mainstream ein Ende bereiten.
»Die NAAFA war vor allem ein sozialer Ort«, er­innert sich die Soziologin Marcia Millman an die frühen Jahre der Organisation. Millman hat vor mehr als 30 Jahren intensive Feldforschung über das Leben und die Nöte dicker Frauen in den USA betrieben. »Als ich Ende der siebziger Jahre meine ersten NAAFA-Treffen besucht habe, da waren die Bälle das Wichtigste. Die Leute kamen, um Freunde kennen zu lernen, Partner für eine Nacht oder fürs Leben zu finden, und natürlich um Klamotten zu kaufen. Die gab es ja damals sonst nirgendwo.«
Rund 30 Jahre später in einem unscheinbaren Hotel am Flughafen von San Francisco: Auf der 41. Jahresversammlung der NAAFA verlieren sich zwei Dutzend Mitglieder in einem fensterlosen Saal. Die meisten von ihnen sind weit über vierzig. Die Organisation, deren Akronym mittlerweile für National Association to Advance Fat Acceptance steht, hat ein Nachwuchsproblem. Und doch gibt es sie immer noch: die Gala-Dinner und auch die große NAAFA Fashion Show. Selbst den Nachwuchspreis für Designmode für Dicke, den NAAFA Fashion Award, lobt die Organisation bis heute aus. Und trotzdem wirkt die Veranstaltung im Jahr 2010 ein bisschen wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten.
Das Land hat sich verändert in den vergangenen 30 Jahren. Nicht so sehr, was seine Einstellung gegenüber den Dicken angeht. Die USA sind sicher nicht fettfreundlicher geworden, eher im Gegenteil. Was sich aber verbessert hat, ist die Infrastruktur für Dicke. Heute gibt es ganze Kaufhausketten, die sich auf Übergrößen spezialisiert haben, sowie diverse Versandhäuser, die Mode für Dicke bereithalten. Auf der diesjährigen New York Fashion Week wurde den Übergrößen erstmals ein eigener Laufsteg reserviert. Bälle für Dicke und Menschen, die dicke Partner suchen, sind ein landesweites Phänomen geworden. In der Schwulenszene organisieren die bears – das sind dicke, behaarte Männer – für sich und ihre Verehrer Partys. Fette Lesben und Queers haben längst ihre eigenen Magazine, Blogs und Internetcommunities aufgebaut. Wer sich heute in den USA als Dicker outen, hübsche Klamotten kaufen, Gleich­gesinnte kennen lernen, dicke Körper und dicke Erotik zelebrieren möchte, der braucht die NAAFA nicht mehr.

Und trotzdem ist die NAAFA nicht überflüssig geworden. Die National Association to Advance Fat Acceptance ist heutzutage eine professionelle Menschenrechtsgruppe. Obwohl sie kein zentrales Büro, keine bezahlten Mitarbeiter und gerade mal 600 Mitglieder hat, verfügt sie über eine beeindruckende Präsenz in den Medien. Wenn dort die Bandbreite an Themen verhandelt wird, mit denen Dicke im Alltag zu kämpfen haben, ist es fast immer die NAAFA, die deren Position vertritt. Und Probleme gibt es mehr als genug: Fluglinien, die sich weigern, dicke Passagiere zu transportieren, Arbeitgeber, die Dicke unter Vorwänden entlassen, schlechter bezahlen als ihre Kollegen oder gar nicht erst einstellen. Dicke, denen Adoptionen und künstliche Befruchtungen verwehrt werden. Eltern dicker Kinder, denen das Sorgerecht entzogen werden soll, oder regierungsoffizielle Public-Health-Kampagnen, die dicke Kinder stigmatisieren.
Das drängendste Problem für dicke US-Amerikaner aber sind die hohen Krankenkassenbeiträge und die schlechten Beschäftigungschancen. Warum beides zusammenhängt, erklärt ein Blick auf die Besonderheiten des US-amerikanischen Gesundheitssystems. Die meisten US-Amerikaner sind über ihre Arbeitgeber versichert. Die kaufen die entsprechenden Policen auf dem freien Markt, und dort gilt das Risikoprinzip. Erbkranke haben deshalb häufig Probleme, überhaupt eine Versicherung zu finden, die im Ernstfall zahlt. Und auch Dicke müssen für ihre Krankenversicherung wesentlich tiefer in die Tasche greifen als Dünne. Deshalb sind dicke Arbeitnehmer für die Unternehmer deutlich teurer als dünne. Doch trotz dieser Probleme möchte man sich bei der NAAFA nicht auf die Forderung nach einem universalen, allen frei zugänglichen Gesundheitssystem festlegen. Der kleinste gemeinsame Nenner lautet: keine Diskriminierung.
Ein Pfeil auf einer Powerpointpräsentation trifft den amerikanischen Kongress. »That’s where you wanna go!« Der Mann, der das sagt, ist ein sportlich-adretter Enddreißiger. Brendon Mascata, selbst HIV-positiv, hat sich zunächst für die recht­liche und finanzielle Unterstützung von Aidskranken eingesetzt. Später hat er eine NGO für die Rechte von Flugpassagieren gegründet und darüber dann Kontakt zur NAAFA gefunden. Mascata ist Lobbyexperte. Er berät die NAAFA bei ihrem großen Ziel: einem föderalen Anti-Diskriminierungsgesetz, das Gewichtsdiskriminierung ausdrücklich einschließt.
Dann erklärt Mascata den knapp zwei Dutzend Teilnehmern das kleine Einmaleins des Lobbyismus. Den Kongressabgeordneten schnappt man sich am besten kurz vor der Wahl. Geldgeschenke erhalten die politische Freundschaft. Wer kein Geld hat, kann seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen, wenn im Wahlkampf Plastikschilder in die Vorgärten gerammt, Aufkleber an Stoßstangen geklebt und potentielle Wähler am Telefon belästigt werden wollen. Ob mit Hilfe von Geld oder Arbeitskraft, entscheidend ist es, in den inneren Zirkel der politischen Freunde zu gelangen. Doch welcher Kongressabgeordnete ist der richtige? »Wenn es um eure Anliegen geht, solltet ihr euch an die Kongressabgeordneten, die sich auf die Ressorts Gesundheit und Behinderung spezialisiert haben, wenden«, empfiehlt Mascata. Allein die Erwähnung des Wortes »Behinderung« löst Protest aus. »Fett ist keine Krankheit und keine Behinderung«, beschwert sich eine Teilnehmerin des Workshops. »Behinderte Menschen wollen auch nicht als schlechtere Menschen angesehen werden. Ich habe kein Problem damit, wenn mich jemand als behindert bezeichnet«, wird ihr entgegnet.
Und dann nimmt die Diskussion eine unerwartete Wendung. Einige der älteren NAAFA-Mitglieder können sich nur mit kleinen elektrobetriebenen Einsitzern fortbewegen. Die müssen in Taxis untergebracht werden. Doch die Washingtoner Taxiflotte hält keine entsprechenden Fahrzeuge zur Verfügung. »Ich kenne das Problem schon«, sagt Mascata, »da werden wir wohl einen Limousinenservice bestellen müssen, wenn wir nächstes Jahr den Kapitolshügel stürmen wollen.«

Über mehr Fett-Akzeptanz wird nicht allein im amerikanischen Kongress entschieden. Mindestens ebenso wichtig ist, worüber in den Elite-Universitäten, den Fachzeitschriften und auf den großen Medizin-Kongressen diskutiert wird. Und hier ist man mehrheitlich der Ansicht, dass man es in Sachen Übergewicht mit einer Epidemie zu tun habe. Geht es nach den Vorstellungen von Statistikern, werden in 90 Jahren alle US-Amerikaner krankhaft fettleibig sein. Die »Übergewichts-Epidemie« werde dann nicht nur für unerträgliche volkswirtschaftliche Belastungen sorgen, sondern auch erstmalig die seit Jahrhunderten steigende Lebenserwartung verkürzen.
Um der Flut von Alarmmeldungen etwas entgegenzusetzen, hat die NAAFA dieses Jahr den Health at Every Size-Kongress ausgerichtet. Health at Every Size beschreibt einen Ansatz, der die Gleichsetzung von dick und krank ablehnt. Gesund und aktiv zu leben, das geht auch mit Bauch, lautet das Motto der Veranstaltung.
Der Star der Tagung ist ein hagerer älterer Herr in Anzug und Krawatte. »Meine Studenten nennen mich Dr. Doom«, erzählt Glenn Gaesser, Professor für Fitness und Wellness an der Universität von Arizona, »weil ich ihnen schonungslos die Illusion nehme, dass es jeder und jede mit hartem Training zur Traumfigur bringen könne.« Und dann berichtet er, wie Ende der neunziger Jahre die Grenzwerte für Übergewicht und Adipositas auf Druck der Pharmaindustrie gesenkt wurden. Zwei Drittel der US-Amerikaner sind seitdem of­fiziell zu dick. Dass sich die allermeisten von ihnen bester Gesundheit erfreuten, tue da offensichtlich nichts zur Sache. Gaesser präsentiert Statistiken, die zeigen, dass die Zahl der Übergewichtigen seit der Jahrtausendwende nicht weiter ansteigt. Auch die Anzahl der viel zitierten dicken Kinder nehme nicht mehr zu. »Die Epidemie ist zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hat.«
Und dann erklärt er noch, warum Diäten fast immer zum Scheitern verurteilt sind. Wenn dem Körper weniger Energie zugeführt wird, so Gaesser, verbraucht er auch weniger Energie. Dieser verringerte Grundumsatz werde auch dann noch beibehalten, wenn sich die Nahrungsaufnahme wieder normalisiert habe. Deshalb nähmen Menschen zwar kurzfristig ab, nach der Diät aber meist wesentlich schneller wieder zu.
Ja, räumt Gaesser auf Nachfrage ein, fünf Prozent der Bevölkerung brächten die genetischen Voraussetzungen mit, um durch Ernährungsumstellung und Bewegung dauerhaft abzunehmen. Diese fünf Prozent würden dann als Beweis dafür genommen, dass alles nur eine Frage der Willenskraft sei. Und das werde geglaubt, weil es die Leute nun mal glauben wollten und weil sich damit verdammt viel Geld verdienen lasse. Das größte Problem sieht Gaesser mittlerweile nicht mehr in der Medizin. Denn hier realisiere man allmählich, dass Fett kein Killer und Diäten keine Lösung seien. »It’s the culture that’s messed up.«

Esther Rothblum, Professorin für Women’s Studies an der San Diego State University, reagiert amüsiert, wenn man sie auf die Diskussion um die gesundheitlichen Risiken von Übergewicht anspricht. Das erinnere sie an die siebziger Jahre, als sie angefangen habe, Forschung mit Lesben zu betreiben. Damals galt gleichgeschlechtliche Liebe noch als psychische Störung. Erst 1973 wurde Homosexualität von der entsprechenden Liste der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft gestrichen. Im Grunde sei das mit der Diskussion um Gesundheit und Gewicht heute nicht anders. »Dabei wäre es doch großartig, wenn wir wirklich mal über fat als Identität reden könnten, ohne das dauernd mit der Frage: ›gesund oder ungesund?‹ verbinden zu müssen.«
So richtig begeistern mag sich Rothblum deshalb nicht für den Health at Every Size-Ansatz. Sie möchte lieber in die Offensive gehen und Fat Studies an den Universitäten etablieren. So wie ihr das in den siebziger Jahren mit Lesbian Studies schon einmal gelungen ist. Fat Studies sollten sich nach ihrer Vorstellung vorrangig mit der Frage beschäftigen, warum westliche Gesellschaften so fettfeindlich sind und wer davon profitiert.
Als einen ersten Schritt in diese Richtung hat sie zusammen mit ihrer Kollegin Sondra Solovay den Fat-Studies-Reader herausgegeben. Darin sind Beiträge versammelt, die sich dem Thema Fett aus historischer, sozialwissenschaftlicher und subkultureller Perspektive nähern. Der Zusammenhang von Fett und sozialer Deklassierung kommt hier ebenso zur Sprache wie der Kultstatus dicker Hintern in der amerikanischen Popkultur. Im Vorwort heißt es, das Schreiben über fette Körper diene immer auch der Wiederherstellung der Selbstachtung. Zumindest »solange das Regal mit den Diätbüchern länger ist als das mit der Fat-Studies-Literatur«.