Die schwarz-gelbe Gesundheitsreform

Nie wieder zum Chefarzt

Ade, paritätisch finanziertes Gesundheitssystem! Die schwarz-gelbe Regierung hat große gesundheitspolitische Reformpläne.

Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP), von Beruf Arzt, neigt in seinem derzeitigen Amt zu gewagten Diagnosen. Die Gesundheitsreform der schwarz-gelben Regierung – vor allem das geplante »Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung« – werde dafür sorgen, dass das deutsche Gesundheitssystem finanzierbar bleibe, sagt Rösler. Zum Erhalt der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) scheint derzeit eher ein Wunder als eine Reform vonnöten zu sein. Die Kassen erwarten für kommendes Jahr nämlich ein Defizit von 11 Milliarden Euro.
Die Ausgaben für Gesundheit steigen seit Jahren kontinuierlich. Das wird von der Politik zwar wohlfeil bedauert, ist aber das Ergebnis des medizinischen Fortschritts und der demografischen Entwicklung. Zwischen 2008 und 2009 stiegen die Ausgaben der GKV sowohl für Behandlungen im Krankenhaus als auch für ambulante Behandlungen um mehr als sechs Prozent, für Arzneimittel um mehr als fünf, für zahnärztliche Behandlungen um annähernd zwei Prozent. In Geldbeträgen werden die Ausgaben anschaulicher: Sie nahmen um 3,5 Milliarden Euro für ärztliche Honorare, um 3,5 Milliarden Euro für Behandlungen im Krankenhaus und um 1,6 Milliarden Euro für Arzneimittel zu.
Abgesehen von ein paar systemimmanenten Problemen – allen voran die fehlende Preiskontrolle bei der deutschen Pharmaindustrie – handelt es sich bei dem jährlichen Anstieg der Gesundheitskosten um eine mehr oder weniger logische Entwicklung in einer Gesellschaft, in der immer mehr alte Menschen leben und medizinisch immer mehr möglich ist. Da die Einnahmen der GKV an die Lohnentwicklung in Deutschland gekoppelt sind und es um diese bekanntlich nicht so rosig bestellt ist, ergibt sich Jahr für Jahr ein beachtliches Defizit.
Wer so klamm ist, der vergreift sich schon mal an den Versicherten. Die Krankenkassen haben in ihrer Not die Liste zuzahlungsfreier Medikamente zum 1. September heftig zusammengestrichen – um 3 000 Präparate. Somit sind nun von 30 317 registrierten Arzneimitteln nur noch 18 Prozent ohne Zuzahlung zu bekommen. Vor einem Jahr waren es noch etwa 36 Prozent. Die Zuzahlungen fließen vollständig an die Krankenkassen, immerhin zwischen fünf und zehn Euro pro Präparat. Mit dieser Maßnahme, die in der Öffentlichkeit selbstverständlich alles andere als Euphorie auslöst, versuchen die Kassen auch, die Pharmaindustrie dazu zu zwingen, die Preise für die Medikamente zu senken. Aber erst einmal geht diese Taktik, von der sich die Kassen 460 Millionen Euro erhoffen, zu Lasten der Patienten.

Die erhöhten Zuzahlungen sind dabei nur ein Vorgeschmack auf das, was die Versicherten in den nächsten Monaten erwartet, sollten die gesundheitspolitischen Vorschläge der Regierung verwirklicht werden. Ab 2011 steigt ihnen zufolge der Krankenkassenbeitrag von 14,9 auf 15,5 Prozent. Unternehmer und Beschäftigte zahlen diese Anhebung zum letzten Mal gemeinsam. Künftig sollen die Versicherten weitere Erhöhungen allein finanzieren. Damit wird die paritätische Versicherung, die in den vergangenen Jahren ohnehin stetig zum Nachteil der Beschäftigten verändert wurde, vollständig geschliffen.
Die Versicherten dürfen aber noch mehr zahlen. Kommen die Kassen in Zukunft nicht mit ihrem Geld aus, können sie von ihren Kunden einen Zusatzbeitrag einfordern. Dieser ist in diesem Jahr noch auf ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens pro Monat begrenzt. Ab 2011 ist die Erhöhung jedoch unbegrenzt möglich – kleine Kopfpauschale, bald ganz groß. Überschreitet der Zusatzbeitrag zwei Prozent des Einkommens eines Versicherten, soll ein Sozialausgleich gezahlt werden. Dieser Ausgleich sollte zunächst aus Steuern finanziert werden. Da man es den Wohlhabenden aber nicht zumuten möchte, für die gesundheitlichen Probleme der Geringverdiener aufzukommen, muss das Geld von der GKV aufgebracht werden.

Die Krankenkassen selbst sollen auch sparen. Sie dürfen ihre Verwaltungskosten zwei Jahre lang nicht erhöhen. Versicherte sollten sich also nicht wundern, wenn sie demnächst den Song in der Telefonwarteschleife mehr als dreimal anhören müssen oder die Wartezeit für die Beratung vor Ort etwas länger ausfällt.
Das Gesundheitsministerium hat auch für andere Bereiche Pläne: Die Ausgaben der Kliniken sollen künftig nur halb so stark steigen wie die Kasseneinnahmen. Aus den Sachmitteletats der Kliniken ist wegen der jahrelangen spärlichen Investitionen der Bundesländer nichts mehr zu holen. Aller Voraussicht nach werden die Krankenhäuser deshalb Beschäftigte entlassen. Wer braucht schon examiniertes Personal für die Nachtschicht? Die Honorare für Hausärzte – den Berufsstand wollte man gerade noch aufwerten, um auch die Versorgung auf dem flachen Land zu sichern – sollen nun begrenzt, Ärzten insgesamt die Budgets für die ambulante Versorgung gekürzt werden.
Auch der Pharmaindustrie möchte das Ministerium etwas abverlangen. Seit Anfang August müssen Arzneimittelhersteller den Krankenkassen einen Rabatt von 16 Prozent auf Medikamente gewähren. Wer seine Preise senkt, muss weniger Nachlass einräumen. Damit wollte Bundesgesundheitsminister Rösler den Krankenkassen mehr als eine Milliarde Euro zusätzlicher Einnahmen verschaffen.
Die Idee galt als ziemlich schlau, war aber nicht schlau genug. 17 Pharmaunternehmen hoben die Preise für insgesamt 455 Arzneimittel kurz vor Inkrafttreten der neuen Regeln um zehn Prozent an, um sie dann wieder zu senken – Zwangsrabatt gespart, Minister gelinkt. Der Schaden liegt bei gut vier Millionen Euro, musste das Bundesgesundheitsministerium feststellen.
Der Minister drohte daraufhin den Unternehmen, die das Rabattgesetz zu ihrem Vorteil ganz wortgetreu ausgelegt hatten, mit einer Sonderabgabe von 20,5 Prozent. Doch kaum hatte er seine Absichten in der Süddeutschen Zeitung dargelegt, hieß es umgehend aus dem Ministerium, man hoffe, die Unternehmen hielten sich doch noch ordnungsgemäß an die gesetzlichen Vorgaben, und wolle deshalb noch bis Ende des Jahres mit der Erhebung der Sonderabgabe warten. Der Zwist sorgte für Schlagzeilen, ist aber angesichts der Milliardengewinne, die die Pharmaindustrie dank der gesetzlichen Beitragszahler Jahr für Jahr erzielt, eher nebensächlich.

Der Misere der GKV ließe sich hingegen begegnen, wenn der Kreis der Beitragszahler erweitert würde: beispielsweise auf Personen, die Einkommen aus Vermögen beziehen. Man könnte auch die Beitragsbemessungsgrenze abschaffen, die Wohlhabende bislang finanziell entlastet, oder bisher privat versicherten Beamten zukünftig nur noch den Zugang zu einer gesetzlichen Krankenkasse gestatten. Das käme jedoch dem Ende der privaten Krankenversicherung gleich.
Angesichts Röslers weiterer Pläne müssen sich die privaten Krankenversicherer jedoch keine Sorgen um ihre Zukunft machen. So sollen sie ebenfalls in den Genuss der ermäßigten Arzneimittelpreise kommen, die die Hersteller den gesetzlichen Kassen gewähren müssen. Diese hingegen müssen auf die Möglichkeit verzichten, Zusatzpolicen etwa für Zweibettzimmer oder die Behandlung durch Chefärzte anzubieten.
Damit die privaten Krankenversicherungen sich nicht über mangelnde Kundschaft beschweren können, hat sich das Gesundheitsministerium ebenfalls etwas ausgedacht. Beschäftigte sollen schon dann von einer gesetzlichen zu einer privaten Krankenkasse wechseln dürfen, wenn ihr Jahreseinkommen die sogenannte Versicherungspflichtgrenze von 49 950 Euro einmal, und nicht wie bisher dreimal, übertroffen hat. Das dürfte der GKV nach Berechnungen der Techniker-Krankenkasse ab 2011 Beitragsausfälle bis 500 Millionen Euro im Jahr bescheren.