Proteste gegen die Einführung der digitalen »Fankarte« in Italien

Verdächtig: Alle

Italienische Fußballfans können ohne digitale »Fankarte« kein Auswärtsspiel mehr besuchen.

Am Abend des 25. August nahm der italienische Innenminister Roberto Maroni am von der rechts­populistischen Lega Nord organisierten traditionellen »Berghèm«-Fest in Alzano Lombardo teil. Sein Auftritt als Redner endete mit einem Eklat, als der angekündigte friedliche Protest organisierter Fußballfans aus Bergamo in Ausschreitungen eskalierte.
Der Angriff der Atalanta-Ultras auf die Veranstaltung, die beteiligten Polizeikräfte und den Innenminister selbst sorgte für viel Entrüstung in europäischen Medien. Zu plakativ waren die Bilder des Ereignisses: fliehende Frauen und Kinder, brennende Autos, die grell reflektierenden Schutzanzüge der Feuerwehr. Die Reaktionen der üblichen Verdächtigen ließen nicht auf sich warten: Der Lega-Abgeordnete Giacomo Stucchi befand: »Das sind keine Fans, das sind nur Gewalttäter.« Berlusconis »Minister für die Vereinfachung der Gesetzgebung«, Roberto Calderoli, ebenfalls Mitglied der Lega Nord und selbst Atalanta-Fan, sagte: »Ich kann nicht akzeptieren, dass das Image von Bergamo durch 200 Bekloppte in den Dreck gezogen wird.« Maroni selbst äußerte sich: »Ich rede nicht mit Gewalttätern. Ich rede nur mit wahren Fans.« Giancarlo Abete, der Präsident des italienischen Fußballverbandes (FIGC), verurteilte die Vorkommnisse: »Es kann auch Meinungsverschiedenheiten geben, aber die Tatsache, dass man Gewalt angewendet hat, macht deutlich, wen wir hier vor uns haben. Wer Gewalt nutzt, identifiziert sich selbst als Person, die aus dem Stadion entfernt werden muss.«
Abgesehen von der Frage, warum die Lega Nord plötzlich ein Problem mit jugendlichen Gewalttätern hat, wenn diese einmal Polizeiautos statt Roma-Zeltlager anzünden: Warum sprengt eine Gruppe von historisch der Lega Nord eher in Sympathie verbundenen Atalanta-Ultras ein Fest der rechtspopulistischen Partei im Val Se­riana, der Wiege der »Bewegung«?
Es geht um die »Tessera del Tifoso«, die in dieser Saison eingeführt wurde. Die »Fankarte«, von der deutsche Innenminister bislang nur träumen, ist in Italien seit diesem Sommer Pflicht. Wer für ein italienisches Fußballstadion eine Dauerkarte oder auch nur ein Ticket für den Auswärtsblock erwerben möchte, muss sich registrieren lassen. Persönliche Daten, Steuernummer, Ausweisnummer und Meldeadresse werden auf einem Microchip der scheckkartengroßen Karte gespeichert.
Wer das nicht möchte oder aufgrund von Vorstrafen oder Stadionverboten die Ausstellung verweigert bekommt, darf keine Dauerkarte erwerben und kann nicht zu Auswärtsspielen. In großen Stadien wie dem San Siro in Mailand ist es praktisch unmöglich, ohne eine solche Karte überhaupt im Vorverkauf Eintrittskarten zu erwerben. Vor demselben Problem stehen auch ausländische Fans, denen mangels italienischer Steuernummer keine Fankarte ausgestellt wird.
Weil es der italienische Staat über vier Jahrzehnte nicht geschafft hat, Gewalttäter zu isolieren, zu identifizieren und einzeln anhand der bestehenden Gesetze abzuurteilen, wurde die Repression verschärft. Infolge der Einführung der Fankarte wird nun jeder vorsorglich erkennungsdienstlich behandelt, der sich mit der Absicht trägt, ein Fußballspiel zu besuchen.
Unter den italienischen Ultras regt sich Protest. Viele sind der Meinung, ein solches Vorgehen widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen, schließlich gehe es um die Umkehr der Unschuldsvermutung. Medien, Politik und Mehrheitsmeinung halten ihnen entgegen, dass jemand mit reinem Gewissen sich keine Sorgen machen brauche.
Bislang ist es den organisierten Fans nicht gelungen, eine gemeinsame Politik zu finden: Das Spektrum reicht von Kurven, die geschlossen das neue staatliche Instrument ablehnen (Brescia, Bologna, Bergamo, Lazio Rom) über Vereine, die ihren Mitgliedern die Entscheidung freistellen (Juventus Turin), bis hin zu Kurven, die den Erwerb der Karten aktiv bewerben (Inter, AC Milan). Einstweilen haben die italienischen Stadien kaum einen Rückgang der Besucherzahlen zu verzeichnen. Schätzungen zufolge haben sich rund 70 000 Fans zwar gegen die Karte entschieden, da die Statistik allerdings sowieso von den besucherstarken Mannschaften aus dem Norden wie Inter, Milan und Juventus dominiert wird (die dem neuen Instrument zur Fanreglementierung eher wohlwollend gegenüberstehen), schlägt sich der Protest nicht in einem Rückgang der Besucherzahlen nieder.
Zum Vergleich: Bei Lazio Rom stehen den 27 000 Dauerkarten des Vorjahres lediglich 1 600 Anträge auf die nun obligatorische Fankarte entgegen. Der AC Milan hingegen stellt mit weit über 200 000 Karteninhabern praktisch die Hälfte der in ganz Italien überhaupt ausge­gebenen Karten. Die verschiedenen Gruppen »No alla Tessera« auf Facebook, das nicht gerade die Spielwiese der gewalttätigen Ultras ist, zählen dagegen schon über 30 000 Mitglieder.
Die zuständigen Behörden zeigen sich nicht gerade optimistisch, was die Eindämmung der Gewalt angeht. Befürchtet wird, dass gewalttätige Fans nun nicht mehr organisiert auf Auswärtsfahrt gehen, sondern einzeln oder in kleinen Gruppen und somit nicht weiter iden­tifizierbar. Die Szene kann dadurch schlechter kontrollierbar und zersplitterter werden. Wo es gestern noch hierarchisch organisierte Auswärtsblocks gab, wird künftig eine diffuse Masse aus Kapuzenträgern stehen, die sich ihre Karten irgendwie besorgen und irgendwie ins Stadion zu gelangen versuchen.
Franco Maccari von der unabhängigen Polizeigewerkschaft sagt dazu: »Das Schweigen des Fußballbundes und der Liga ist ohrenbetäubend. Die ›Regierung des Fussballs‹ schweigt. Sie schweigt, weil dann, wenn aus einem Risiko ein echter Notfall wird, es wieder die Männer und Frauen der Polizei sein werden, die sich dem Phänomen entgegenstellen müssen.«
Ohnehin hat sich die Gewalt der Ultras bereits seit mehr als einem Jahrzehnt von den Stadien auf Bahnhöfe und Autobahnraststätten verlegt. Abgesehen davon fordert polizeiliche Gewalt ähnlich viele Todesopfer wie die der Ultras.
Die Einführung einer Fankarte wurde übrigens bereits nach den Todesschüssen eines Polizisten auf den Lazio-Fan Gabriele Sandri im Jahr 2007 gefordert. Der Ruf nach einer »Tessera del Poliziotto« oder wenigstens einer identifizierbaren Kennung an Uniformen der Einsatzkräfte verhallte dagegen ungehört. Auch fast zehn Jahre nach den Todesschüssen auf Carlo Giuliani oder den Misshandlungen in der Diaz-Schule beim G8-Gipfel in Genua ist Polizeigewalt in Italien kein Thema.
Statt Fanprojekte zu unterstützen, die italienischen Fußballstadien wenigstens auf den Stand des 20. Jahrhunderts zu modernisieren oder den Dialog mit gesprächsbereiten Vertretern des organisierten »Tifo« zu suchen, wird die italienische Interpretation des englischen Modells versucht: eisenhartes Vorgehen, möglichst ohne Geld auszugeben. Dabei lautete der Kernsatz des Taylor-Reports, der seinerzeit in England zur Grundlage der Neuorganisation von Fußballstadien zum Zwecke der Hooligan-Bekämpfung wurde: »Wenn ihr nicht wollt, dass sie sich wie Tiere benehmen, dann hört auf, sie wie solche zu behandeln.«