Über die undemokratischen Machtstrukturen in der EU

Die Nation bleibt, die Demokratie geht

Die Politik der EU wird von den nationalen Regierungen bestimmt, die sich gegen demokratische Reformbestrebungen abgesichert haben. Man kann diese Machtverhältnisse kritisieren, ohne von der »europäische Idee« zu schwatzen oder die Rückkehr zum Nationalstaat zu fordern.

Als whips, Einpeitscher, werden in Großbritannien und den USA die Fraktionsvorsitzenden bezeichnet, deren undankbare Aufgabe es ist, die Anwesenheit der Abgeordneten und das gewünschte Abstimmungsverhalten sicherzustellen. Da Körperstrafen nicht mehr gestattet sind, hatten sich der Süddeutschen Zeitung zufolge im Europäischen Parlament »die Fraktionsvorsitzenden darauf geeinigt, nicht-anwesende Abgeordnete mit Geldstrafen zu belegen«, um José Manuel Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, eine ausreichende Zuhörerschaft zu garantieren. Um die Präsenz zu kontrollieren, sollten während der Rede und der Debatte drei überraschende elektronische Abstimmungen stattfinden. Man nahm jedoch Abstand von diesem Plan, da der Eindruck hätte entstehen können, dass die Abgeordneten gezwungen werden müssen, sich Barrosos Rede anzuhören.
Es ist verständlich, dass etliche Abgeordnete die Ansprache des nicht für seinen Esprit bekannten Barroso schwänzen wollten. Viel versäumt hätten sie bei dessen Grundsatzrede am Dienstag der vergangenen Woche nicht. Auch muss man ausnahmsweise Wolfgang Schäuble recht geben, der meinte, dass Barrosos einziger konkreter Vorschlag, eine EU-Steuer einzuführen, nicht der beste Weg sei, die Begeisterung der Bürger für Europa zu wecken. Wenn aber nicht einmal die Abgeordneten des Europäischen Parlaments sich für die EU-Politik interessieren, wer soll es dann tun?
Die Machtverhältnisse undurchschaubar zu gestalten, war nicht das vorrangige Ziel der Politiker, die die europäischen Institutionen schufen. Es erweist sich jedoch immer wieder als nützlich, dass kaum jemand durchblickt. Das Muster ist simpel. Von den nationalen Regierungen ernannte Bürokraten erlassen ein Gesetz. Erweist sich dieses Gesetz als unpopulär, können die Politiker, die es in Auftrag gegeben haben, auf »die Bürokraten in Brüssel« schimpfen. Die Bürokraten sind manchmal verstimmt, weil ihnen die Schuld zugeschoben wird, halten aber in der Regel den Mund.
Einem unter Linken wie Rechtspopulisten verbreiteten Irrglauben zufolge geht es bei der europäischen Integration um die Auflösung der Nationalstaaten. Im Lissaboner Vertrag wird jedoch explizit festgeschrieben, dass »die grundlegenden Funktionen des Staates« und die »nationale Identität« geachtet werden. Dabei wird es auch bleiben, denn der Vertrag gilt »auf unbegrenzte Zeit« und kann in wesentlichen Punkten nur mit der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten geändert werden. Im Rahmen der bürgerlichen Demokratie ist die EU daher kaum noch reformierbar.

Wer Deutschland abschaffen will, muss sich also etwas anderes überlegen. Auch bei der »Einhegung« hat die EU versagt, seit 1942 war der deutsche Einfluss in Europa nicht mehr so groß wie heute. Zwar wird es hierzulande als Anlass für Nationalstolz betrachtet, dass die deutsche Hegemonie keine unmittelbar tödlichen Folgen mehr für die Menschen im Rest Europas hat. Doch für die Griechen, die wegen der von Deutschland durchgesetzten verschärften Sparvorgaben auf 20 Prozent ihres Gehalts verzichten müssen oder arbeitslos wurden, dürfte das ein schwacher Trost sein.
Die Sparmaßnahmen und Lohnkürzungen haben in Griechenland zu einer Rezession geführt. Man muss schon Professor der Volkswirtschaft oder Börsenanalyst sein, um die Ansicht zu vertreten, ein Sparprogramm, das die Staatseinnahmen stark vermindert, werde die Griechen dazu befähigen, ihre Schulden zu bezahlen. In Griechenland und in anderen südeuropäischen Ländern droht eine Verelendung, wie sie viele Staaten in der »Asien-Krise« der Jahre 1997 und 1998 erlebten, als etwa in Indonesien binnen weniger Monate 40 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze fielen. Doch Einfluss auf die EU-Politik können die ärmeren Staaten kaum nehmen.
Hätten ein europäisches Parlament und eine gewählte europäische Regierung eine andere Politik beschlossen? Zumindest wäre wohl offener gestritten worden, während man im Frühjahr, als über die »Hilfe« für Griechenland diskutiert wurde, vornehmlich am Gesichtsausdruck von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ablesen konnte, was sie gerade ausgehandelt hatten. Die Geheimdiplomatie ersetzt die öffentliche Debatte, und entschieden werden alle wichtigen Fragen von Repräsentanten der nationalen Regierungen, deren Einfluss von der wirtschaftlichen Stärke des Landes abhängt.
Da all diese Regierungen gewählt wurden, wäre es übertrieben, von einer Diktatur zu sprechen. Doch die wenigsten Menschen wären zufrieden, wenn sie in ihrem Nationalstaat in Zukunft nur noch die Bürgermeister wählen dürften, die dann gemeinsam mit einem Bundesrat ohne legislative Befugnisse und Kontrollgewalt regieren.

Denn ein europäisches Parlament ist das Europäische Parlament nicht. Das Parlament einer bürgerlichen Demokratie wählt die Regierung, kontrolliert sie, verabschiedet Gesetze, beschließt den Haushalt und entscheidet über Krieg und Frieden. Das Europäische Parlament tut nichts davon. Außenpolitische Befugnisse hat es überhaupt nicht, die »strategischen Interessen und Ziele der Union« legt der Europäische Rat (das Gremium der Staats- und Regierungschefs) fest. Eine Mitsprache der Abgeordneten gibt es nur bei der Wahl der Kommissionsmitglieder, während der Rat (von den nationalen Regierungen entsandte Minister) und der Europäische Rat keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Hätte Merkel sich vor griechischen Abgeordneten rechtfertigen müssen, wäre das zumindest unterhaltsam geworden.
Über Gesetzgebung und Budget entscheidet das Europäische Parlament »gemeinsam« mit dem Rat. Was immer das im wirklichen Leben heißen mag, es handelt sich hier um einen Bruch mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive. Eine »unabhängige«, also keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegende Europäische Zentralbank komplettiert das institutionelle Arrangement.
Die EU soll mehr sein als ein Staatenbündnis, ein Bundesstaat soll sie aber auch nicht werden. Da Politiker und Bürokraten nicht immer wieder über die gleichen Streitfragen diskutieren wollen, haben sie im Vertrag von Lissabon politische Grundsätze festgelegt, die die demokratische Entscheidungsfreiheit weiter einschränken. So steht die Förderung des »Verteidigungssektors« nicht mehr zur Debatte, und »die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.« Hatte die Bourgeoisie früher wenigstens noch den Anstand, ihre Klasseninteressen nicht explizit zum Gesetz zu erheben, bestimmt nun die Charta der Grundrechte der Europäischen Union: »Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.« Nach einer Anerkennung der proletarischen Freiheit sucht man vergebens, und ein Streikrecht wird nur für tarifliche Auseinandersetzungen gewährt.

Den Begriff der Nation sollte man getrost den Rechten überlassen. Mögen sie damit glücklich werden. Mit der Demokratie, auch der bürger­lichen, verhält es sich anders, insbesondere in Deutschland. Das Grundgesetz wurde bereits um eine »Schuldenbremse« ergänzt, eine Bestimmung, die die staatliche Kreditaufnahme begrenzen soll. Zur Demokratie gehört aber auch die Freiheit, eine »unverantwortliche« Haushaltspolitik zu betreiben. Doch vermeintliche Sachzwänge bewogen die Bundestagsabgeordneten, ihrer Entscheidungsfreiheit zu entsagen, und die meisten deutschen Politiker würden nun in der EU gerne eine ähnliche Regelung durchsetzen.
Demokratische Mindeststandards kann man jedoch fordern, ohne von der »europäischen Idee« zu schwatzen oder die Rückkehr zum Nationalstaat zu propagieren. Denn wie zahlreiche andere Probleme im Spätkapitalismus ist auch das der Machtstrukturen in der EU im Rahmen der herrschenden Verhältnisse nicht lösbar. Gegen demokratische Reformbestrebungen haben sich die EU-Regierungen gut abgesichert, selbst um ein Bittgesuch an die Europäische Kommission zu richten, müssen eine Million »Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten« zusammenfinden. Sollte aber die Linke irgendwann einmal in allen EU-Staaten stark genug sein, um grundlegende Veränderungen erzwingen zu können, gäbe es keinen Grund, sich auf eine Reform der EU-Institutionen zu beschränken.