Hat eine Herberge für kranke Migranten in Mexiko besucht

Hart an der Grenze

Olga Sánchez ist die Gründerin einer privaten Herberge für kranke Migranten. Die steht etwas außerhalb von Tapachula, einer Provinzstadt an der Südgrenze Mexikos. Hier verläuft eine der beiden Routen von Mittelamerika über Mexiko in die USA. Einige Jahre zu schuften und dann zurück in die Heimat zu gehen, ist das erklärte Ziel der allermeisten Auswanderer. Doch für viele endet die Reise ins bessere Leben auf der Krankenpritsche bei Doña Olga.

»Oh, das ist Manuel, der da kommt.« Donar Antonio Ramirez Espinal hört das metallische Scheppern der Gehhilfe, mit der sich sein Freund fortbewegt und grinst in freudiger Erwartung. Ein wenig Ablenkung kann nie schaden bei der Arbeit mit Nadel und Faden. Jeden Tag sitzt Donar, umgeben von Stoffresten, unzähligen bunten Garnspulen, Wolle, Nadel und Faden in der Werkstatt und bestickt und verziert den ganzen Tag Armbänder, Tischdecken, Überdecken und auch Kinderkleidung. »Das ist meine Arbeit. Wir verkaufen unsere Produkte auf Messen und Märkten und finanzieren dadurch einen Teil der Kosten«, sagt der 29jährige. Seit fünf Jahren nutzt er seine Fingerfertigkeit, um etwas zum Unterhalt der Migrantenherberge »Jesus, der gute Hirte« beizusteuern. Die Herberge liegt etwas außerhalb von Tapachula, einer aufstrebenden Provinzstadt im Süden Mexikos, und ist nur wenige Kilometer von der guatemaltekischen Grenze entfernt.
»Die Herberge ist seit fünf Jahren mein neues Zuhause«, sagt der aus Honduras stammende Donar. Seine vernarbten Beinstümpfe ragen nur wenige Zentimeter über den Rand des Rollstuhls hinaus, in dem er seit fünf Jahren sitzt. Er ist ein Opfer der bestía. So nennen die Migranten aus Honduras, El Salvador, Guatemala und den anderen Ländern Mittelamerikas den Zug, der Unmengen an Gütern aus dem Süden Mexikos gen Norden bringt. Oftmals werden zwei oder drei Lokomotiven eingesetzt, um die vielen Kessel- und Güterwagen von einem Bahnhof zum nächsten zu schleppen.
»Auf den Dächern der Waggons und den Plattformen zwischen den einzelnen Güterwagen reisen wir nach Norden. Manchmal sind es nur einige Dutzend, manchmal etliche hundert«, erzählt Donar. Er kennt die Route, denn im Frühjahr 2004 hat er sich selbst auf den Weg gemacht, um der Perspektivlosigkeit in seinem Heimatland zu entfliehen.

Donar stammt aus Choluteca, einer Kleinstadt im Süden von Honduras. Als die Firma, in der er gearbeitet hatte, Pleite machte, entschloss er sich, das Angebot eines Schleppers anzunehmen. »Wir waren zu siebt und der Mann versprach, uns bis in die USA zu bringen«, erinnert er sich. 5 000 US-Dollar pro Kopf sollte das kosten, und ähnlich wie viele andere wollte Donar das Geld später abarbeiten. Doch dazu kam es nicht. »Rund 300 Menschen waren damals auf dem Zug, und die guten Plätze waren schnell weg.« Überaus langsam ging es voran und mehrmals hielt der Güterzug auf offener Strecke. Die Gruppe um Donar fühlte sich übermüdet und zerschlagen, als der Zug wieder einmal hielt. »In Chahuites, einer Kleinstadt in Oaxaca, war es.« Er wollte die Pause nutzen, um ein dringendes Bedürfnis zu verrichten. Doch plötzlich fuhr der Zug wieder an und wie alle anderen eilte Donar zu einem Waggon, um einen der Plätze auf dem Dach zu ergattern. »Doch der Typ vor mir verlor das Gleichgewicht, fiel mir auf den Kopf. Ich stürzte, fiel aufs Gleisbett und der Sog des Zuges zog mich aufs Gleis.« Es dauerte ein wenig, bis Donar begriff, was passiert war: »Der Zug hatte mir beide Beine abgetrennt und das Blut schoss aus den Stümpfen wie Wasser aus einem Gartenschlauch.« Er lag neben dem Gleis, bis irgendwann ein Mexikaner auftauchte, ihm die Beine abband und das Rote Kreuz anrief. Donar kam ins Krankenhaus von Tapachula. »Den Traum vom Job in den USA konnte ich genauso beerdigen wie den Wunsch, meine Familie zu unterstützen«, sagt Donar, während er einen roten Faden in die Nadel fädelt. Von derartigen Träumen haben sich auch viele andere Bewohner der Migrantenherberge von Doña Olga verabschieden müssen.
Manuel gehört auch zu ihnen. Der 34jährige Honduraner ist ein weiterer der sechs festen Bewohner der Herberge und ähnlich wie Donar unter den Zug geraten. »Eine Windböe hat mich vom Dach geworfen«, erzählt Manuel. Er krachte zwischen zwei Waggons aufs Gleis, drei Wirbel gingen entzwei, drei Finger wurden ihm abgetrennt. »55 Waggons rollten über mich hinweg, ich habe Glück im Unglück gehabt«, erinnert sich der ehemalige Kaffeebauer. Mitten in der Nacht, gegen ein Uhr, war das, und kaum einer der anderen Männer auf dem Dach des Waggons hatte es mitbekommen. Erst in den frühen Morgenstunden fand ihn ein Bauer, der die Polizei verständigte, so dass er ins Hospital kam. »Mehr als drei Monate lag er dort, und niemand hätte wohl gedacht, dass Manuel sich noch einmal eigenständig fortbewegen kann«, ergänzt Donar, der die Geschichte seines Freundes gut kennt. Heute stützt sich Manuel auf ein Gehgestell aus Alu, statt querschnittsgelähmt im Rollstuhl zu sitzen, wie es Ärzte und Schwestern prognostiziert hatten. Für die Herberge verkauft er Brot aus der eigenen Bäckerei. Ein Erfolg von Doña Olga, die Manuel gepflegt und ihm die Lebensfreude zurückgegeben hat. Das Gefühl, etwas wert zu sein, ist dabei für die beiden Honduraner überaus wichtig, und so arbeiten sie emsig, um etwas zum Erhalt der Herberge beizusteuern. Dort ist immer etwas zu tun, denn kaum ein Tag vergeht, an dem nicht jemand ankommt. Doña Olga schaut jeden Tag im Krankenhaus von Tapachula vorbei, auch aus den weiter entfernten Städten Arriaga und Ixtepec werden Verletzte zu ihr geschickt.

Seit knapp zwanzig Jahren hilft Olga Sánchez denen, für die sich in Mexiko kaum jemand interessiert: die Migranten. »Im Krankenhaus von Tapachula habe ich gesehen, wie viele Patienten mit Amputationen in den Gängen liegen, und da habe ich begonnen nachzufragen und zu helfen«, sagt die stets weiß gekleidete Frau, die Ende 40 ist. Im Jahr 1991 war sie selbst noch schwer krank. Wie durch ein Wunder überlebte sie die Krankheit und begann zu helfen. Erst im eigenen Haus, wohin sie Migranten mit frischen Amputationen brachte, um sie dort gesund zu pflegen, dann in einem separaten Haus und seit 2006 in der weitläufigen Herberge. Dort sind in mehreren Gebäuden, die um einen mit spärlichem Grün versehenen Innenhof angelegt sind, rund 50 Betten und die Werkstätten untergebracht. »Alles haben wir selbst gebaut«, sagt Donar und klopft stolz mit den Knöcheln der rechten Hand auf die Tischplatte. Bei dem Bauvorhaben, das sich über zwei Jahre hinzog, haben alle Bewohner mitgewirkt. »Rund ein halbes Jahr dauert es, bis eine Amputation richtig verheilt ist, die Prothese richtig sitzt und man sich an sie gewöhnt hat«, sagt Doña Olga. So lange bleiben die Menschen in der Herberge und erholen sich von dem Schock. Der sitzt oft tief, schließlich werden alle Träume und Illusionen von heute auf morgen zerstört. »Ich fühlte mich überflüssig, und ohne die psychologische Hilfe hätte ich es vielleicht nicht geschafft«, sagt Manuel und nickt bekräftigend, so dass die Rastalocken auf seinem Kopf in Bewegung kommen. So geht es vielen der Migranten, die zu Doña Olga kommen oder von ihr aus dem Krankenhaus abgeholt werden.

Jessica, eine junge Frau aus El Salvador, ist ein weiteres Beispiel. Seit einigen Monaten hat sie ihre Unterschenkelprothese, von Tag zu Tag kommt sie besser damit zurecht. Das ist auch nötig, denn den Traum von einem Job in den USA hat die 21jährige noch nicht aufgegeben. »Drei Jahre will ich dort arbeiten, um ein Startkapital für El Salvador anzusparen«, erzählt sie und räumt den Taschenrechner vom Tresen des kleinen Kiosks, der zur Herberge gehört und zu deren Erhalt beiträgt.
Geld ist knapp in der Herberge, die sich selbst finanzieren muss. Regelmäßige Unterstützung zu bekommen, das ist ein Traum von Doña Olga, die 2004 zwar den nationalen Menschenrechtspreis erhalten hat, aber noch nie einen Peso von der mexikanischen Regierung. »Migranten sind in Mexiko nicht gerade erwünscht«, sagt sie. Sie stammt selbst aus einfachen Verhältnissen, ist mit elf Geschwistern aufgewachsen und kennt die Armut. »Doch es erschüttert mich immer wieder, wie mit diesen Menschen umgegangen wird, die doch nur schnell durch Mexiko reisen wollen, um ihr Glück in den USA zu suchen.«
Schon in Ciudad Hidalgo, dem Grenzort auf mexikanischer Seite, den die Migranten erreichen, wenn sie den Río Suchiate per Floß überqueren, lauern Banden. »Es gibt organisierte Banden, aber auch ganz normale Mexikaner, die Migranten überfallen und ausplündern«, ärgert sich Donar. Er selbst musste vor fünf Jahren, als er den Fluss auf dem Floß überquerte, dem Flößer und einem zufällig auftauchenden Polizisten auf der anderen Uferseite Schmiergeld in die Hand drücken. Das ist Alltag an der Grenze, doch seit zwei, drei Jahren wird regelrecht Jagd auf die Migranten aus Mittelamerika gemacht. Nicht nur auf dem Weg von der Grenze zum 300 Kilometer entfernten Bahnhof von Arriaga, wo die bestía startet, sondern auch, wenn die Migranten den Zug erreicht haben, berichtet Pfarrer Heymann Vázquez, der eine Herberge für Migranten in Arriaga leitet. Hier startet der Zug seit 2006, nachdem ein Hurrikan die Gleise in Tapachula zerstört hat.

»Es ist schockierend, wie die Menschen hier manchmal ankommen. Erschöpfung ist normal, aber manche Männer wurden fürchterlich zusammengeschlagen, Frauen zigmal vergewaltigt«, erzählt Vázquez. »Als Pfarrer bin ich entsetzt, denn wir erleben eine Diskriminierung, einen Rassismus, der kaum nachzuvollziehen ist. Wir sind doch alle aus der gleichen Mischung«, sagt der 49jährige ratlos. Seit sieben Jahren arbeitet er in Arriaga und kann es sich erlauben, die Dinge beim Namen zu nennen.
Ohnehin decken sich seine Angaben mit den Berichten seiner Kollegen in den anderen Heimen für Migranten und denen der nationalen Menschenrechtskommission. Die berichtete letztes Jahr von mindestens 9 758 Entführungen, wobei Lösegeld zwischen 1 500 und 5 000 US-Dollar von den Familien verlangt und oft auch bezahlt wurde.
»Vor allem, weil die Banden als extrem skrupellos gelten«, sagt Rodolfo Casillas von der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften. »Körperverletzung, Morde, Vergewaltigungen stehen auf der Tagesordnung und die Regierung verweilt in Untätigkeit.« Ein Großteil der Entführungsopfer kommt aus Honduras. Danach rangieren El Salvador und Guatemala, die Zahlen spiegeln nur die Wanderung vom Süden in den Norden wider. Obendrein werden die Mexikaner von den USA angehalten, die rund 700 Grenzkilometer dicht zu machen. »De facto haben die Ordnungskräfte die Grenze aber ebenso wenig unter Kontrolle wie die Nordgrenze«, kritisiert José Luis Soberanes Fernández von der Nationalen Menschenrechtskommission. Diese Einschätzung teilt man auch in der Herberge von Tapachula. »Die Grenze ist ein rechtsfreier Raum, und ihre Opfer brauchen genauso Hilfe wie die Opfer des Zuges«, sagt Donar und schaut kurz zu Olga Sánchez. Sie nickt kaum merklich, dann lässt Donar die nächste Perle auf den Faden gleiten. »Selbst im Krankenhaus geben uns die Ärzte zu verstehen, dass wir ganz unten stehen«, sagt er mit gepresster Stimme. »Ich kenne eine ganze Reihe von Migranten, denen mehr als nötig amputiert wurde.« Doña Olga legt beschwichtigend die Hand auf seine rechte Schulter und wendet sich dem Ausgang des geräumigen Nähzimmers zu, in dem Donar tagtäglich anzutreffen ist. Hier fühlt er sich wohl, denn zuhause in Honduras wusste seine Familie nichts mit einem zusätzlichen Esser anzufangen. Hier in der Herberge fühlt er sich nützlich, hat mitgearbeitet, als die einfachen Gebäude aus Beton und Ziegel gebaut wurden, und seine neue Familie gefunden. Das Armband ist fast fertig. Vielleicht kann Manuel es gleich morgen verkaufen.