Kreuzberg ist nicht Deutschland

»Ich heiße Ali, und ich bin Türke. Ich leb’ in Kreuzberg, West-Berlin. Mein Vater, stark und mutig, kommt aus Anatolien. Nun hat er keine Arbeit mehr und will da wieder hin. ›Ohne mich!‹, schrei’ ich laut, bis er mir eine haut. Doch ich kann und ich will nicht mehr zurück. West-Berlin, Ost-Berlin, soll’n die noch ’ne Mauer bau’n, nur nach Kreuzberg zieht es mich hin. Ich spreche kaum noch Türkisch, weshalb mein Vater sauer ist: ›Du bist kein echter Türke und ein Deutscher bist du nicht.‹ Letztes Jahr waren wir im Urlaub in Ankara, verdammt weit von Berlin. Die Heimat meiner ­Eltern kam mir sehr befremdlich vor. Ich hatte Heimweh, Heimweh nach Berlin. Nur nach Kreuzberg, die meene Schöne, nur nach Kreuzberg zieht es mich hin.«

Das ist der Text des Songs »Ali«, der leider zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt veröffentlicht wurde. 1989 gab es in Deutschland nur ein Thema, und das hieß: Deutschland. Die lobenswerte Idee der Eichs Band Feld, die Identität und Integration junger Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in einem Lied zu thematisieren, fand kein Gehör. So peinlich der Song auch heute erscheinen mag, vieles, was in diesem Text angesprochen wurde, hat sich in den letzten 20 Jahren nicht verändert.
Ein Großteil der Biodeutschen betrachtet die neuen Deutschen immer noch als Fremde, und auch die neuen Deutschen definieren sich zunehmend wieder als Türken. An der Sichtweise der Bios muss sich sicher noch vieles ändern, die Identifikation der Türken mit Kreuzberg geht allerdings schon einen Schritt weiter. Kreuzberg liegt schließlich in Deutschland. Ich kann mich auch nicht mit Buxtehude identifizieren, mit Kreuzberg aber schon. Und wenn es nur um die Sprache geht, kann ich noch jeden Türken besser verstehen als einen Sachsen. Wenn es um den Glauben geht, habe ich mit Katholiken genauso wenig gemeinsam wie mit Muslimen. Was ich mit den in Berlin lebenden Türken teile, ist die Tatsache, dass wir in derselben Stadt wohnen. Wir sind alle Stadtmenschen. Im übrigen betrachte ich alle Bewohner Deutschlands als Deutsche. Außer Amis, die nur der Hipness wegen nach Kreuzberg ziehen. Das sind Touristen.
Die Gruppe mit dem seltsamen Namen Eichs Band Feld veröffentlichte die Single »Ali« in Eigenregie und verschwand dann wieder in der Versenkung. Die Moschee auf dem Cover war sicher nicht verkaufsfördernd, und auch den an Herbert Grönemeyer erinnernden Mainstreamrock bekam der Herbert selbst besser hin. Immerhin war das holprige, türkisch gesprochene Intro ein wohlwollender Versuch der Annäherung.
Auch ich beherrsche leider nur wenige Brocken Türkisch. In dem Türkischkurs, den ich vor Jahren besuchte, war ich der schlechteste Schüler. Den Plan, die Sprache zu lernen, habe ich trotzdem noch nicht aufgegeben.