Wie der Name das Schicksal bestimmt

Über den Nachteil von Namen

Anonymität kann eine kapitalistische Notwendigkeit sein und ist zugleich die Zuflucht derer, die schlechte Chancen haben. Aus beiden Gründen hat es der anonyme Bewerbungsbogen in Deutschland schwer.

Wer sich in Deutschland bewerben muss, hat meist bereits verloren. Der Job kann offiziell ausgeschrieben, aber inoffiziell bereits vergeben sein. Das kommt im öffentlichen Dienst (Behörden, staatliche Universitäten) so häufig vor, dass es die Regel zu sein scheint. Auch in der freien Wirtschaft sind Bekanntschaft oder zumindest eine Vertrautheit mit dem Milieu wichtiger als Kompetenz. Nähe siegt über Können und Motivation.
Wenn in diesem abgekarteten Spiel sogar die Durchschnittstypen verlieren, wie soll es erst Menschen ergehen, deren Vorfahren nicht aus Buxtehude oder Schweinfurt stammen? In Frankreich wurde der Fall zum Skandal, dass eine Personalchefin in einer Bewerbungsunterlage den Namen »Laetitia« las und die Frau zum Gespräch bestellte. Da erst bemerkte sie, dass die Laetitia eine Latifa ist, und wollte sie wieder ausladen. So ähnlich geht es in Deutschland jeden Tag. Wer aus einer türkischen Familie stammt und Arbeit sucht, gründet am besten gleich eine Firma.
Nicht zum Schutz von Minderheiten, sondern zu dem der Wirtschaft ist deshalb in vielen Ländern wenigstens versuchsweise der anonyme Bewerbungsbogen eingeführt worden. In den USA ist er seit vielen Jahren erfolgreich im Gebrauch, in Belgien für den öffentlichen Dienst seit 2005 vorgeschrieben, in Frankreich und Großbritannien laufen große Modellversuche. Nur Spanien und Deutschland haben sich lange gegen das Modell gesträubt. An dem Test, der nun hierzulande unternommen wird, nehmen nicht 50 Firmen wie in Frankreich, sondern lediglich fünf teil, von denen die meisten Erfahrungen in den USA gesammelt haben.
Gegen diesen zögerlichen Versuch, eine kapitalistische Auslese durchzusetzen, wehren sich verblüffenderweise die Kapitalisten. Patrick Adenauer, Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, beklagt sich einerseits über den Mangel an qualifiziertem Fachpersonal und behauptet andererseits in der Welt, eine Diskriminierung sei nicht nachzuweisen. Dass das eine mit dem andern zusammenhängen, dass sich also qualifiziertes Personal gerade bei denen finden könnte, die es nicht einmal zum Vorstellungsgespräch schaffen, kommt ihm nicht in den Sinn.

Gibt es auch in den USA einen Verband der »Familienunternehmer«? Haben Familien, Beziehungen, Stallgeruch irgendeinen Wert, verglichen mit der pragmatischen Erfordernis, dass einer etwas von seiner Sache verstehen und bereit sein sollte, sich ausbeuten zu lassen? – Vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen, nicht. Die deutsche Abwehr von anonymen Bewerbungen ist nicht kapitalistisch, sondern atavistisch.
Wer hier mit seinem Namen von Erfolg zu Erfolg eilen will, sollte einen alten tragen, am besten Sophie oder Max. Wer nämlich Kevin oder Kimberley heißt, ist, wie eine Studie erwiesen hat, in deutschen Grundschulen bereits deklassiert, bevor er oder sie auch nur zum ersten Mal den Mund aufgemacht hat. Kevin und Kimberley sind Namen, in denen sich die Phantasie der Armen spiegelt, sie könnten es in der nächsten Generation zu etwas Glanz bringen. Die Namen Max und Sophie sagen: »So wie es hier seit 200 Jahren zugeht, soll es gehörigst in den nächsten 200 Jahren weitergehen.« Das ist nicht Kapitalismus, sondern Kastendenken. Entsprechend findet man an der Spitze von deutschen Behörden, Banken und Unternehmen dünkelhafte Dummköpfe. Es kommt eben auf sie viel weniger an, als sie selbst es sich einbilden.
Wer oben ist, hält sich für intelligent. Wie sollte er sonst nach oben gekommen sein? Ein von Brauchitsch, dem der alte schlesische Name und der Herr Papa in die Steigbügel halfen, wird glauben, er hätte es auch alleine schaffen können. Wer aber Gündüz oder Rzymkowski heißt, möchte trotzdem oder sogar gerade deswegen ein Auskommen haben. Gündüz und Rzymkowski wünschen den anonymisierten Bewerbungsbogen nicht, weil sie sich ihrer Namen schämten, sondern weil sie beweisen wollen, wie wenig sie sich ihrer zu schämen brauchen. Jede Emanzipation dringt auf eine Anerkennung von Namen; die Unterdrückten wollen, dass sie irgendwann als die, die sie sind, angesprochen werden.

Doch Angesprochenwerden ist auch ein Fluch. Mit dem Namen vollzieht sich nicht nur die Ein- oder Ausbürgerung, sondern eine tief reichende ideologische Unterwerfung. Das Kind ist oft noch gar nicht auf der Welt, schon wird ihm der Name zugedacht, auf den es künftig zu hören, die Identität, in die es hineinzuwachsen, das Schicksal, dem es sich zu beugen hat. »Mit Sicherheit sind es Namen, die ›Geschicke‹ formen«, bemerkte der Philosoph Louis Althusser. Mit dem Namen sind Zuschreibungen aller Art verbunden, angefangen mit dem Geschlecht. Der individuelle Name scheint zu sagen: »Sei du selbst!«, meint aber doch: »Sei wie wir.«
Dass der Name eine solch überragende Bedeutung erlangt hat, ist eine bürgerliche Erscheinung. Vorbürgerliche Gesellschaften kannten nicht den individuellen, nur den generischen Namen. Man kannte den X als den Hufschmied, die Y als die Krämerstochter. Damit war eine strenge Festlegung getroffen. Der X ist vermutlich nur deshalb Hufschmied geworden, weil sein Vater auch schon einer war, und die Krämerstochter konnte vielleicht den örtlichen Fleischer heiraten, aber weder den Bürstenbinder noch den Landvogt.
Wer heute Schmied oder Krämer heißt, muss nicht mehr Schmied werden oder sich krämerhaft betragen. Je mehr sich die Entwicklungsmöglichkeiten differenzieren, umso mehr verblasst die Eigenbedeutung des Namens. Er scheint nun nichts mehr festzulegen. – Und genau das ist die große Täuschung, denn die Individuation ist nur eine komplexere und deshalb schwerer durchschaubare Sozialisierung. Früher wurde der Zwang vom Vater, heute wird er von der Kommunikationsgemeinschaft weitergegeben. Sie bestimmt nicht nur die Wege, sondern auch die Gedanken. Vor der Untersuchung über den Nachteil, Kevin zu heißen, konnten manche sogar annehmen, sie lebten nicht in einer Klassengesellschaft.
Nicht nur die, die anders heißen als die meisten und die Oberen, fallen gern auf die Illusion herein, die der individuelle Name suggeriert. Karl Arsch stellt sich vor, er wäre etwas ganz Besonderes, deshalb inseriert er jetzt bei Facebook. Zwar wird jeder Besucher seiner persönlichen Seite gefragt: »Nicht der Karl Arsch, nach dem du gesucht hast?«, aber er redet sich damit heraus, er sei doch wohl der einzige unter allen seinen Namensvettern, der auf U2 und Arno Schmidt steht. Die Illusion der Individualität verdrängt die Tatsache, dass es, mit Gertrude Stein gesprochen, immer Tausende gibt, die »genau wie er gemacht sind«.
Diese harmlose Eitelkeit geht unter den heutigen Bedingungen nicht selten nahtlos in eine Geschäftsanbahnung über. Der Freiberufler, der sich im Internet, oft mit einer eigenen Homepage, vorstellt, sucht nicht Freunde, sondern Auftraggeber, am liebsten – wir befinden uns im Land der Familienunternehmer – befreundete Auftraggeber. Aus dem Namen wird eine Visitenkarte. Alle Welt soll nun erfahren, dass er nicht nur Schmidt liest und U2 hört, sondern die englische Sprache fließend und außerdem die höhere Bürosoftware beherrscht. Die Kommunikation dieser Leute ist eine fortwährende Initiativbewerbung.
Während also Karl Arsch mit seinem Namen und seinem Profil hausieren geht, müssen sich Gündüz oder Rzymkowski vorerst noch verstecken und dürfen höchstens auf den Tag hoffen, an dem sich die dumpfen Deutschen an sie ebenso gewöhnt haben werden wie zuvor schon an Cem Özdemir und Horst Schimanski. Doch egal, ob der Name stolz präsentiert oder anonymisiert wird, Namenspolitik läuft in beiden Fällen darauf hinaus, früher oder später Anerkennung zu erfahren und so Teil eines Systems zu werden, das ausbeutet und unterdrückt. Wer erkannt werden will, ahnt nicht, welche Zwänge dieses Erkennen mit sich bringt und welche Seligkeit darin läge, unerkannt zu bleiben.