Ein Buch über das geheime Archiv des Warschauer Ghettos

Wie ein Keil unter dem Rad der Geschichte

Eingesperrt im Warschauer Ghetto, legte der jüdisch-­polnische Historiker Emanuel Ringelblum ein umfangreiches Untergrundarchiv an, das den Alltag im Lager ­dokumentiert. Der amerikanische Historiker Samuel D. Kassow hat die Geschichte des Archivs und seines Leiters rekonstruiert.

September 1946. Ein paar Leute graben in den Trümmern der Nowolipki-Straße in Warschau in den Kellern des ehemaligen Ghettos. Am 18. September ist es schließlich soweit: Metallkisten und Milchkannen werden geborgen, darin befinden sich Teile des Untergrundarchivs »Oyneg Shabes« (»Freude des Schabbath«), wie das Geheimarchiv des Warschauer Ghettos hieß. Seine Bergung kommt einer Sensation gleich. Nur wenige Menschen wussten überhaupt, wo der Leiter des Archivs, Emanuel Ringelblum, die Kisten und Kannen versteckt hatte – und fast keiner dieser Wissenden hatte die Deportation in die nahe gelegenen Konzentrationslager überlebt. Mit Ausnahme von Hersh Wasser, dem Sekretär des Archivs, der sich 1946 an der Suche beteiligte. »Hätte Wasser die Ausgrabungen nicht angeleitet, wäre das Archiv wahrscheinlich nie wiedergefunden worden«, schreibt der Historiker Samuel D. Kassow in seinem soeben erschienenen Monumentalwerk »Ringelblums Vermächtnis«.
Auf knapp 800 Seiten rekonstruiert Kassow nicht nur die verschärften Arbeitsbedingungen, unter denen das Archiv entstanden ist. Das Buch erzählt auch am Beispiel der Biografie Ringelblums die Geschichte der osteuropäischen Juden und deren sozialistischem Sonderweg. Zudem bietet es eine detaillierte Chronik des Ghettolebens. Komprimierte Lektüre also.
Ringelblum kam 1919 als junger Historiker aus Galizien nach Warschau und gehörte der linken Poalei Zion an, einer Partei, die jüdische Identität und Marxismus zusammenbrachte. Die Partei verschaffte »der zionistischen Idee eine solide Verankerung im linken Spektrum«, so Kassow. »Der Bund warb unablässig für sein Ideal eines doikayt (Hier und Jetzt), eines rückhaltlosen Bekenntnisses zu den jüdischen Massen, der jiddischen Sprache und zu ihrem Kampf um eine demokratische, sozialistische Gesellschaft in Polen.« Einer der wichtigsten Lehrer Ringelblums, der Historiker Ber Borochow, forderte bereits 1913 in einem Aufsatz, das Jiddische müsse von der Straße in die Universitäten hineingetragen werden – ein Ansatz, den auch das Ghettoarchiv als Bewahrer einer dem Untergang geweihten Kultur auszeichnen sollte. Borochow war Anhänger eines »unsentimentalen Zionismus«: Nicht die Sehnsucht nach Zion, sondern allein wirtschaftliche Zwänge machten seiner Ansicht nach das Drängen der Juden nach einer Heimat in Palästina notwendig. Denn »den eigentlichen Kern des jüdischen Problems machte nach Borochows Überzeugung die verhängnisvolle Kombination von wirtschaftlicher Verwundbarkeit und Exterritorialität aus. (…) Da den Juden ein eigenes Staatsgebiet fehlte, konnten sie weder die Zentren der Produktion kontrollieren noch sich eine strategische Posi­tion in der erstarkenden Arbeiterbewegung sichern.«
Aus den Texten Borochows zog Ringelblum zwei entscheidende Schlussfolgerungen. Zum einen: Es fehlt eine jüdische Geschichtsschreibung, die eine materialistische Perspektive einnimmt. Zum anderen: Nicht die Religion allein macht die Juden einzigartig, es gilt also, den »Werktagjuden« ebenso wie den »Sabbatjuden« historisch zu erforschen. Beide Punkte bildeten die Basis bei der Gründung eines Archivs, das die Vielfalt jüdischen Lebens zumindest schriftlich in all seinen Facetten bewahren sollte, bevor es komplett verschwunden war.
Gustawa Jarecka, Mitarbeiterin im Judenrat, verfasste Texte für das Archiv, bevor sie 1943 mit ihren beiden Kindern nach Treblinka deportiert wurde. »Der Bericht«, schrieb sie über die Aufgabe des Untergrundarchivs, »muss wie ein Keil unter das Rad der Geschichte geklemmt werden, um es zum Stehen zu bringen.«
Die katastrophalen Lebensbedingungen sollten unmittelbar dokumentiert werden, denn das Gedächtnis sei trügerisch, so Ringelblum, besonders wenn man im Ghetto leben muss. Sehr leicht kommt es gerade hier zu Traumatisierung oder Verklärung. »Als im Juli 1942 die Deportationen nach Treblinka einsetzten, erschien vielen die Ghettohölle von 1941–42 wie eine ›gute alte Zeit‹.« Notwendig war es also, Alltagserlebnisse direkt zu erfassen. Auf diese Weise entstand eine Chronik, die zeigt, dass das Ghetto wie ein Mikrokosmos der Gesellschaft aufgebaut war, vom Postamt bis zur eigenen jüdischen Polizei, von den berüchtigten Desinfektionsbädern bis zu den Straßenmusikern. Im Wissen darum, dass all dies kein »Danach« erfahren wird, kämpfte Ringelblum darum, »das ›Jetzt‹ und das ›Vorher‹ zu konservieren«.
Und wer half dabei, all das Wissen zu sammeln? Das Archiv wurde von einer Gruppe von Männern und Frauen zusammengetragen, die ein breites Spektrum polnischer Vorkriegsjuden repräsentierte, vom Handwerker bis zum Rabbiner, vom Lehrer bis zum Journalisten. Zu ihnen gehörte auch Peretz Opoczynski, der Postbote des Ghettos. Er wäre viel lieber Schriftsteller geworden und eignete sich daher als idealer Informant für das Oyneg Shabes. Er kam als einer der wenigen innerhalb des Ghettos überall hin und hatte zudem das Talent, all das, was er dort vorfand, in Worte zu fassen. »In der Zeit, in der er als Postbote durch die Straßen ging und an viele Türen klopfte, um Briefe zuzustellen, erfuhr er aus erster Hand von den Problemen, Sorgen und Spannungen im Ghetto und begegnete den Charakteren und Figuren, die das jüdische Warschau zu so einem bunten Ort gemacht haben: Chassidim, polnisch sprechende Ärzte, jüdische Arbeiter, Schmuggler, Hausfrauen, Nachbarn und Freunde.« Seine Berichte aus dem Ghetto wurden von Jahr zu Jahr finsterer, schließlich war es kaum mehr möglich, Post zuzustellen, da Hunderte von Menschen in ihren Exkrementen in den Korridoren der Häuser lagen und die Hauseingänge verstopften. Adresslisten oder Briefkästen gab es keine – und selbst wenn ein Adressat ausfindig gemacht wurde, konnte der Betreffende die 30 Groszy Zustellgebühr oft nicht zahlen, die ein Brief mit bisweilen über­lebenswichtigen Informationen und Dokumenten kostete. Die Situation eskalierte: Viele hassten und beschimpften den Briefträger als Ausbeuter und Nazi-Kollaborateur, während er – selbst bettelarm – häufig bei Nachbarn um Kleingeld betteln ging, um Briefe zustellen zu können.
Es sind solche Alltagserzählungen, mit denen Ringelblum und seine Mitarbeiter einen der grausamsten Zeitabschnitte der Geschichte festgehalten haben. Als Intellektueller und Archivar war Ringelblum selbst wiederum ein stoischer Charakter, der die Unvermeidbarkeit des Untergangs voraussah und im Archiv kanalisierte. Hierzu passt, dass er noch 1939, kurz vor Kriegsbeginn, als Gastteilnehmer auf dem 21. Zionistischen Weltkongress in Genf, den Weltverlauf fast fatalistisch kommentierte und seine Zeit lieber dafür nutzte, in Antiquariaten zu stöbern. Zu diesem Zeitpunkt, so scheint es, war Ringelblum bereits ein Sozialist, der seinen Glauben an gesellschaftliche Veränderung auf unbestimmte Zeit vertagt und die Hoffnung auf das Humane in sein Archiv verlegt hatte. Einer der traurigsten Sätze des Buches lautet: »Das Oyneg Shabes hatte mehr Erfolg damit, Dokumente zu erhalten, als Menschenleben zu retten.«
Ringelblum wurde 1944 von den Deutschen irgendwo in den Ruinen des Ghettos erschossen.

Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karl Heinz Siber. Rowohlt Verlag, Hamburg 2010, 752 S., 39,95 Euro