Die Reaktionen der EU auf die Abschiebungen von Roma aus Frankreich

Die Methode Sarkozy

Der französische Präsident will den Streit mit den europäischen Institutionen über die Roma-Politik seiner Regierung nutzen, um sich innenpolitisch als »Verteidiger der Nation« zu profilieren. Damit nähert er sich den Rechtsextremen an.

Es passiert nicht häufig, dass die der KP nahe stehende französische Zeitung L’Humanité und die Financial Times Deutschland etwas bis in den Wortlaut hinein identisch bewerten. Vergangene Woche aber waren sie sich einig: Nicolas Sarkozy sei »beim Lügen auf frischer Tat ertappt« worden, befanden beide Blätter. Angesichts der Angriffe, denen Frankreichs Abschiebepolitik gegen EU-Bürger beim EU-Gipfel am Donnerstag voriger Woche ausgesetzt war, suchte Sarkozy nach Verbündeten. Solche fand er vorläufig nur in Silvio Berlusconi, dessen rechtspopulistischem Koalitionspartner, der Lega Nord, und einigen Mitgliedern der tschechischen Regierung.
Die Ausweisungen aus Frankreich betreffen vor allem Roma aus Bulgarien und Rumänien. Die Tatsache, dass es sich um Staatsangehörige von EU-Mitgliedsländern handelt, rief zu Anfang vergangener Woche die EU-Kommission in Brüssel auf den Plan. In deren Namen kündigte die europäische Kommissarin für Justizwesen und Bürgerrechte, Viviane Reding, die Einleitung eines Verfahrens gegen Frankreich wegen Verletzung der EU-Verträge an. Wenn Frankreich seine Politik nicht korrigiert, und danach sieht es derzeit nicht aus, wird die Kommission die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg bringen. Im Falle einer Verurteilung droht der französischen Regierung eine empfindliche Geldbuße. Bei einer Zuspitzung des Konflikts könnten sogar Frankreichs Stimmrechte in EU-Gremien zeitweilig ausgesetzt werden. Seit den heftigen Schlagabtäuschen auf dem Brüsseler Gipfel am Donnerstagabend zeigt die EU-Kommission sich jedoch um Deeskalation bemüht.

Ursprünglich plante sie, ein Verfahren gegen eine Anordnung des französischen Innenministeriums einzuleiten, weil diese explizit die Roma als Ziel von Räumungsmaßnahmen und Ausreiseverfügungen benennt. Da dies als offene Diskriminierung aufgrund der »ethnischen Zugehörigkeit« eingestuft wird, nahm das Ministerium den Runderlass kurz nach dessen Bekanntwerden zurück. Am 13. September ersetzte Innenminister Brice Hortefeux ihn durch eine Anordnung, welche die »ethnische« Zugehörigkeit nicht mehr ausdrücklich erwähnt. »Sinn und Absicht unserer Politik stehen nicht in Frage, nur die Formulierung war problematisch«, sagte Sarkozy. Seit vorigem Donnerstag will die EU-Kommission jedoch Frankreich nicht länger wegen »Rassendiskriminierung« verfolgen, sondern nur noch wegen »schlechter Umsetzung« der EU-Richtlinie zur Freizügigkeit von 2004.
Viviane Reding hatte auf der Pressekonferenz die französische Politik als »eine Schande« bezeichnet und aufgebracht hinzugefügt: »Enough is enough!« Sie habe gedacht, eine solche Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie wieder erleben zu müssen.
Die Abschiebungen von rumänischen und bulgarischen Staatsbürgern ist eine eklatante Verletzung von Grundprinzipien der EU – der Freizügigkeit und Ablehnung von Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Zumal die zahlreichen Ausweisungen und »freiwilligen« Ausreisen tatsächlich auf eine Logik der Kollektivbestrafung einer sogenannten ethnischen Gruppe zurückzuführen sind. Nach Auseinandersetzungen zwischen »Landfahrern« (gens du voyage) und Polizei im zentralfranzösischen Dorf Saint-Aignan Mitte Juli startete Sarkozy die Offensive gegen »Zigeuner«. Dabei mischte er zwei Bevölkerungsgruppen zusammen, die er für Kriminalität verantwortlich machte, die jedoch, außer einer mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Abstammung und einigen kulturellen Elementen, kaum etwas miteinander gemeinsam haben. Die gens du voyage leben seit dem 15. Jahrhundert in Frankreich. Die Roma begannen hingegen seit rund 20 Jahren aus Südosteuropa zuzuwandern. Auf einem spektakulär inszenierten Gipfeltreffen Ende Juli wurde nun ein schärferes staatliches Vorgehen gegen beide Bevölkerungsgruppen angekündigt.
Dass Viviane Reding in ihrer Erklärung auch auf den Zweiten Weltkrieg anspielte, ging in den Augen vieler ihrer Kollegen zu weit. Die französische Politik nutzte die Gelegenheit, sich als Opfer einer Verteufelung durch einen ungerechtfertigten Nazi-Vergleich aufzuspielen und sich bitter zu beklagen. Viviane Reding selbst nahm diesen Teil ihrer Äußerung zurück, sofern er als Gleichsetzung der französischen Abschiebepraxis mit NS-Verbrechen verstanden werde, was sie nicht beabsichtigt habe. Kommissionspräsident José Manuel Barroso präzisierte, einen Nazi-Vergleich finde er falsch, ansonsten aber spreche Viviane Reding »für die gesamte Kommission«. Auch die deutsche Bundesregierung unterstützte die EU-Kommission. Historische NS-Vergleiche seien nicht gerechtfertigt, aber in der Sache sei »keinerlei Diskriminierung gegenüber ethnischen Minderheiten« rechtens, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert auf einer Pressekonferenz.
Der französische Minister für EU-Angelegenheiten, Pierre Lellouche, der Sarkozys Partei UMP angehört, meinte, er habe keine Lust, »sich wie ein kleiner Junge behandeln« und von der EU an den Ohren ziehen zu lassen. Frankreich sei »ein souveräner Staat« und »ein großes Land«, fügte er hinzu. Mit anderen Worten: die EU-Kommission habe sich nicht einzumischen. Lellouche ist der Ansicht, die EU-Kommission habe weder die Aufgabe noch das Recht, sich zum »Wächter der Einhaltung der EU-Verträge« aufzuspielen. Allerdings ist genau diese Rolle der Kommission in den europäischen Vertragen festgeschrieben.
Das Gipfeltreffen fand hinter verschlossenen Türen statt, doch Teilnehmer erzählten, Sarkozys Attacken und der darauf folgende Streit mit Barroso seien draußen sehr deutlich zu hören gewesen.
Ob nach diesem Zusammenstoß zwischen dem französischen Präsidenten und führenden EU-Politikern Sarkozys Popularität im eigenen Land wachsen wird, steht in den Sternen. Zwar hatten in der Vergangenheit französische Politiker Konflikte mit den europäischen Institutionen inszeniert, um innenpolitischen Nutzen daraus zu ziehen. Aber nie ging es dabei um so fundamentale Werte wie dieses Mal. Durch die Abschiebepolitik sehen auch immer mehr Franzosen republikanische und universalistische Prinzipien verletzt. Anfang September demonstrierten dagegen über 150 000 Menschen in 150 französischen Städten, davon rund 40 000 in Paris.

Wie sich die öffentliche Meinung in Frankreich entwickeln wird, ist derzeit noch unklar. Sarkozy kann versuchen, die in der französischen Bevölkerung verbreiteten Ressentiments gegen die EU zu nutzen, um sich zu profilieren. Ein Hauptgrund dafür, dass die EU in Frankreich nicht nur positiv betrachtet wird, liegt in ihrer Wirtschaftspolitik: Bei der Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen und sozialer Vorsorge koordinieren die nationalen Regierungen ihre Vorgehensweise bevorzugt in Brüssel.
Die französischen Rechtsextremen nutzten die Attacken der EU gegen Sarkozys Roma-Politik, um die europäische Integration anzugreifen. Die EU sei »totalitär«, kommentierte Marine Le Pen vom Front National die Ankündigung, eine Vertragsverletzung durch Frankreich zu untersuchen. Sie warf Sarkozy vor, nur mit folgenlosen Verbalprotesten auf die Anmaßungen der »europäistischen Ayatollahs« zu reagieren.
Im Unterschied zur extremen Rechten muss das regierende bürgerliche Lager grundlegende »Werte« und Prinzipien der europäischen Integration anerkennen. Einige französische Rechte wären jedoch zu einem Bruch mit manchen dieser Grundsätze bereit.
Vor 20 Jahren, im April 1990, organisierten französische konservative Rechte einen Kongress zum Thema Einwanderungspolitik. Der Ausrichter der Veranstaltung, ein aufstrebender bürgerlicher Jungpolitiker namens Nicolas Sarkozy, sprach sich damals explizit dafür aus, in Frankreich auch »legal« und dauerhaft lebende Ausländer vom Zugang zu Sozialleistungen auszuschließen. Diese sollten unter den Vorbehalt der Staatsangehörigkeit gestellt werden. Diesen Vorschlag hatte zuerst der Front National formuliert, bei dem dieses Prinzip als préférence nationale, also »Bevorzugung der Inländer«, bekannt ist. Einen deutlicheren Verstoß gegen geltendes europäisches Recht kann man sich kaum vorstellen.
Sarkozy war es auch, der im Juni 1998, nachdem der frühere Premierminister Edouard Balladur die Einrichtung einer Kommission zum Thema »Bevorzugung der Inländer« verlangt hatte, explizit erklärte: »Die préférence nationale darf nicht länger ein Tabu sein.« Als Präsident muss Sarkozy sicherlich stärkere Rücksichten nehmen. Dennoch ist er offenbar gewillt auszutesten, wie weit er gehen kann.
Auch mit seinen extremen Vorschlägen seit Ende Juli – von der Kollektivbestrafung der Roma bis zu den Plänen, straffällige Franzosen »ausländischer Herkunft« auszubürgern – hat Sarkozy sein politisches Register vermutlich noch nicht völlig ausgeschöpft. Die Protagonisten der europäischen Politik ahnen dies. Deswegen werden sie ihn wohl im Auge behalten.