Jungle World gratuliert: 20 Jahre deutsche Einheit

Das Ende der Freiheit

»20 Jahre ist es bereits her, als für uns Deutsche ein Traum wahr wurde.« Recht hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihren Worten. 20 Jahre deutsche Einheit – Zeit zu gratulieren. Begeisterte Autorinnen und Autoren der Jungle World entrichten ihre staatsbürgerlichen Glückwünsche und loben die vielfältigen Vorzüge und großartigen Errungenschaften der Wiedervereinigung.

Die Schlagkraft der Arbeiterklasse wurde durch die Vereinigung der Proletarier aller Deutschländer entscheidend gestärkt. Mit Angela Merkel (FDJ, Pionierorganisation Ernst Thälmann) haben die Werktätigen sogar eine zuverlässige Genossin aus ihrer Mitte an der Staatsspitze etablieren können. Der Kommunismus ist also quasi zum Greifen nahe. Danke, Helmut!
Alex Feuerherdt

Schön war es: Das Publikum, das in westdeutschen Kleinstädten bei jeder Demo Stockschirme schwingend auf dem Bürgersteig stand, um ein schmissiges »Geht doch nach drüben!« zu krakeelen, tat das auch noch Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Noch schöner war, dass man unter den Skandierenden manchmal Figuren entdecken konnte, deren hilfloser Gesichtsausdruck zu sagen schien: »Bitte, bitte, gebt uns eine neue Parole! Unser CDU-Ortsverein ist zu dumm dafür.«
Katharina Wiedey

Wir sprechen nicht gerne darüber, aber die beste Wochenzeitung der Galaxis verdankt ihre Existenz der Wiedervereinigung. Denn ohne die Wiedervereinigung hätte die Junge Welt gewiss keine Linken ohne SED-Parteibuch angeheuert. Die wertvolle Erfahrung, dass man nicht gemeinsam mit ehemaligen Stasi-Majoren eine Zeitung produzieren kann, wäre nie gemacht worden. Es gäbe die Jungle World nicht. Deshalb danken wir unserem IM Helmut Kohl für die Geburtshilfe.
Jörn Schulz

Das Schönste an Deutschlands Wiedervereinigung ist, dass Mathias Döpfner als Chef des Springer-Konzerns so tun muss, als ob er den Anblick seines freien Mitarbeiters Wolf Biermann länger als drei Sekunden ertragen könnte.
Gerhard Henschel

Die deutsche Einheit hat eine neue literarische Gattung hervorgebracht: den Wenderoman. Manche Erzeugnisse dieser Gattung sind sehr schön zu lesen, und es wäre schade, hätte es den Anlass für sie nie gegeben.
Tanja Dückers

Der deutschen Einheit sind die »Verkehrsprojekte Deutsche Einheit« zu verdanken: Auf neuen, makellosen, die Stoßdämpfer schonenden Autobahnen kann man heutzutage vom Westen oder von Berlin aus schnurstracks und hochgeschwind nach Polen fahren – vorbei an unansehnlichen, ostdeutschen Browntowns und ihrer Bevölkerung.
Francis Klein

Der nach der Einheit einsetzende Massen­exodus aus der ehemaligen Zone ist ein Segen für das Land: Endlich entsteht Raum für größere verwilderte Flächen, erstmals können wieder Wölfe ansässig werden, auch für die ostdeutschen Reptilien- und Amphibienpopulationen ist die Entwicklung erfreulich. Jetzt müsste man Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt einfach nur weiter schön langsam ausbluten lassen, dann könnte man sogar an die Wiederansiedlung von Bären denken. Obwohl die es ja gern hügelig und waldig mögen. Na gut, dann müssen wir eben auch Bayern opfern, das wäre nur gerecht.
Heiko Werning

1. Sportlich gesehen: Die Einheit ist super, weil seitdem die bundesdeutsche Fußballherrenauswahl kein Spiel mehr verloren hat. Hat der Beckenbauer ja 1990 nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft angekündigt: »Durch die Wiedervereinigung und die Spieler der DDR wird Deutschland auf Jahre unschlagbar sein!« Ach, das ist gar nicht so gekommen? Blöd aber auch.
2. Lokalpatriotisch gesehen: Die Einheit ist toll, weil sonst Michael Ballack immer noch beim FC Karl-Marx-Stadt und nicht bei Bayer Leverkusen spielen würde. Das jedoch wäre bitter für den 1. FC Köln: Ohne Ballack würde Leverkusen einfach zu gut spielen.
3. Sarkastisch gesehen: Die Einheit ist klasse, weil die Mitteldeutsche Zeitung sonst immer noch Freiheit heißen und nicht einem Kölner Verleger gehören würde.
Pascal Beucker

Der deutschen Einheit verdanken wir, dass zwischen Oder und Elbe alle Industriegelände wieder grün sind und unbestritten der Natur gehören, wir verdanken ihr den schönen Biomarkt am Prenzlauer Berg und die herrliche Stille im Rostocker Hafen. Alles ist lebendiger, alle haben rote Wangen, Heimat ist wieder ein gutes Gefühl. Die Welt ist ganz doll schön. Prima!
Jörg Sundermeier

Seit der Einheit sehen die Filme besser aus. Früher drehten Regisseure, wenn sie die Tristesse des deutschen Alltags zeigen wollten, im Ruhrgebiet. Das immergleiche Panorama mit stillgelegter Industriekulisse war auf Dauer ermüdend. Mit der Wiedervereinigung kamen die ästhetisch glaubwürdigeren Alternativen: marode Plattenbaulandschaften, verödete Tankstellen und Parkplätze, menschenleere Dörfer. Filme mit diesem Setting werden von den Franzosen mit dem Prädikat »Nouvelle Vague Allemande« geadelt, das deutsche Publikum schaut natürlich weiterhin lieber Komödien mit Til Schweiger.
Martina Mescher

Seit der deutschen Einheit sind Ostdeutsche und Westdeutsche ausgiebig damit beschäftigt, sich gegenseitig zu hassen. Das ist eine überaus feine Sache. Man stelle sich nur einmal vor, die eigenen Landsleute stünden den Deutschen nicht für die Triebabfuhr zur Verfügung: Der Rest der Welt hätte ein größeres Problem mit Deutschland, als er es jetzt hat. Scheiß Ossi, scheiß Wessi – in dieser Form ist der furor teutonicus vergleichsweise harmlos.
Markus Ströhlein

Das Gute an der deutschen Einheit? Endlich können auch Westfrauen Sex mit Ostmännern haben, die unter 65 Jahre alt sind.
Jessica Zeller

Was gut ist, grundsätzlich: ein Staat weniger; ferner: Verbreitung von Rotstern-Schokoladentäfelchen mit Märchenmotiven. Allegorisch sinnfällig und hübsch: das Überleben des Ostfernseh-Sandmännchens und seiner nörgelnden Clique.
Roger Behrens

Infolge der Wiedervereinigung entstand hierzulande ein einzigartiges Kulturdenkmal, das sich in seiner gegenwärtigen Form und Ausprägung nur in einem geeinten Deutschland entwickeln konnte und als Bestandteil des kulturellen Erbes der Menschheit dringend erhalten und in die »Rote Liste des gefährdeten Welterbes« aufgenommen werden muss, da es »ein einzigartiges oder zumindest außergewöhnliches Zeugnis von einer kulturellen Tradition oder einer bestehenden Kultur darstellt« und, »für einen Zeitraum oder in einem Kulturgebiet der Erde, einen bedeutenden Schnittpunkt menschlicher Werte in Bezug auf die Entwicklung von Architektur oder Technologie, der Großplastik, des Städtebaus oder der Landschaftsgestaltung aufzeigt« (Unesco): In Deutschland existiert heute weltweit die größte Ansammlung von Möbelhäusern, Porno-Videotheken, Nagelstudios, Satellitenschüsseln, Wurstimbissbuden, Nazi-Parteizentralen und Analphabeten auf engstem Raum.
Thomas Blum

Errungenschaften der Einheit? Klar! Die Einheit hat den Ossis den Kapitalismus und mir damit viele, viele Freunde geschenkt. Mit den schlecht angezogenen Kindern aus dem grauen Realsozialismus, die uns um unsere bunten Matchbox-Autos und Barbie-Puppen beneideten – no way, mit denen konnte man schlicht nicht befreundet sein. Heute dagegen haben viele von ihnen tolle iPhones, schicke Klamotten, und wenn man Glück hat, haben sie sogar ein Auto, das man sich mal leihen kann. Und wenn sie, was wirklich selten vorkommt, knauserig damit sein sollten, erinnert man sie einfach kurz daran, wer ihnen damals so großzügig den kaputten Matchbox-Abschleppwagen geschenkt hat. Die heutigen Ossis geben echt super Freunde ab! Danke, Helmut!
Daniel Steinmaier