Missbrauchskandal in der belgischen Kirche und die Reaktionen der Politik

Der Hirte will versöhnen

Ein Report über sexuellen Missbrauch durch Priester sorgt in Belgien für Empörung. Die Geistlichen geben sich reumütig, wollen aber die Aufarbeitung unter kirchlicher Kontrolle halten.

Nach dem großen Krach zog es den guten Hirten zu seiner Herde. »Ich muss jetzt bei meinem Volk sein. In diesen schweren Tagen will es mich sehen«, sagte Johan Bonny. So begab sich der Bischof von Antwerpen früh an einem trüben Sonntag Mitte September ins Städtchen Merksem, um die Messe zu lesen. »Unsere Liebe Frau der Schmerzen« heißt die Kirche. Ein passender Name, denn nur 48 Stunden zuvor enthüllte der Report einer Expertenkommission, dass sich Belgiens katholische Geistliche zwischen 1950 und 1980 rund 500 Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder hatten zuschulden kommen lassen. Von Schmerzen ist seither viel die Rede, vom Leid der Opfer, aber auch vom »Schmerz und Verdruss« der Kirche, über die der Bischof predigte.
Die Veröffentlichung des 200seitigen Dokuments der Kommission Adriaenssens, benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem Kinderpsychiater Peter Adriaenssens, ist der bisherige Höhepunkt eines Skandals, der seit Monaten der katholischen Kirche des Landes zu schaffen macht. Der Bericht dokumentiert die Schwere der Vergehen, die Aussagen bezeugen Oral- und Analverkehr oder erzwungene Masturbation. Zahlreiche Opfer trugen seelische Schäden davon, 13 von ihnen begingen Suizid, sechs weitere unternahmen Versuche. Für Aufsehen sorgt auch die weite Verbreitung des Missbrauchs, der in allen Bistümern vorkam. Peter Adriaenssens sprach in Anlehnung an den gleichnamigen pädophilen Serienmörder von der »Dutroux-Affäre der Kirche«.
Neu indes ist das alles nicht. »Es passierte überall. Jede katholische Schule kannte das Phänomen. Ich kenne noch alle Namen von den Priesterlehrern unserer Schule, von denen wir wussten, dass sie es taten, mit Jungen oder Mädchen«, berichtet ein Leserbriefschreiber in der Tageszeitung De Morgen. Zudem publizierte der inzwischen pensionierte Priester Rik Devillé bereits in den neunziger Jahren über den Missbrauch seiner Amtskollegen. Devillé konfrontierte die Bischöfe und den Kardinal mit den Aussagen der Opfer und wurde deshalb geächtet. Nie zuvor aber wurden die Zeugnisse Betroffener in diesem Umfang öffentlich bekannt gemacht.

Das immense Medienecho auf den Adriaenssens-Reports zwingt den Klerus nun zu Reaktionen. So präsentierte Erzbischof André Léonard Anfang vergangener Woche seinen Plan. Ein »Zentrum für Anerkennung, Heilung und Versöhnung« wolle die belgische Kirche errichten, gab er auf einer Pressekonferenz bekannt. Zum Jahresende soll es seine Arbeit aufnehmen, um die Missbrauchsfälle aufzuarbeiten. Details konnte Léonard noch nicht nennen. Weiteren Opfern stehe aber vorläufig eine Institution zur Verfügung, die sie »in aller Diskretion durchverweist an die richtigen Instanzen«. Wie eine Zusammenarbeit mit der Justiz aussehen soll, blieb ebenfalls unklar. Deutlich ist jedoch, dass sich die Kirche als vorgeschaltete Kontaktstelle versteht.
Vieles ist in Aufruhr geraten im katholischen Belgien, seit die Kommission Adriaenssens im April ihre Arbeit aufnahm. Am Anfang stand der Fall des Brügger Bischofs Roger Vangheluwe, der einen Neffen von dessem fünften bis zum 18. Lebensjahr missbrauchte. Vangheluwe gestand und trat zurück, die mit Abstand meisten Meldungen gingen in den Wochen danach ein. Später tauchten Berichte über ein weiteres Opfer auf. Die Fall Vangheluwe gilt als symbolisch für den Skandal, der pädophile Bischof wurde zum Synonym des »Kinderschänderpfaffen«, wie der Psychiater Adriaenssens den vertrauenswürdigen Aufklärer verkörpert.

Just diese filmkompatible Gut-Böse-Konstellation zeigt die gesellschaftliche Kontinuität, in der der Skandal steht. Adriaenssens fachliche und moralische Integrität stehen außer Zweifel. Bezeichnend aber ist, dass ein Psychiater hier in die Rolle des Staats schlüpft. Der Justiz steht nicht allein die strafrechtliche Verjährung sexuellen Missbrauchs im Weg, die in Belgien zehn Jahre nach der Volljährigkeit des Opfers eintritt. Auch die kaum gebrochene Macht der katholischen Kirche vor allem in Flandern, wo etwa 90 Prozent der Meldungen eingingen, trägt dazu bei.
Der Vorschlag, ein »Zentrum für Heilung und Versöhnung« zur internen Aufarbeitung des Missbrauchs zu gründen, klingt absurd, anmaßend ist die Bezeichnung »Plattform des Vertrauens«, und geradezu provokant ist es, wie selbstverständlich diese Vorschläge aus dem Mund des Erzbischofs kommen. Dennoch entspricht dies nicht nur den Bedürfnissen der Kirche, sondern wohl auch vieler Betroffener. Auch im 21. Jahrhundert scheinen sich die Opfer, die zum allergrößten Teil im fortgeschrittenen Alter sind und geschlossenen katholischen Milieus entstammen, mit ihrer Geschichte bei einer kirchlichen Stelle besser aufgehoben zu fühlen als im staatlichen Rechtswesen.

Dieser Konflikt prägte auch die Tätigkeit der Kommission Adriaenssens, in der Wissenschaftler, Sozialarbeiter, ein Priester, ein Kirchenjurist und ein säkularer Rechtsexperte saßen. Nach Berichten, denen zufolge die Kirche weitere Missbrauchsfälle vertusche, ordnete ein Brüsseler Untersuchungsgericht im Juni Hausdurchsuchungen bei einem ehemaligen Kardinal, im erzbischöflichen Palast und bei der Kommission an. Sämtliche Dossiers wurden dabei beschlagnahmt. Aus Protest traten Adriaenssens und seine Kollegen geschlossen zurück. Das Vertrauen zur Justiz sei zerstört, sagte der Vorsitzende, die Kommission habe dem Staat nur als Lockvogel gedient. Im August erklärte die Brüsseler Staatsanwaltschaft die Durchsuchung bei der Kommission für unrechtmäßig. Bei der Präsentation des Reports betonte diese, dass ihre Arbeit nicht fertiggestellt werden konnte.
Ausdruck des gespannten Verhältnisses ist auch eine Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft, mit dem neuen kirchlichen Zentrum nicht zu kooperieren. Dominique Debrauwere, Generalanwalt am Berufungsgericht Gent, nuanciert diese Entscheidung im Gespräch mit der Jungle World: »Unser Standpunkt bleibt, dass die Justiz absoluten Vorrang hat. Dennoch kann es Kontakt zu einer solchen Stelle geben, und eine spätere Zusammenarbeit ist nicht ausgeschlossen. Dazu braucht es eine Brücke, wie die Kommission Adriaenssens eine war. Aber die Justiz dient einer Sache und die Kirche einer anderen.«
Die politischen Parteien haben verschiedene Vorschläge gemacht. Diese reichen von der Präsentation des Adriaenssens-Berichts im Parlament über die Beauftragung eines Expertengremiums, das sich des Skandals annimmt, bis hin zur Gründung einer »Wahrheitskommission«. Deutlich ist indes die Stellungnahme der von dem klerikalen Dissidenten Rik Devillé gegründeten Arbeitsgruppe »Menschenrechte in der Kirche«: »Wir wollen keine neue Kommission im Schoß der Kirche. Die Täter müssen von der Justiz bestraft werden, ob Verjährung oder nicht. Wir wollen nicht vergeben.« Für den Fall, dass die Justiz nicht eingreift, befürchtet die Arbeitsgruppe: »Mit den Tätern wird dasselbe passieren, was schon seit Jahrzehnten passiert: Versetzung.«