Vorabdruck aus dem Buch »Haut und Knochen«

Ein kleiner Klumpen Leben

Die Wahrheit heißt Hunger, Zwang, Angst, Scheiße. Armut heißt, niemals allein zu sein. Von seinem Leben in deutscher Kriegsgefangenschaft und dem Geruch seiner Zeit erzählt Georges Hyvernaud

Das allerschlimmste sind die Klosetts. Wenn ich ein prägnantes und mustergültiges Bild des Glücks zeichnen will, denke ich an Klosetts. Klosetts, umgeben von weißen Wänden, hell gekachelt und mit einem Riegel davor. Würdevoll sitze ich auf dem Ring aus lackiertem Holz, in meiner Würde als freier Mensch. Inmitten einer undurchdringlichen, köstlichen Stille sitze ich. Einer weißen, glänzenden, cremigen Stille. An der Wand ist ein gekachelter Kasten befestigt, aus dem ein rechteckiges Stück Toilettenpapier ragt. Über meinem Kopf hängt eine Kette mit einem Steingutgriff. Ich sitze. Ich habe reichlich Zeit und alle Freiheit der Welt. Ich kann Selbstgespräche führen, Gedichte lesen. Oder über die Unsterblichkeit der Seele nachdenken, wenn ich Lust dazu habe …
Hier sind die Klosetts eine in widerlichem Braun getünchte Baracke, mit einer Tür, die nicht schließt, und zerschlagenen Fensterscheiben. Drinnen sechzehn Sitze, acht auf der einen, acht auf der anderen Seite. Und auf den Sitzen Spuren von getrockneter Scheiße. Man lässt sich nebeneinander, Rücken an Rücken, nieder. Sechzehn Typen auf sechzehn Sitzen, einer neben dem andern, alle gleich, die der Arbeit ihrer Gedärme lauschen. Jeder mit einem Stück Papier in der Hand, wie Fräuleins, die sich anschicken, in einem Salon zu singen. Sie strengen sich gemeinsam an, freudlos, sorgenvoll, während sich ihre Geräusche und ihre Gerüche vermengen. Wieder andere pissen an die geteerte Wand. Ein kleines Rinnsal aus schaumigem Urin fließt zu ihren Füßen. Und dann sind da noch die, die sich die Wartezeit mit Geschichten über ihre Familien oder Verstopfungsprobleme vertreiben. Brüderlichkeit des Stacheldrahts. Brüderlichkeit in Gestank und Blähungsgeräuschen. Alle vereint in einem Geplätscher aus Worten, Urin und Eingeweiden. Hin und wieder erhebt sich jemand und wischt sich, während er mit einer Hand seine Hose hält, mit der andern sorgfältig den Hintern ab. Der nächste bitte. Man schubst sich um das Loch herum. Man regt sich auf: Beeilt euch ein bisschen, verdammt.
Wie gern würde ich von etwas anderem sprechen. Von heiteren Dingen. Von heiteren jungen Mädchen, dem Blick einer alten Dame oder einer Pappel am Wegesrand. Von einem Gedicht, einem Schal, einem Gemälde von Matisse. Doch all das existiert nicht mehr. Es ist vorbei damit. Es gibt keine Farben, Laub oder Blicke mehr. Alles wurde von einer unförmigen Katastrophe geschluckt. Alles ist hin. Es gibt nur noch diese Baracke, in der man sich zuhauf erleichtert, diese Baracke inmitten einer zerstörten Welt. Alles ist leer und tot. Und inmitten von Leere und Tod ist nur noch dieser Zufluchtsort der gemeinschaftlichen Darmentleerung übrig …
– Ich ekle mich am meisten vor den Wanzen, sagt Ure, meine Haut lockt sie an.
Ich betrachte seine Haut: eine weiche Haut, irgendwie wandfarben. Die Wanzen haben komische Vorlieben. Aber es stimmt, hier wimmelt es nur so von Wanzen. Man braucht nur ein Brett hochzuheben oder ein Stück Pappe, schon sieht man sie weghuschen. Und nachts denkt man an nichts anderes. Man stellt sich einen unaufhaltsamen Marsch von Wanzen vor, entlang der Wände, entlang der Betten. Ein unbezwingbares und stummes Gewimmel von Wanzen. Ein systematisches und unendliches Gedränge schwarzer Insekten. Die Nacht ist nur noch dieses Gewusel aus Wanzen. Dieser unerschöpfliche Strom flacher Insekten, kleiner flacher, dreckiger Tiere mit ihrem süßlichen Geruch. Die sich einmütig und unaufhörlich auf Ures graue Haut zubewegen, auf Vignoches Haut, Troncs Haut, Pimbards Haut, meine Haut, auf sämtliche ziegelstein-, tabak- und salatfarbenen Häute zu, auf alles, was unter den Häuten steckt, das Blut, das unter der Haut fließt, auf die nutzlosen Häute nutzloser Männer zu, die Häute, die keinen anderen Zweck und keine andere Rechtfertigung mehr haben, als den triumphierenden Bestand der Wanzenwelt zu sichern.
Trotzdem lässt sich durch die Klosetts unsere Lage treffender beschreiben. Treffender als durch die Wanzen. Es ist vollständiger, aussagekräftiger. Mit einer Spur Verrücktheit, einem Schuss krassen Humors. Will man sich dessen, was uns zugestoßen ist, ganz und gar bewusst werden, muss man sich nur Hintern an Hintern in den Latrinen hinkauern. Das nämlich haben sie aus uns gemacht. Und wir dachten, wir hätten eine Seele oder sowas ähnliches. Wir waren stolz drauf. So konnten wir auf die Affen und den Kopfsalat hinabschauen. Wir haben keine Seele. Wir haben bloß Eingeweide. Wir füllen uns, so gut es geht, und anschließend gehen wir uns entleeren. Das ist unsere ganze Existenz. Wir faselten was von unserer Würde. Wir stellten uns vor, wir wären was Besonderes, wir wären wir selbst. Doch jetzt sind wir die Anderen. Wesen ohne Grenzen, alle gleich, vermengt, im Geruch ihrer Exkremente. Gefangen in einer gärenden Marmelade aus Männern. Durchmischt, umgewälzt, verloren und vergoren darin. Gleichheit und Brüderlichkeit der Scheiße. Wir hatten unsere Probleme. Wir waren stolz auf unsere Probleme, unsere Ängste. Jetzt sind wir auf nichts mehr stolz. Und es gibt auch nur noch ein einziges Problem: essen, und anschließend einen Platz finden, wo man seinen Hintern auf die verdreckten Bretter setzen kann. Sich füllen, sich entleeren. Und immer zusammen, öffentlich, gemeinschaftlich. In der Unterschiedslosigkeit der Scheiße. Man ist nicht mehr man selbst. Man ist Teil jenes kollektiven und mechanischen Ungeheuers, das den ganzen Tag lang um die Abortgrube herum entsteht.
Wenn die Schriftsteller ihre Bücher über die Gefangenschaft verfassen, sollten sie die Klosetts beschreiben und über sie nachdenken. Nichts weiter. Das wird genügen. Sorgfältige Schilderungen der Klosetts und der Männer auf den Klosetts. Wenn die Schriftsteller ernstzunehmende Typen sind, sollten sie sich nur daran halten. Weil dies das Wesentliche ist, der wichtigste Akt, das perfekte Symbol. Aber wie man sie kennt, die Schriftsteller, werden sie wieder mal um ihre Würde bangen. Um ihre Männlichkeit. Um ihren Anstand. Sie werden die Klosetts nicht erwähnen. Sie werden von Schicksalsprüfungen reden, von Erneuerung durch das Leid. Oder von seelischer Kraft, wie dieser Dämlack, der einen Brief an Monsieur Paul Valéry geschickt hat. Komische Idee übrigens, die er da hatte. Denn was ist schon zu erwarten von einem vertrockneten, feinnervigen und offiziellen Greis, dem die Banalität wirklichen Leidens gänzlich unbekannt ist? Der bedeutende Mann hat geantwortet. Ich habe seine Antwort gesehen: fünfundzwanzig maschinegeschriebene Zeilen plus eigenhändige Unterschrift. In denen er uns mitteilte, wie froh er sei, dass die seelische Kraft uns aufrecht hält. Das muss ihm tatsächlich Freude bereitet haben. Muss ihn beruhigt, ihn aufgerichtet haben. Denn die seelische Kraft ist nun mal seine Sache. Und wenns mit der seelischen Kraft hinhaut, hauts mit dem Rest auch hin … Bloß seelische Kraft: das sind so Sachen aus Büchern. Sowas existiert nicht. Unmöglich, die beiden Wörter auszusprechen, ohne einen Lachanfall zu kriegen. Hier, auf dem Klo. Zwischen all den Typen mit runtergelassener Hose, die vor Kälte mit den Zähnen klappern. Diesen gallertigen, weichen, angefaulten Typen. Nacktschnecken, Maden. Was die aufrecht hält, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich jenes Beharrungsvermögen, jenes hartnäckige Festhalten der Lebenden am Leben, das die syphilitischen Tuberkulösen und Krebskranken daran hindert, sich im Fluss zu ertränken. Aber bestimmt nicht seelische Kraft.
Seltsam: sobald man anfängt zu schreiben, hat man das Bedürfnis zu lügen. Es überkommt einen. Das Bedürfnis, die Dinge vorteilhaft erscheinen zu lassen. Und sperrt man sich dagegen, gilt man als unmoralisch und subversiv. Schon die Kinder in der Schule wissen das. Fordert man sie beispielsweise auf, einen Abend zu Hause zu beschreiben, präsentieren sie einem sogleich einen weißbärtigen Großvater, eine Schwester, die im Schein der Lampe stickt, und einen Vater, der nach getaner Arbeit Zeitung liest. Es ist unschuldig und rosig, es ist sanft, kuschelig, erbaulich und rührend. Und nicht einer kommt auf den Gedanken, von der Sauferei zu erzählen, den Ohrfeigen, dem Fraß, der Flasche mit Rum auf einem Stuhl, dem Lager, auf dem zu sechst geschlafen wird. Nicht einer erzählt davon, wie er frierend und ängstlich im Dunkeln hockt, wie er auf einer klebrigen Treppenstufe sitzt und Geräusche durch die Tür hört, oder von den Huren, die einen Freier mitnehmen und ihn im Vorbeigehen fragen, was er hier treibt. Sie haben die Spielregeln verstanden, die Kleinen. Intuitiv beteiligen sie sich an der universellen Verschwörung gegen die Wahrheit. An der guten alten literarischen Heuchelei. Sie haben das große Geheimnis der Schriftstellerei sofort durchschaut …
Man wird schöne Sachen über die seelische Kraft der Gefangenen veröffentlichen. Und von den Klosetts schweigen. Dabei sind die das Wichtige. Diese Grube voller Scheiße und das Wirrwarr von Jammergestalten. Die ganze Erniedrigung der Gefangenschaft steckt darin, und die Geschichte, das Schicksal. Darüber würde ich gern mal ein Buch schreiben. Ganz schlicht und aufrichtig. Ein trostloses Buch, das nach Klo riechen würde, und jeder müsste es riechen und würde darin den unerträglichen Geruch seines Lebens wiedererkennen, den Geruch seiner Zeit. Und diese Zeit müsste ihm wie eine Melasse aus gedanken- und knochenlosen Wesen erscheinen, Wesen, die sich auf den Klos drängen, die sich wie wir füllen und entleeren, mit großem Ernst, endlos, ziellos. Sinn und Unsinn der Zeit würden darin sichtbar, lesbar, offenkundig. Aber so was könnte nur ein Kerl schrei­ben, der um einiges robuster ist als ich. Ein Kerl von wildem, kindlichem und edlem Schlag. Ich aber bin nur ein armseliger Typ, der schreibt, um die Zeit totzuschlagen. Und der Mistkerl hat auch noch ein hartes Leben.
Um meine Blätter auf eine Ecke des Tisches legen zu können, habe ich Gemüseabfälle und Blechdosen weggeschoben. Um mich herum ists wie immer. Chouvin singt sein Lied. Die Kartenspieler spielen Karten. Ich schreibe. Die beharrliche Arbeit eines Nagetiers. Ich schreibe ein Wort, dann noch eins. Eine bescheidene, geduldige, endlose Beschäftigung, wie die von Rosenkranzbeterinnen oder alten Strickmamsells. Ich betrachte die Kartenspieler. Regungslose Gesichter, flinke Hände. Und in ihren Händen die bunten Rechtecke, die aufgefächert und wieder zusammengeschoben, gemischt und ausgetauscht werden. Ein endloser Tanz. Die Finger berühren und befühlen die Bilder, verteilen sie, greifen nach ihnen und ordnen sie neu. Von dieser Art Spiel habe ich keine Ahnung. Ich versteh mich nur aufs Schreibspiel. Ich sehe die Wörter, die eins nach dem andern entstehen und das weiße Blatt allmählich mit einem Insektengewimmel, einem Gewirr aus Flügeln, Beinchen und Fühlern überschwemmen. Tronc sagt: Ich bin raus. Tronc sagt: Kreuz, zwei Karo, zwei Herz. Tanz der Hände und Tanz der Wörter. Zweimal Herz. Herzen, die sich suchen, aneinander reiben, sich entfernen. Tanz der Karten und Tanz der Herzen. Peignarde bläst die Backen auf und gibt leise pff pffs von sich. Auf die Art denkt er nach. Geheimnis ihrer Ratlosigkeit. Vignoche wühlt träge in seinem Haar. Seine Hand ist wie jene aufgedunsenen Tiere, die zwischen Felsen in einem Brei aus Algen und Wasser treiben. Ich schreibe. Eine Flut schwarzer, flacher Insekten ergießt sich langsam über die Seite. Tronc sagt: Wenn ich meinen Buben oder die Dame anspiele, kommt ihr mit dem As raus, und der König geht flöten. Dann lacht er, und alle lachen mit. Geheimnis ihres Gelächters und ihrer Rituale. Ich schreibe Wörter, Wort für Wort, Wort für Wort, Wörter, die wieder andere Wörter nach sich ziehen, Wörter, die Dinge in mir hochholen, von denen ich nicht wusste, dass sie dort sind, was wiederum Wörter über Wörter ergibt. Um die Zeit totzuschlagen. Wie Tronc Karten spielt. Wie Chouvin vor sich hin singt. Wie der kleine Baude in seiner Ecke seine deutsche Grammatik lernt, fahren, fuhr, gefahren. Wie andere den ganzen Tag lang Zeugs aus Holz oder Aluminium zusammenbasteln. Auf diese Weise zerbröseln sie die Zeit in winzige Tätigkeiten, in kleine Gewohnheiten, in sinnlose Handlungen. Damit unser Leben zu Staub zerfällt. Und wenns vorbei ist, sofern es je vorbei sein wird, so viele Monate, so viele Stunden, wird nur noch ein kaum wahrnehmbarer Staub zurückbleiben.
Auch Lesen ist eine ziemlich gute Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen. Es gibt Typen, die lesen den ganzen Tag. Bücher, die reihum gehen, speckige und zerfledderte Schwarten. Die allen gedient haben. Sie sind zigmal zusammengeflickt und ausgebessert worden, sind ausgefranst. Voller Fettflecke und Bleistiftstriche. Trostlose Bücher, über denen sich Gott weiß was für obszöne Träumereien abgespielt haben. Trostlos wie die Straßen, die Mauern. Wie alles, das abgewetzt und abgenutzt ist, von allen verschmutzt. Wie der Körper eines Mädchens, über den sich alle gewälzt haben. Wir lesen alles. Bücher für Lehrlinge und Hausfrauen. Ob dieses oder ein anderes, was spielt das für eine Rolle? Bei den Büchern sind wir genauso anspruchslos wie bei unseren Gefährten vom Klo. Wir lesen um des Lesens willen. Um uns zu betäuben, uns aufzulösen, uns zu verlieren. Um uns loszuwerden. Um uns dem gleichförmigen Zauber der Zeichen zu überlassen. Der Macht der Zeichen, die schwarz auf weiß vorankriechen, unerschöpfliche Zwergmassen inmitten wiedererblühender Ebenen, ein endloser schwarzer Nieselregen, schwarzes Getrommle der Sekunden in der Leere der Zeit.
Kein schöner Anblick, Lesende. Ihre armseligen Visagen wirken wie die von Mondsüchtigen oder Sonderlingen. Am liebsten würde man sie wachrütteln, sie aus ihrer verstörten Verzückung reißen …
Wäre ich fähig, jenes unerbittliche und wahrhaftige Buch über die Welt der Gefangenen zu schreiben, hätte es Leser wie diese hier. Mit solchen Mienen, blind und verschlossen. Pimbard, die taube Nuss, würde es lesen. Einen Augenblick lang vertiefe ich mich in die Betrachtung von Pimbard. Ich betrachte meinen Leser Pimbard. Er ist Unterinspektor bei den Wasserwerken. Er hat Bedeutung und Meinungen. Er sagt, man dürfe sein Alter nicht verleugnen, und Freundschaft würde auf Ehrlichkeit beruhen. Er liebt schweinische Romane. Das hat er mir mit seinem dünnen, verhuschten Lächeln anvertraut. Und dann hat er hinzugefügt: »Aber ich mag auch Krimis.« Ich frage mich, was aus meinem Buch in Pimbards Hirn werden würde. Er hat ein aufgedunsenes Gesicht, keine Stirn, fast keine Augen – zwei trübe Pfützchen. Und auch fast kein Gehirn: man stellt sich irgendwas Rundes, Vertrocknetes vor, versteckt und verloren wie ein Kern in einem Apfel. Was kann schon aus Büchern werden darin? Welch komisches kleines Werk sie dort verrichten müssen.
Und schon beobachtet mich Pimbard mit seinem sumpfigen Blick. Er ist neugierig, was ich da schreibe. Vielleicht denkt er, einen Roman. Nein, du Dummerle, keinen Roman. Weder Leichen noch Bettszenen. Ich lasse Tronc, Vignoche und den kleinen Baude darin vorkommen. Und dich. Und die Klos, auf denen du mit den anderen zweimal am Tag deinen kleinen Teil an Exkrementen abdrückst. Gute Romane könnte ich bestimmt auch schreiben. Das kann jeder. Es ist eine Technik geworden, die sich erlernen lässt. Es gibt Rezepte und Tricks dafür – innerer Monolog und so. Nur interessiert mich das nicht. Mich interessiert, ohne Beschönigung von dem matten Unglück zu erzählen, jenem dummen Unglück, in dem wir hocken. Von den schmutzigen Brettern, auf die du deinen Hintern eines Unterinspektors pflanzt. Wenigstens wird alles klar, wenn man dieses Unglück miterlebt. Alles, was man vor uns versteckt gehalten hatte. Man hat uns an die Moral glauben lassen, an Museen, an Kühlschränke, an die Menschenrechte. Die Wahrheit aber ist der erniedrigte Mensch, der Mensch, der nicht zählt. Vorbei die Zeit der Phrasen. Die Wahrheit heißt Hunger, Zwang, Angst, Scheiße. Wie zu den schlimmsten Zeiten. Sie liegen noch nicht hinter uns, die schlimmen Zeiten. Es ist hübsch, ihr Europa. Jene Typen, die sich mit aufgefetztem Bauch schreiend zwischen kaputten Maschinen im Schnee wälzen. Jene Sklaven, die mit dem Gewehrkolben über die Straßen getrieben werden. Und wir, die wir hier verkommen sollen, in diesem schäbigen und trostlosen Barackendorf inmitten eines Europas aus Schnee und Dunkelheit.
Wir sind dreißig auf der Bude. Es riecht nach heißem Fett und Pfeifenqualm. Es ist voll von Geschrei und Gehuste. Na hör mal, sagt Ure, du kommst aus Rennes und kennst den Nesles-Turm nicht? Chouvin singt Lieder. Wir sind hier dreißig zusammengepferchte Männer. Dreißig ineinander verschlungene Existenzen, ein Paket Würmer. Super Weiber, sagt Ure. Trumpf und noch mal Trumpf, sagt Peignade. Die Wörter treiben in einem Wörternebel dahin. Chouvin singt. Er hat ein strenges Gesicht, mit dem schönen, blonden Stutzbart eines Soziologen. Chouvin, Ure, Peignade. In einer Ecke der kleine Baude, der seine deutsche Grammatik runterbetet. Pimbard, der Romane liest, die nach Keller und dreckiger Wäsche riechen. Ein kleiner Klumpen aneinanderklebender Leben. Der sich regt und bewegt. Trumpf und noch mal Trumpf, fahren, fuhr, gefahren. Pochon ist wütend, weil er sein Essgeschirr nicht findet. Welches Arschloch hat mein Essgeschirr geklaut? Männer, die beisammen hocken. Männer, die zusammen essen, verdauen, rülpsen und schnarchen. Die zusammen aufs Klo gehen. Wenn ichs dir doch sage, ich habs nicht, was soll ich mit deinem Essgeschirr? Ure gibt wieder Puffgeschichten zum Besten. Chouvin singt:

Amelie, die KleineVersprach mir dreizehn feineHärchen ihres Hinterteils,draus web ich mir ’n Winterpelz.

Und so singt es in mir in einem fort. Amelie, die Kleine. All die Wörter, die um mich herumschwirren. Die in mich eindringen. Wörter wie Fliegen, die sich nicht fangen lassen. Die kleine Amelie. Die kleine Amelie. Das bleibt an einem kleben. Das kommt immer wieder. Dreckszeug. Gegen Wörter kann man sich nicht wehren. Die kriegt man nicht los, immer wieder leiert man sie stumpfsinnig herunter. Baudes Wörter, Peignades Wörter. Chouvins Wörter. Die kleine Amelie. Die Bordelle, in denen Ure seine Hosen runtergelassen hat. All das dringt in mich ein und macht sich breit. Unmöglich, sich davor zu schützen. Wir sind alldem ausgesetzt, offen für jeden und alles. Man könnte uns auf den Schädel schreiben: Entrée libre, wie an den Türen von Geschäften, in denen jeder das Recht hat, alles anzutatschen. Bloß keine Hemmungen. Nur zu. Dabei werden eine Menge Leute behaupten, die Jahre in Gefangenschaft seien eine Zeit der inneren Sammlung gewesen. Diese Zeit, in der man den anderen ausgeliefert ist. Verurteilt zu den anderen. Verurteilt zu Vignoche und Pochon. Die Zudringlichkeit der anderen ist so stark, dass man nicht mehr weiß, was man ist, ob man überhaupt noch was ist. Überall Mensch. Permanente Berührungen und Reibungen zwischen Mensch und Mensch. Die Hintern der andern an meinem Hintern. Die Lieder der anderen in meinem Kopf. Der Geruch der anderen in meinem Geruch. Das macht uns zu Gefangenen, mehr als Wachleute und Stacheldraht. Zu Gefangenen von Gefangenen – den anderen.
Ich habe lange das Elend umkreist. Manche Leute suchen, sobald sie in eine Stadt kommen, nach der Kathedrale, dem Friedhof oder den Puffs. Eine Frage des Geschmacks. Ich bin immer in Richtung Armenviertel gegangen. Das zog mich an. Die schwarzen Fassaden, die Lumpen an den Fenstern, die heruntergekommenen Gestalten, die einem nachschauen... Auf Renaissancebauten oder Kirchen aus dem 18. Jahrhundert pfeif ich. Durch Martinville aber bin ich stundenlang gestreift. Martinville ist ein Viertel in Rouen. Einer der trostlosesten Orte, die ich kenne. Wer Armut sehen will, muss durch Martinville spazieren. Richtig echte Armut, schön authentisch, schön fettig, schön vom Alkohol und der Syphilis gezeichnet. Armut für Kenner. Ich habe all das beobachtet und aufgesogen. Nicht aus Liebe zum Pittoresken: von allen Romantikströmungen erscheint mir die Romantik des Drecks die unverschämteste zu sein. Sondern aus einer besorgten Neugier heraus, die aus der Kindheit kommt, oder von noch weiter her als der Kindheit. Armut ist eine Zwangsvorstellung und eine Bedrohung für die Menschen meines Schlags. Unsereins war nicht arm. Mein Vater verdiente gut, hieß es immer. Doch es war ein zerbrechliches Glück. Man durfte sich nicht darauf verlassen. Die Armut war nicht weit. Das Unglück ist nie weit, wir mussten uns kleinmachen und still sein, damit es uns vergaß. Seit jener Zeit erscheint mir die Armut wie eine ganz nahe, aber unbekannte und unverständliche Realität. Sie haben ihre Geheimnisse, die Armen. Und eine ganz eigene Art, den Ahnungslosen anzusehen. Eine ganz eigene Art der Verachtung. Man sieht sie von außen. Wie Kranke. Und man möchte verstehen, wie es für sie, die drinnen sind, ist. Wie sies anstellen, im Innern ihrer Armut. Verstehen, was Armut heißt, wenn man sie sieht und wenn man mitten in ihr lebt.
Aber jetzt ist alles klar, ich stecke drin. Ich bin ein Armer. Mein ganzer Besitz besteht aus einem bisschen zerschlissener Wäsche, einem Löffel, einem Messer. Und dem Feldbecher aus Aluminium, in den ein früherer Besitzer zwei Blumen und den Vornamen einer Frau geritzt hat. Er stammt aus einem Soldatenlied. Ich trage die abgelegte Kleidung von Armen. Meine Gesten sind die von Armen. Ich sammle Reste von Bindfäden und alte Büchsen, weil alles von Nutzen sein kann. Jeden Tag reihe ich mich wieder in die lange Schlange von Männern ein, die auf ihr Essen warten. Jeder kommt dran. Wenn ich dran bin, halte ich mein Essgeschirr hin. Man schüttet etwas Rüben, Graupen oder Kohl hinein. Dann ist der nächste dran. Ich werde mich auf mein Bett setzen. Demütig, ein Armer, esse ich meine Armensuppe. Und mein Bett besteht aus drei Brettern mit einem dünnen Strohsack und einer schmutzigen Decke obendrauf. Und nachts ist es voller Wanzen.
Man gewöhnt sich an diese Dinge. Armut heißt nicht Entbehrung. Armut heißt, niemals allein zu sein. Das wird mir jetzt klar, wo ich auf der anderen Seite stehe. Der Arme hat kein Recht auf Einsamkeit. Er wird im Entbindungsheim geboren, zusammen mit anderen. Und mit anderen stirbt er im Krankenhaus. Zwischen Krippe und Hospiz liegen Kinderhort und Irrenanstalt, Knast und Kasernen. Von Anfang bis Ende muss er sein Leben in Gemeinschaft verbringen. Man spielt im öffentlichen Sand der Plätze und auf dem Bürgersteig. Man schläft zu zehnt im selben Raum. Man rempelt sich in Treppenhäusern und Gängen an. Die Armut ist voller Wände, Treppenhäuser und Gänge. Die Türen schließen schlecht. Die Wände trennen nicht. Jeder x-beliebige kann beim anderen reinkommen, um sich hundert Sous zu leihen, einen Topf zurückzubringen oder sich einfach nur zu setzen und, die Hände auf den Knien, von seinen Sorgen zu erzählen. Und man weiß nicht einmal, wo »beim anderen« beginnt und wo es endet.
In genau dieser Lage befinden wir uns hier. Wir stoßen an die anderen wie an die Wände einer Zelle. An die schmutzigen anderen. Immer da mit ihren Liedern und deutschen Grammatiken. Vignoche, Faucheret, Pimbard. Trumpf und noch mal Trumpf. Nichts mehr für sich. Fahren, fuhr, gefahren. Man möchte nachdenken, träumen. Aber die anderen machen einem die Träume kaputt. Mit ihrem Gerede, ihren Liedern, ihren Wutanfällen. Nichts zu machen. Man wird nicht mehr träumen. Man kann sich nur noch den anderen überlassen, es wie sie machen, mit ihnen. Sich füllen, sich entleeren. Reden, zuhören. Pimbard zuhören, der sagt: Über Geschmack lässt sich streiten. Beuret zuhören, der sagt: Man muss dem Leben einen Sinn geben. Beuret ist ein äußerst belesener Typ. Hat immer große Namen parat. Ein Typ mit Brille und einer langen geschwollenen Nase. Er zitiert Nietzsche, Pascal, Kant, Gide. Man könnte sie für Metrostationen halten. Pochon flucht wie ein Bierkutscher. Der nervt uns langsam mit seinem Essgeschirr. Pascal, Gide, die kleine Amelie. Wenn Beuret sich richtig ins Zeug legt, ist man für eine ganze Weile beschäftigt. Der Sinn des Lebens. Geschmacksfragen. Nietzsche, Pascal. Eine eintönige, unterirdische Reise. Ein absurdes Gemurmel, unterbrochen von gelegentlichen Lichtblicken. Es führt zu nichts, und es ist immer dasselbe. Fahren, fuhr, gefahren. Dieser Beuret füllt das gesamte Zimmer mit seinem energischen Monolog. Er vermehrt sich. Im Zimmer wimmelts von Beurets. Alle gleich, mit langen Nasen und Brillen. Und dann der andere mit seiner Über-Geschmack-lässt-sich-streiten-Nummer. Sicher lässt sich streiten. Über Geschmack, über Abgeschmacktheiten. Entweder man mag es oder nicht. Wir leben tropfenweise. Wir bewegen uns schrittweise. Dafür sind wir hier, um herumzulaufen, nicht um über Geschmack zu streiten, über Macken, den Zusammensturz, alles hat denselben Geschmack oder überhaupt keinen, alles dasselbe, man muss es nur laufen lassen, darf nicht streiten …
Beuret ist eine gute Seele. Er glaubt an den Sinn des Lebens und solche Sachen. Er war Volksschullehrer im Departement Jura. Seine Frau hat ihn wegen eines Handlungsreisenden sitzenlassen. Der Sinn seines Lebens heißt: Lehrer und Hahnrei sein. Mit seiner Brille und der triefenden Nase erinnert er mich an Duhamels Salavin. Auch so eine gute Seele, der Duhamel. Die Gefangenschaft von ihm geschildert zu bekommen, wäre sicher rührend. Ein Block aus Freundschaft und Sanftmut. Alle darin wären trunken vor gutem Willen, man würde in der wohltuenden Warmherzigkeit der Menschen baden. Früher bin ich auf diese alberne Rhetorik hereingefallen. Aber ich bin geheilt. Gute Seelen ertrage ich nicht mehr. Ich ertrage die anderen nicht mehr. Weder Beuret noch Pochon noch Vignoche. Vor allem nicht Vignoche, der mir die ganze Zeit was von seinem Onkel erzählt, einem Notar. Was schert mich, dass sein Onkel Notar ist? Vignoche sieht aus wie eine Dame aus einem Wohltätigkeitsverein. Immerfort zieht er die Nase hoch, schnief, schnief. Das ist widerlich. Ich ertrage ihn nicht. Keiner erträgt mehr einen andern. Manchmal scheinen wir uns gut zu verstehen. Wir lachen über dieselben Anzüglichkeiten. Wir zeigen uns Fotos von unseren Kindern. Spielen Karten. Doch unterschwellig macht sich Hass breit, ein geduldiger, vorsichtiger, leiser, akribischer Hass. Die verletzende Boshaftigkeit von Bürokraten oder alten Damen. Täglich feilt man an seinen Vorwürfen und Abneigungen, man frischt sie auf, vervollkommnet sie. Zwangsläufig. Das kommt von diesem nach Latrine riechenden Elend, in dem wir alle zusammen durchgewalkt werden, Hungerleider und Kummerleider. Man nimmts den anderen übel, dass man immer noch hier ist. Man nimmt ihnen ihre Visagen übel, ihre Stimmen, ihren Geschmack und ihre Abgeschmacktheiten, den Raum, den sie einnehmen, dass sie sagen, was sie sagen, dass sie singen, was sie singen, Nietzsche, die kleine Amelie, dass sie die Nase hochziehen, rülpsen, existieren. Man nimmt ihnen dieses unveränderliche, unvermeidliche Leben übel, in dem unser Leben auseinanderbricht. Und andauernd enden die Aversionen in überspannten Diskussionen. Ohne dass man wüsste, worum es eigentlich geht. Um einen Schemel, ein Essgeschirr, ein bisschen Tabak oder eine Scheibe Wurst. Bei der Wurst passierts immer. Die rühren wir ein- oder zweimal die Woche an. Es ist ein rötliches lackiertes Ding, eine Art enormer Phallus. Innen ist sie körnig und kackfarben. Wenn man sie aufteilt, findet immer jemand, er habe nicht genug abgekriegt, und beginnt rumzumeckern. Gucks dir doch an. Sofort mischen sich die andern ein. Ure, Peignade, Tronc, der Hahnrei, die Dame vom Wohltätigkeitsverein. Zeig mal dein Stück her, nun zeig schon! Sollen wir vergleichen? Fress ich dir vielleicht deine Wurst weg, es gibt Mistkerle, die wissen, wie mans anstellen muss, sind doch immer dieselben, die blöde dastehen, Schnauze, meinst du etwa mich damit, außerdem, wenn du unzufrieden bist, was gehts dich an, Schnauze, hast du verstanden … 
Diese Leute waren mal anständige Leute. Gediegenes Bürgertum, mit einem staatlichen Auskommen, Auszeichnungen, Diplomen. Inspektoren und Unterinspektoren, Direktoren und stellvertretende Direktoren. Sie hatten Bedeutung, Bauch, Prinzipien. Gute Manieren, eine gewählte Ausdrucksweise. Das edle Selbstbewusstsein gutsituierter Leute, die sich wohlfühlen in ihrer Kleidung, ihrer Haut, ihrem Leben. Ure hatte eine sogenannte lukrative Stellung im Lebensmittelhandel. Peignade ist irgendwas am Rechnungshof. Faucheret ist Dozent an der Uni. Tronc ist hoher Beamter. Jetzt sammelt Tronc Kippen vom Fußboden unserer Baracke auf. Er hat einen unfehlbaren Blick und schnappt sie sich ungeheuer flink. Peignade, Faucheret und die anderen gehen die Küchenabfälle durchwühlen. Wenn man sie ordentlich abschabt, lassen sich Reste von Essbarem zutage fördern, die wir anschließend in einer alten Konservendose kochen, mit Wasser und diesem Fett, das nach Kautschuk riecht. Wer zu den Armen gehört, darf nicht wählerisch sein. Stolz oder Würde sind ein Luxus glücklicher Leute. Wir sind Arme, weniger noch als Arme. So was wie Penner. Wie diese Arbeitslosen, die in den Städten vor den Geschäften herumlungern, lustlos, schicksalsergeben, nichtswürdig – jene komplett verlotterten, erledigten Menschen, die mit den Händen in den Taschen herumschlurfen; sie lutschen an ihrem Zigarettenstummel, mehr verlangen sie nicht. Wir sind diese Männer ohne Stolz. Ab einem gewissen Grad von Verelendung gibt man es auf, sich mit Gut und Böse auskennen zu wollen. Verboten, erlaubt, das bedeutet nichts mehr. Wörter, die zu einer anderen Sprache gehören, in eine andere Welt. Im Lichte der Armut wirkt alles anders. Man sieht die Dinge mit anderen Augen.

Georges Hyvernaud (1902–1983), der in seiner Heimat Frankreich als Lehrer gearbeitet hatte, verbrachte von 1945 an fünf Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft. 1949, nach seiner Heimkehr, erschien in einem kleinen Pariser Verlag sein erster Roman, »Haut und Knochen«, der Hyvernauds Gefangenschaft zum Thema hat. In Frankreich wurde von dem Buch bei seinem Erscheinen kaum Notiz genommen. Über den seinerzeit ausgebliebenen Erfolg des Romans, der nun erstmals ins Deutsche übertragen wurde und dieser Tage erscheint, schreibt die Übersetzerin Julia Schoch, die für ihre Arbeit mit dem André-Gide-Preis ausgezeichnet wurde: »Der Hauptgrund war zweifellos, dass das Buch in Widerspruch zu allem stand, was der politisch-literarische Betrieb der Nachkriegszeit erwartete. Von ehemaligen Kriegsgefangenen akzeptierte man erbauliche, realistisch erzählte Fluchtgeschichten, höchstens noch anschauliche Anekdoten aus dem harten Lagerleben. Hyvernauds Erzählung von Zerrüttung und Verfall aber kam gänzlich unheldisch daher.«

Der Abdruck der oben stehenden Passage erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Georges Hyvernaud: Haut und Knochen. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2010. 112 Seiten, 12,90 Euro.