Euro, Nation und Kapital

Europäisch national

Euro und EU sind Produkte konkurrierender europäischer Nationalstaaten. Diese versprechen sich vom Staatenverbund größeren Einfluss und einen Schub für das eigene Kapital. Darum sind sie bereit, Teile ihrer Souveränität abzugeben – im Interesse der Nation. Bleibt der Euro nach der Krise ein erfolgreiches Projekt, kann das zur Identifizierung mit Europa führen. Ein solcher neuer Nationalismus wäre das Gegenteil einer Aufklärung gegen die Nation.

Die Gründe für die europäischen Nationalstaaten, politisch eng zu kooperieren und eine Wirtschafts- und Währungsunion zu betreiben, werden gerne als Selbstverständlichkeiten abgetan. Doch die Debatte in der Jungle World hat gezeigt, dass sie so selbstverständlich nicht sind. Damit ist nicht Jürgen Trittins Beitrag (Jungle World 29/2010) gemeint, der die Diskussion eröffnete. Er macht sich den kapitalistischen Maßstab zu eigen, wenn er Wachstum und Handel als Argumente ins Feld führt, warum der Euro eine gute Sache sei. Ein wenig ökologischer und sozialer könnte die Währung zwar noch werden, aber es ist folgerichtig, dass Grüne einem Projekt, das der deutschen Ökonomie ausgezeichnete Entwicklungsmöglichkeiten beschert, die Daumen drücken.
Etwas anders sieht die Sache bei André Brie (31/2010) aus. Er betont im Gegensatz zu Trittin, dass die vergangenen 20 Jahre politökonomischer Entwicklung Europas den Lohnabhängigen nur wenige Vorteile gebracht hätten. Um das Ruder herumzureißen, brauche es eine linke Mehrheit gegen die neoliberale Politik. Der Euro, wie er ist, sei Ursache für den europaweiten Sozialabbau und andere europäische Übel. Einspruch! Worum es den kapitalistischen Staaten geht, ist die eigene Konkurrenzfähigkeit als attraktivster Standort. Über die WTO drängen sie außerdem auf den Abbau von Zöllen und Handelsbarrieren der Konkurrenten weltweit, um Absatzmärkte zu erschließen. Das ermöglicht Vergleichbarkeit und so direkteren Wettbewerb der teilnehmenden Staaten.

Die Sozialpolitik zählt als Kostenfaktor. Dennoch wird sie betrieben – unterschiedlich stark, je nach politischer und wirtschaftlicher Konjunktur –, um eine ausbeutbare Arbeiterklasse bereit zu halten. Wenn ein Staat unter verschärfter Konkurrenz weiterhin kapitalistisch und am liebsten in der ersten Reihe mitspielen will, dann tut man gut daran, die Sozialstandards nach unten zu korrigieren. Der Euro hat sicherlich geholfen, diesen Druck zu verstärken – aber gebraucht hat es ihn nicht für die schlechtere Versorgung von derzeit unbrauchbaren Arbeitern.
Die Konkurrenz der Mitgliedsstaaten untereinander ist in der EU nicht aufgehoben, sondern in bestimmte Bahnen gelenkt, sie wurde institutionalisiert. In der Debatte wurde bereits ausgeführt, warum das exportorientierte Deutschland davon am meisten profitiert. Nicht nur Deutschland, sondern alle Mitgliedsstaaten versprechen sich von der EU einen Gewinn. Aber diese Kalkulation kann nicht für alle gleichermaßen aufgehen. Trotzdem bleibt festzustellen, dass es bis heute noch keinen Austritt eines Mitgliedsstaates aus der EU oder der Eurozone gegeben hat. Auch Griechenland wurde nicht einfach von Deutschland gezwungen, sich auf die neuen Restriktionen für den eigenen Haushalt einzulassen, sondern es hat die harten Bedingungen akzeptiert, um in der Eurozone zu bleiben. Genau das wollte Griechenland offensichtlich.
Dabei gab es noch andere Wege. Doch ein Austritt aus der Währungsunion hätte die dann neu zu gründende griechische Währung wohl gleich zum Absturz gebracht. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, Griechenland seine Schulden zu erlassen. Aber auch das wäre keine einfache Lösung. Denn ein Schuldenerlass zöge das grundsätzliche Misstrauen nach sich, ob der griechische Staat überhaupt noch Schulden bedienen kann. Dies wiederum würde zu noch höheren Zinsen für Staatsanleihen führen. Die strikte haushaltspolitische Beschränkung wurde deshalb akzeptiert, weil die griechische Regierung hoffte, als Staat innerhalb des Euro-Raums trotz allem am besten weiterzukommen.

Diese Haltung teilt Griechenland mit den anderen Mitgliedsstaaten. Deren Vertreter setzen sich in Brüssel an den Verhandlungstisch, um ihre jeweiligen nationalen Interessen durchzusetzen (und nicht in erster Linie, um Deutschland einzubinden). Innerhalb der EU sind die Interessengegensätze nicht aufgehoben, sondern nehmen eine neue Form an. Das Abschaffen einer Vetomöglichkeit oder gleich die Vergemeinschaftung eines ganzen Politikbereichs bedeutet immer die Aufgabe von einem Stück Souveränität der Mitgliedsstaaten zugunsten der Gemeinschaft. Das zieht eine weitere Unterordnung unter die auf europäischer Ebene gefällten Beschlüsse nach sich. Damit wird der Staatenverbund gestärkt. Jeder Nationalstaat als Teil des Staatenverbundes hofft von dieser Stärkung zu profitieren.
Das macht jenen Hauptwiderspruch in der EU aus, der bei allen Verhandlungen eine Rolle spielt: Jeder Nationalstaat versucht seine Interessen durchzusetzen, muss aber die Mittel zur Durchsetzung dieser Interessen delegieren, damit es eine starke Union gibt. Dieser Widerspruch äußert sich in jedem entscheidenden politischen Streit: Am liebsten möchte jeder Staat selbst den größten politischen Handlungsspielraum behalten. Nur die anderen sollen Zugeständnisse machen. Wie viel ein Staat von seiner Position durchsetzen kann, hängt von seiner Machtposition ab. So ist es zwar richtig und politisch sympathisch, wenn Rainer Trampert (30/2010) und Anton Landgraf (33/2010) über Deutschlands Erfolge schimpfen. Aber das erklärt nicht mehr als das gesteigerte deutsche Interesse an EU und Euro – offen bleibt die Frage, warum sich der Rest der Union das gefallen lässt.
Das gilt so lange, wie auch für die anderen etwas dabei herauszuholen ist. Es geht also zuerst um den materiellen Erfolg des Projekts Europa. Und der steht außer Zweifel: Der Handel innerhalb der EU läuft zwischen den Krisen auf Hochtouren, und immer mehr Geschäfte weltweit werden in Euro abgewickelt. Auch tritt die EU nach außen zunehmend als Staatenblock auf und greift gelegentlich beim Weltordnen ein. Das schließt nach Innen eine Politik in gewohnter oder neuer nationaler Härte denjenigen gegenüber ein, die sich als Arbeiter fit zu halten haben.
Wenn die Ausbeutung entsprechend den globalen Konkurrenzanforderungen gestaltet wird und dabei erfolgreich ist, entwickelt die EU die materielle Grundlage für dasselbe Identifikationsangebot wie jeder Nationalstaat. Ein EU-Bürger, der dieses Angebot annimmt, überträgt den alten nationalen Fehlschluss einfach auf die europäische Ebene. Das Dazugehören qua Staatsbürgerschaft erscheint ihm nicht als Unterordnung, sondern als Ergebnis der kulturellen oder natürlichen Zusammengehörigkeit der Europäer. Das ist aber nicht der wirkliche Inhalt des Dazugehörens – weder nationalstaatlich noch in der EU. Menschen sind nur Material für Kapitalakkumulation und gelten überhaupt nur als Subjekte, wenn sie brauchbare politische oder ökonomische Charaktermasken für eine Nation abgeben.

Am Staatsbürgerdasein kann man schwerlich etwas ändern. Die Entscheidung, wer unter welchen Bedingungen zu einem Staat gehört, ist nicht Sache des Einzelnen, sondern des Staats. Aber ob man sich freiwillig und affirmierend in die Nation einreiht, ist durchaus eine Entscheidung des Passträgers. Diese Parteinahme wird von Nationalisten jedweder politischer Couleur getroffen. Sie erscheint als nationales Mitfiebern am Fußballfeld oder als selbstverständliche Annahme, dass der eigenen Nation natürlich der größte Gewinn zustehe.
Wer sich vorbehaltlos mit der Nation identifiziert, kann die Konkurrenz zu anderen Arbeitern im In- wie im Ausland nicht mehr hinterfragen. Sie erscheint gegeben. Damit ist die Tür für eine grenzenübergreifende Organisierung von Arbeitern, wie sie etwa Peter Jonas (35/2010) allein durch die Europäisierung der hiesigen Verhältnisse geöffnet sah, auch schon wieder zugefallen. Nicht erst die Hetze gegen »faule«, »prassende« Griechen hat diese Träume zum Platzen gebracht.
Deutschland, Europa – mit welchem der im Angebot stehenden Zwangskollektive man sich identifiziert, scheint mir nicht von großer Bedeutung, beides dient nicht der Emanzipation. Ob mit Europa oder mit Deutschland – davon hat die antinationale Sache soviel wie Atheisten von Gläubigen haben, die ihre Religion wechseln.
Wer sich nicht mehr nur mit der eigenen Nation identifiziert, sondern auch stärker mit Europa, vollzieht geistig die Konkurrenzstellung der EU gegen den Rest der Welt nach. Obendrein sitzt er oder sie dem Missverständnis auf, der europäische Erfolg helfe einem selber weiter. Die Europäisierung dieses Gedankens ist die Erweiterung des Radius und damit die Erneuerung des bestehenden Nationalismus. Identifikation mit Europa ist nicht nur keine Kritik am Nationalen – im schlimmsten Fall wird die europäische Idee dabei zum Katalysator für noch mehr Nationalismus. Ganz ohne Identifikation würde der EU etwas fehlen – wie jeder modernen Herrschaft. Wie sollte sie sonst die Zumutungen begründen, die sie ihren Freien und Gleichen auferlegt? Erst mit dieser brutalen Identifikation wird die Ignoranz gegenüber den Zumutungen für andere – seien es Hartz-IV-Empfänger oder Roma – und das Absehen von eigenen Bedürfnisse im Sinne nationaler Forderungen »sinnvoll«.

Die Autorin war von 1999 bis 2004 Mitglied im Europäischen Parlament. Sie hat das Buch »Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin? Ein EU-Handbuch« herausgegeben.