Über den Film »Fish Tank« von der britischen Regisseurin Andrea Arnold

Wie ein Fisch im Gras

Die britische Filmemacherin Andrea Arnold gilt als Nachfolgerin des Regie-Urgesteins Ken Loach. Mit ihrem Familien-Drama »Fish Tank« gelingt ihr ein kleines Meisterwerk des Kitchen-Sink-Realismus.

Man kennt das ja alles schon: graue Betonblocks, triste Sozialwohnungen, Langeweile, Streit, Alkohol, Chips und Dauerfernsehen. Das aggressive Herumgepöbel … Fuck, Bitch, Fuckin’ Bitch, Türenknallen, Drohungen und Schläge. Es sind die charakteristischen Merkmale eines Verwahrlosungsszenarios, wie man es unzählige Male schon im Kino des britischen Sozialrealismus gesehen hat, bei Mike Leigh etwa oder als menschenfreundliche Version in den Filmen Ken Loachs. »Fish Tank« von Andrea Arnold ist ein geradezu archetypisches Beispiel dieses ur-britischen Genres. Der Film spielt in Essex, östlich von London, in einer Sozialwohnungssiedlung. Mia, die 15jährige Heldin mit dem schräg in die Stirn fallenden Pony und den schwarz umrandeten Augen, ist gerade von der Schule geflogen, sie trinkt Hochprozentiges am liebsten direkt aus der Flasche und hat eine unbändige Wut in sich. Ihre Mutter Joanne (Kierston Wareing) will offensichtlich keine Mutter sein, sie schubst ihre Tochter herum wie eine jüngere Schwester, die nur stört und sie davon abhält, Spaß zu haben. Und auch mit Tyler (Rebecca Griffiths), der kleinen nervigen Schwester, die am liebsten mit ihren Freundinnen rauchend vor der Glotze hängt, liefert sich Mia deftige Wortgefechte.
Dass dieses Szenario nicht abgestanden, sondern erstaunlich unverbraucht und geradezu frisch wirkt, verdankt sich vor allem der widerborstigen Hauptfigur, die von der Laiendarstellerin Katie Jarvis hinreißend verkörpert wird. Ihr Spiel ist authentisch, und dennoch hat man nie das Gefühl, dass ihre Performance in Real-Life-TV abgleitet. Auch schafft es Arnold immer wieder, die Geschichte aus dem engen sozialrealistischen Milieu zu befreien. Etwa wenn Mia tanzt. Während die Mädchen aus der Nachbarschaft in engen Hosen und bauchfreien Tops nach Girlgroup-Vorbild lasziv ihre Hüften kreisen lassen, wirkt das zornige Mädchen in ihren schlabberigen Trainingsklamotten und dem etwas ungelenken Breakdance-Stil eher boyish. In einem der oberen Stockwerke eines Rohbaus tanzt sie, ganz für sich, inmitten ihres von Stress bestimmten Alltags. Wenn sie im Gegenlicht bei ihren etwas zappeligen Bewegungen ­gezeigt wird, ist das vielleicht romantisch, aber eben nicht auf eine sozialromantische Weise. Das Milieu wird unwichtig, man sieht nur noch dieses Mädchen beim Tanzen, selbstvergessen und auch ein bisschen glücklich.
Wenn Mia nicht tanzt, weiß sie nicht, wohin mit ihrer explosiven Energie. Die Kamera hat sie fast immer im Blick, sie ist ihr körperlich nah und folgt dem Rhythmus ihrer Bewegungen, wenn sie durch die Nachbarschaft stürmt. Ihr Gang ist hastig und wütend, sogar der Pferdeschwanz scheint auf eine angriffslustige Weise hin und her zu wippen. Einem Mädchen verpasst sie einen heftigen Kopfstoß, anschließend versucht sie, ein altes abgemagertes Pferd zu befreien, das hinter einem Bauzaun steht. Sie hält es geradezu körperlich nicht aus, das Pferd angebunden zu sehen, immer wieder versucht sie, mit einem Stein die Eisenkette zu zerschlagen. »Fish Tank« verwendet einige dieser Tiersymbolismen, später wird ein im Gras zappelnder Fisch zum Bild für Mias Gefühlszustand.
Die Mutter bringt eines Tages einen neuen Freund mit nach Hause, Connor (Michael Fassbender). Plötzlich ist da jemand, der sie nicht anschreit und zurechtweist. Connor nimmt sie ernst, er interessiert sich für ihre Tanzerei, leiht ihr seine Kamera, als sie sich für eine Audition bewerben will. Als er einmal alle zu einem Ausflug ins Grüne einlädt, kommt sogar so ­etwas wie Familienglück auf … Musik auf der Autofahrt, ein Fluss in der idyllischen Natur. Es tut gut, aus den grauen Mauern der Wohnsiedlung herauszukommen, und Connor weiß, wie man einen Tag »gestaltet« und nicht einfach nur Zeit herumbringt. Er vermittelt ein Gefühl von Sicherheit, was auch ökonomisch bedingt ist – er hat als einziger weit und breit einen soliden Mittelklassejob. Es gehört zu den Stärken des Films, dass Arnold das Verhältnis zwischen Connor und Mia von Beginn ambivalent hält und in verschiedene Richtungen treibt. Mal sieht das Mädchen den Freund der Mutter als Kumpel, den man unkompliziert um Geld anhauen kann, mal als Vaterfigur.
Doch gerade Connors väterliche Fürsorglichkeit ist der Auslöser für die aufkommende sexuelle Anziehung zwischen den beiden. In einer Szene zeigt der Film, wie Connor das auf der Couch eingeschlafene Mädchen ins Bett trägt. Das Bild ist verlangsamt und leicht unscharf, wie im Halbschlaf, man hört Mias ruhiges Atmen. In das Gefühl von Geborgenheit mischt sich eine leichte Bedrohung. Denn als er sie ins Bett legt und ihr Schuhe und Hose auszieht, hat das trotz aller Behutsamkeit auch etwas Grenzüberschreitendes. Die Mutter registriert natürlich sofort die von der pubertierenden Tochter ausgehende »Konkurrenz«. Bei einer Party in der eigenen Wohnung wird Mia in ihr Zimmer gescheucht, und dass sie nur mit T-Shirt und Slip in der Küche herumläuft, gefällt ihr auch nicht (wo Joanne zuvor von der kleinen Tochter mit »Can’t you dress, bitch?« angepöbelt wurde).
Das Zusammenspiel von Katie Jarvis und Michael Fassbender ist mitreißend, und Arnold heizt dem Verhältnis zwischen Mia und Connor im letzten Teil dramaturgisch regelrecht ein, doch das stellt sich dann auch als die eigent­liche Schwäche des Films heraus. Schließlich wirkt die dramatische Zuspitzung ein bisschen überkonstruiert. Arnolds Vorgängerfilm »Red Road« (2006), der ebenso wie »Fish Tank« beim Filmfestival in Cannes den Preis der Jury gewann, ging zwar noch stärker in die »geschriebene« Richtung, doch der Film hatte ohnehin eine stark konzeptuelle Seite. »Fish Tank« setzt da eher auf die altbewährte Idee eines authen­tischen Milieurealismus. Andrea Arnold, die 2005 bereits mit ihrem Kurzfilm »Wasp« (2003) einen Oscar gewann, wird inzwischen schon als Nachfolgerin von Ken Loach gehandelt. Im Gegensatz zu Loach nimmt sie jedoch nie die Perspektive des Sozialarbeiters ein. Ihr Realismus neigt weder zu aufklärerischer Pädagogik noch zu Voyeurismus, ziemlich clever hält sie die Balance. Ihr Blick ist einfühlsam, aber distanziert, humanistisch, aber nicht menschelnd, und vor allem ist er dabei immer auf die Möglichkeiten des Kinos gerichtet.
Am Ende von »Fish Tank« tanzen Mutter und Tochter im Wohnzimmer gemeinsam zu dem Track »Life’s a bitch«, ihre Choreografie könnte dabei ebenso für sie selbst wie für das Publikum einstudiert worden sein. Sie bewegen sich synchron, aber in einigem Abstand zueinander, im Rhythmus der Musik herrscht zwischen ihnen plötzlich eine unausgesprochene Nähe und Vertrautheit.

Fish Tank (GB 2009). Regie: Andrea Arnold. Darsteller: Katie Jarvis, Michael Fassbender und Kierston Wareing. Start: 23. September