Über den argentinischen Buchmarkt

Steaks? Tango? Bücher!

Wie die Bankenkrise und die Globalisierung die Verlagslandschaft Argentiniens verändert haben.

Als vor drei Jahren die Entscheidung für Argentinien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2010 fiel, konnten sich in dem südamerikanischen Land nur wenige ausmalen, welche Dynamik sich auf dem Markt entwickeln würde. Hunderte von Büchern wurden in den vergangenen zwei Jahren eigens für die Buchmesse ins Deutsche übertragen, etliche Übersetzungen neu aufgelegt, viele argentinische Titel in anderen Sprachen veröffentlicht.
Auch die Verantwortlichen vor Ort schienen anfangs nicht recht zu wissen, wie mit der Einladung aus Deutschland umzugehen war. Ein Organisationskomitee für die Teilnahme Argentiniens als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2010 (COFRA) wurde eingesetzt und die resolute Kulturmanagerin Magdalena Faillace zur Sonderbotschafterin berufen. Argentinische Delegationen besuchten Buchmessen in Deutschland, langsam dämmerten ihnen die Ausmaße dessen, was auf sie zukommen sollte.
Aus dem anfänglichen Plan, die Übersetzung von 20 argentinischen Titeln zu finanzieren, wuchs ein gigantisches Übersetzungsförderungsprogramm – das Programa Sur, wie es in Anlehnung an die berühmte Literaturzeitschrift Sur von Victoria Ocampo genannt wurde. Es soll auch nach der Buchmesse fortgesetzt werden.
Natürlich ist die Frankfurter Buchmesse eher eine brancheninterne Veranstaltung. Es geht auf dem Treffen der Scouts, Agenten und Verlagsvertreter um den Handel mit Lizenzen. Die Buchmesse in Buenos Aires ist dagegen ein großes Lesefest, vergleichbar mit der Leipziger Buchmesse. Vielleicht fiel es den Argentiniern deswegen schwer, in den Größenordnungen von Frankfurt zu denken.
Doch dann ließen sie es sich nicht nehmen, ein großes Programm auf die Beine zu stellen – und die deutsche Verlagswelt zog mit. Die Liste aktueller Neuerscheinungen ist mittlerweile angewachsen auf 216 Titel aus 104 Verlagen. Damit stellt Argentinien einen kleinen Buchmesse-Rekord dar: Seit 2004 wurden nicht mehr so viele belletristische Titel eines Ehrengasts ins Deutsche übersetzt: 116 Titel aus der Belletristik sind es derzeit. Allein 24 Ausstellungen im Begleitprogramm der Messe in Berlin und Frankfurt, unzählige Lesungen, Diskussionen und Festivals. Und dabei dreht sich nicht alles um Tango und Fußball, auch dem Thema der »Vergangenheitsbewältigung«, der Erinnerung, aber auch Migration und jüdischem Leben sind Schauen gewidmet.

Nach der Krise
Es scheint, als wäre die Krise, die auch das argentinische Verlagswesen erfasst hatte, 2010 gänzlich überwunden. Die argentinische Verlagswelt befand sich bereits in der Krise, lange bevor die Wirtschafts- und Finanzkrise das Land überfiel. Ende 2001, nachdem der Internationale Währungsfonds (IWF) einen Stützkredit verweigert hatte, sperrte die Regierung die Konten der privaten Sparer, die in den Tagen zuvor ihre Konten leergeräumt hatten.
Es kam trotzdem zum Crash. Fünf Staatsoberhäupter lösten einander im Präsidentenpalast Casa Rosada in rascher Folge ab. Die aufgebrachte Bevölkerung errichtete Barrikaden, organisierte sich in politischen Versammlungen – bis der Winter einbrach.
Um den argentinischen Buchmarkt stand es 2002 verständlicherweise nicht gut. Nur 9 537 Bücher wurden in dem Krisenjahr aufgelegt. Viele Bücher argentinischer Newcomer-Autoren, denen es gelungen war, in einem spanischen Verlagshaus zu veröffentlichen – und die damit die Chance auf eine Rezeption im gesamten spanischen Sprachraum in Aussicht hatten –, wurden wegen des eingebrochenen Wechselkurses nicht mehr nach Argentinien ausgeführt. Es lohnte sich schlichtweg nicht mehr, diese Bücher am Rio de la Plata zu vertreiben. Der Schriftsteller César Aira nannte diese Jungautoren in El Pais Anfang 2002 »eine verlorene Generation« und sah in den Bücherbergen, die in Lagern in Barcelona und Madrid vergilbten, ein Bild für die Krise.
Der Einbruch auf dem heimischen Buchmarkt und die Trennung von jungen Autoren und ihrem Publikum waren unmittelbare Konsequenzen der vorangegangenen Entwicklungen. Die Regierung von Carlos Saúl Menem (1989 bis 1999) setzte wirtschaftspolitisch auf den »Washington Consensus«, die Vorgaben von IWF und Weltbank: Deregulierung, Privatisierung von Staatsbetrieben und eine konsequente Öffnung des eigenen Marktes. Traditionelle argentinische Verlage hatten es schwer – auch weil die von Menem durchgesetzte Bindung des Peso an den Dollar Exporte teurer machte. Die einstige Buchnation – neben Mexiko-City und Bogotá war Buenos Aires jahrzehntelang das bedeutendste Verlagszentrum Lateinamerikas – wurde ihre Bücher nicht mehr los.
So fiel es Global Players wie Bertelsmann/Random House, Mondadori, Grupo Planeta und Grupo Santillana leicht, lokale Verlage zu übernehmen. Borges’ Verlag Editorial Emecé gehört heute zur Grupo Planeta, das von Victoria Ocampo und Oliverio Girondo 1939 gegründete wegweisende Verlagshaus Editorial Sudamericana zu einem für den lateinamerikanischen Markt gegründeten Joint Venture von Random House und Mondadori.

Boom der unabhängigen Verlage
Andererseits entstanden zahlreiche unabhängige Verlage. »Seit 2002 wurden 60 neue Verlage gegründet«, erzählt Daniel Divinsky, Verleger von Ediciones de la Flor. Zu den kleinen dynamischen Verlagen wie Del Zorzal, Adriana Hidalgo, Editorial Entropía, Beatriz Viterbo, Editorial Tamarisco, Bajo la luna oder Katz Editores kamen 2008 weitere Neugründungen. Eterna Cadencia etwa, der von der Verlegerin Leonora Diament (zuvor bei Norma) geleitet wird, die in kürzester Zeit ein aufregendes Programm aufgelegt hat.
Der Boom unabhängiger Verlage hat seine Vorgeschichte in den neunziger Jahren. Viele, die sich damals in der Undergroundszene, bei Fanzines, Literaturzeitschriften, Lesungen in Szeneclubs engagierten, sind heute Scouts, Herausgeber oder gar Verleger geworden.
Anfang der neunziger Jahre erlebte Argentinien einen Wirtschaftsboom, die Politik Carlos Menems schien zu greifen. Aufgrund des günstigen Wechselkurses konnte sich die Mittelschicht Shoppingtouren in Miami leisten, mehr und mehr Waren wurden importiert. Allerdings begann die lange Agonie der Industrie, der Niedergang der Eisenbahn und der Manufakturen. Der öffentliche Raum wurde privatisiert, staatliche Versorgungsunternehmen wurden für symbolische Preise an multinationale Konsortien verscherbelt. Die Szene zog sich in private Räume, Independentgalerien, Kneipen und besetzte Häuser zurück.
Und in diesen meist nur temporären Räumen entfesselte sich eine Dynamik, die die argentinische Literatur zu einer der interessantesten des amerikanischen Kontinents machte. Es war die Zeit, in der legendäre Zeitschriften gegründet wurden, die meist die zweite Nummer nicht überlebten. Eine davon war 18 Whiskys – der Titel spielt auf die angebliche Todesursache des walisischen Schriftstellers Dylan Thomas an, der nach achtzehn Gläsern Whisky gestorben sein soll. 1990 erschien die erste Doppelnummer der Zeitschrift, 1993 die zweite, unspektakulär gelayoutet, eine Mischung aus Interviews, Gedichten, Rezensionen und Zeichnungen. Als Herausgeber zeichneten Fabián Casas, Daniel Durand, José Villa, Darío Rojo, Juan Desiderio und Mario Varela. Ihre Einflüsse waren sowohl vergessene Dichter aus dem argentinischen Hinterland wie Juan L. Ortiz und Ricardo Zelarayán als auch zeitgenössische angloamerikanische Dichter wie Ezra Pound, T.S. Eliot, Walt Whitman, Charles Bukowski, Allen Ginsberg und Jack Kerouac.
Der angloamerikanische »Objektivismus« wurde gepaart mit einem »schmutzigen Realismus«, einem der Straße abgelauschten Slang. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die argentinische Poesie in den neunziger Jahren und bis weit in die 2000er hinein Avantgarde war, dass sie gelesen, gar verschlungen wurde, in Chile, Bolivien, Paraguay, Ecuador, Costa Rica, Nicaragua, sogar in Mexiko in Anthologien aufgenommen wurde, gleichzeitig aber in Spanien, dem einstigen Mutterland des Imperiums, nur Kopfschütteln hervorrief. Wie können die nur so respektlos schreiben? Frech, forsch und direkt klangen die Poeten der Neunziger: Sie paarten den Sound der Gosse mit ernster Dichtung.
On-Off-Szene
Es waren die informellen Treffen in der Calle Rioja auf der Höhe 500 in der Altbauwohnung von Daniel Durand, die Dichter, Schriftsteller und Herausgeber, Übersetzer und Lektoren zusammenführten. Im Arbeiterviertel Once stand einer der ersten Laserdrucker eines argentinischen Privathaushalts. Ehe man sich versah, spuckte dieser die neuesten Gedichte einer literarischen Offenbarung aus oder den geretteten Backkatalog eines vergessenen Dichters wie Ricardo Zelarayán. Die drogen- und biergeschwängerten Gespräche in der Calle Rioja haben die Literaturszene jener Jahre geprägt. Alles, was sich im Underground Gehör verschaffen wollte, veröffentlichte seinen ersten Gedichtband bei den Ediciones del Diego. 20 Exemplare wurden liebevoll in Handarbeit angefertigt und dann an Freunde verschenkt. Mehr als 50 Titel zählte der Katalog der Ediciones del Diego 2002.
Doch die Szene war nur wenige Monate, vielleicht zwei Sommer lang vereint. Bald zerfiel sie wieder in Gruppen und Grüppchen, die sich um neue Independentverlage und regelmäßige Events formierten, wie die Poesie-Performance-Truppe von Zapatos Rojos oder die lose Zusammenkunft von Leuten, die die Lesungen in der von Cecilia Pavón und Fernanda Laguna geführten Off-Galerie Belleza y Felicidad verfolgten, aber auch die Open-Mike-Sessions im Abasto, die jeden Freitagabend bei »Maldita Ginebra« stattfanden, oder die mystischen Gesamtkunstwerke von Tsé-Tsé in der Escuela Halocinogeno besuchten.

Aus Dichtern wurden Erzähler
Viele derjenigen, die Mitte der neunziger Jahre zu schreiben begonnen hatten – Fabián Casas, Washington Cucurto, Juan Incardona, Cecilia Pavón, Gabriela Bejerman –, gingen dazu über, Erzählungen zu verfassen. Die neue argentinische Narrativik erregte bald das Interesse von Verlagen. Das Neue musste abgebildet, gesammelt, gesichtet und kanonisiert werden. Allein zwischen 2005 und 2007 erschienen vier Anthologien mit junger argentinischer Literatur: Den Anfang markierte »La joven guardia« (Norma, 2005), es folgten »Una terraza propia« (Norma, 2006) und »En celo« (Sudamericana, 2007) – die ersten einer ganzen Serie von thematisch ausgerichteten Anthologien – sowie der Band »Buenos Aires escala 1:1« (Entropía, 2007), der Geschichten über und aus den sprichwörtlich »cien barrios porteños«, den Hundert Stadtvierteln von Buenos Aires, versammelt. Selbst zum Rauchen ist eine Anthologie erschienen, »Vagón Fumador« (Eterna Cadencia, 2008). Viele dieser neuen Erzähler bekamen bald darauf die Chance, einen eigenen Erzählband oder sogar ein Romandebüt in einem kleinen, manchmal auch größeren Verlag zu lancieren.
Der Rest ist bekannt: 2008 wurden 19 414 neue Titel in 81,8 Millionen Exemplaren aufgelegt. Die Verkaufserlöse argentinischer Bücher betragen derzeit im Ausland 57 Millionen Dollar, Tendenz steigend. International operierende Scouts und Agenten standen, als die Entscheidung für den Ehrengast Argentinien fiel, bereits in den Startlöchern. Suhrkamp, Hanser, Fischer und Wagenbach suchten nach jungen Talenten, die in Argentinien schon veröffentlicht hatten und über »Entwicklungspotenzial« verfügten. Samantha Schweblin (Suhrkamp), Lucia Puenzo (Wagenbach), Pedro Mairal (Hanser) heißen die neuen Stars. Doch auch kleinere deutschsprachige Verlage wollten unbedingt mindestens einen Argentinier im Programm haben.
Deshalb habe man in Argentinien, schimpft der Übersetzer und Scout Mathias Strobel, jeden Stein umgedreht. Neben viel Mittelmaß gibt es aber auch Autoren, die zu Recht für den deutschen Buchmarkt »entdeckt« wurden: Félix Bruzzone, Sohn von »Verschwundenen«, hat mit »76« ein grandioses Erzähldebüt vorgelegt, das im Berenberg Verlag 2010 erschienen ist. Der linke Verlag Rotbuch veröffentlichte im Sommer 2010 zwei Erzählungen von Fabián Casas (»Lob der Trägheit«), gefolgt von »Die Panikveteranen«. Mariana Enríques schauerlicher Roman »Verschwinden« erscheint im kleinen Berliner Schil Verlag.

Kartonbücher braucht das Land
Eins der interessantesten Phänomene der argentinischen Literaturszene wurde allerdings nicht berücksichtigt: die Kartonbücher, die von dem unabhängigen Verlag Eloísa Cartonera hergestellt werden. Als man Magdalena Faillace, die Sonderbotschafterin Argentiniens und Präsidentin der COFRA, auf die Kartonbuchverlage ansprach, fragte sie spöttisch zurück: »Wie stellen Sie sich das vor? Sollen wir etwa den Kartonsammlern erlauben, ihren Stand vor der Buchmesse auf dem Gehweg aufzubauen?«
Die Kartonbücher sind der erfolgreichste argentinische Literaturexport der vergangenen Jahre – zumindest auf symbolischer Ebene. 2003 ins Leben gerufen, funktioniert die Kooperative bis heute. Die Ursprungsidee von Washington Cucurto, Javier Barilaro und Fernanda Laguna bestand darin, von den Papiersammlern, die seit der Krise die Straßen von Buenos Aires bevölkerten, Karton zu kaufen, zu einem Preis, der über dem Marktpreis lag. Mit den Pappen sollten Einbände für Bücher in Handarbeit hergestellt und die fotokopierten Innenteile eingeklebt werden. Mit der Zeit schlossen sich einzelne Cartoneros an. Statt im Müll zu wühlen, pinselten sie nun Titel und Autorenname auf die Cover, lieferten die fertigen Bücher in die Buchläden des Zentrums aus und lernten dabei, selbst Werbekampagnen zu schmieden, Bücher zu layouten, Autoren anzuheuern. Ein Bildungsprogramm von unten, selbstorganisiert und horizontal im Kollektiv.
Dieses Modell hat nicht nur in Argentinien Erfolg gehabt, es breitete sich nach dem Franchising-Prinzip auch in andere Länder aus, so dass heute ein großes, von Tijuana nach Patagonien reichendes Netzwerk entstanden ist. Eloísa Cartonera hat es dann aber doch noch an den Main geschafft, als eines der Kollektive, die in der Ausstellung »Tales of Resistance and Change« im Frankfurter Kunstverein vorgestellt werden. Vielleicht ist das auch eine Lektion des argentinischen Buchmesseauftritts. Widerständigen Stimmen und Projekten gibt nur der Kunstkontext eine Plattform, auf dem Literaturmarkt besteht nur derjenige, der sich sowohl thematisch als auch formal an die Vorgaben des globalisierten Mainstream anpasst. »Cultura en Movimiento«, »Kultur in Bewegung«, heißt das Motto Argentiniens auf der Buchmesse, vielleicht sollte es eher Kultur for export heißen.