Der Prozess gegen Verena Becker

Das verdeckte Handspiel

Verena Becker ist wegen des Mordes an dem ehemaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback angeklagt. Der Prozess könnte zeigen, wie weit der Geheimdienst im Herbst 1977 bei der Bekämpfung der RAF ging.

So kennt man die Bundesanwaltschaft (BAW) kaum. Wenige Wochen nach dem Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback am 7. April 1977 wurde bei der nun angeklagten Verena Becker die Mordwaffe gefunden. Etwa ein Dutzend Zeugen beschrieben den Schützen beziehungsweise die Schützin auf dem Motorrad der Attentäter als eher zierlich und mit weiblicher Figur. Doch die Indizien, die bei Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und anderen Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) für eine Verurteilung zu mehrmals lebenslänglich ausgereicht haben, genügten bei Verena Becker jahrzehntelang nicht einmal für eine Anklage wegen dieses Mordes.

Vielmehr musste die BAW vor allem von Michael Buback, dem Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, durch jahrelang aufgebauten öffentlichen Druck dazu bewegt werden, die Ermittlungen aufzunehmen. Bundesanwalt Walter Hemberger verfasste eine drei Punkte umfassende Anklage gegen Becker wegen ihrer Beteiligung am Attentat. Sie habe auf die »bedingungslose Umsetzung« des Anschlagplans gedrungen, habe den Tatort ausgespäht und nach der Tat das Bekennerschreiben in den Briefkasten geworfen. Juristisch sei dies allenfalls Beihilfe zum, aber keine Tatbeteiligung am Mord, sagen Beckers Verteidiger Walter Venedey und Hans-Wolfgang Euler. Sie hoffen auf einen Freispruch.
Michael Buback möchte wissen, wer seinen Vater ermordet hat. Nach jahrelangen Recherchen ist der Mann fest davon überzeugt, dass »eine schützende Hand« über Verena Becker gehalten wird. Er ist sich zu »99 Prozent« sicher, dass Becker vom Motorrad aus auf seinen Vater geschossen habe, und meint, dies beweisen zu können. Tatsächlich gibt es merkwürdige Details in dem Fall. Mehrere Beweisstücke sind verschwunden, so zum Beispiel das von den Tätern verwendete Motorrad, das Fluchtauto und auch Bubacks durchlöcherter Dienstwagen. Diese Ungereimtheiten machen nicht nur Bubacks Sohn stutzig.
Wer die »schützende Hand« ist, möchte dieser im Verlauf des Verfahrens herausfinden. Er hat deshalb schon angekündigt, die Präsidenten des Verfassungsschutzes (VS) und des Bundeskriminalamtes (BKA) als Zeugen laden zu lassen. Unstrittig ist, dass Becker Anfang der achtziger Jahre in der Haft Kontakt zum VS suchte und umfangreiche Aussagen zu den Vorgängen innerhalb der RAF machte. Unter anderem deshalb wurde die wegen einer Schießerei in Singen in einem anderen Verfahren zu lebenslanger Haft verurteilte Becker im Herbst 1989 von Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt. Buback vermutet, dass Becker schon lange vorher mit dem VS zusammengearbeitet habe. Sein Anwalt Ulrich Endres sagt, dass man »dem VS ja nicht alles glauben« müsse.

So erhält der vergangene Woche vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht eröffnete Prozess durch Michael Buback als Nebenkläger die eigentliche Brisanz. Zwar beschreiben alle Journalisten die Atmosphäre im berühmten Gerichtssaal von Stuttgart-Stammheim wie immer seit 30 Jahren: Es gibt penible Eingangskontrollen, Besucher müssen alle persönlichen Gegenstände abgeben, diese werden in Plastiktütchen verpackt. Nur den Plastikstühlen ist anzumerken, dass sie in die Jahre gekommen sind. Nun treten an diesem geschichtsträchtigen Ort Akteure und Interessengruppen gegeneinander an, deren Verhalten nicht den gängigen Mustern in sogenannten Terrorprozessen entspricht. Wären nur Verena Becker und ihre Verteidiger sowie die BAW im Gerichtssaal, hätte man sich wahrscheinlich schnell mit dem Vorsitzenden Richter Hermann Wieland auf ein mildes Urteil gegen eine Einlassung zur Tatbeteiligung einigen können.
Allen nun an dem Prozess Beteiligten dürfte klar sein, dass die unter Umständen ans Licht kommenden Erkenntnisse überaus folgenreich sein könnten. So plagt auch den Polizisten Wolfgang Seelinger aus Singen, der 1977 bei der Schießerei mit Becker und ihrem Begleiter Günter Sonnenberg von sechs Kugeln niedergestreckt und schwer verletzt wurde, ein schrecklicher Verdacht. Was wäre, wenn sich herausstellte, dass Becker schon 1977 Informantin des VS gewesen und er als einfacher Streifenpolizist »quasi unter den Augen des VS geopfert« worden wäre, wie es in einer Reportage des Tagesspiegel heißt?
Auch in späteren Jahren war es dem VS mehrmals gelungen, RAF-Kader zu beobachten, zum Beispiel Christian Klar und Adelheid Schulz während des Versuchs, einen Hubschrauber zu mieten. Doch weil die Observation so zurückhaltend war, konnten Klar und Schulz damals entkommen. Ziel des VS war es immer, die ganze Gruppe zu fassen. Deshalb wollte der Geheimdienst das BKA und die Polizei von den Einsätzen fernhalten. »Die ballern uns die bloß weg«, gab damals ein Mitarbeiter des VS an. Auch der Einsatz des V-Manns Klaus Steinmetz gegen die RAF ist aufschlussreich, was die Methoden des VS angeht. Steinmetz war kein plumper Erfüllungsgehilfe der Sicherheitsbehörden, sondern sah sich als Akteur und spielte sein Spiel mit beiden Seiten.

Warum sollte es 1977 bei Verena Becker anders gewesen sein? Folgendes wäre vorstellbar: Becker hatte Kontakt zum VS und konnte, gerade weil sie ein doppeltes Spiel trieb, innerhalb der RAF umso entschiedener als Hardlinerin auftreten. Dass Becker eine sehr widersprüchliche Person sein kann, bewies sie im Laufe der achtziger Jahre. Nach ihren Aussagen beim VS wollte sie doch wieder zur RAF zurückkehren, als überaus reuige Verräterin bot sie ihren ehemaligen Genossen sogar ihren Selbstmord an. Solche diffizilen psychologischen Prozesse werden in der Sensationspresse bis hin zum Spiegel allerdings grob vereinfacht dargestellt. Für die meisten Medien bedeutet jeder Kontakt zwischen einem Mitglied der RAF und einem Geheimdienst sofort, dass die RAF ferngesteuert wurde.
So ähnlich dürfte auch die Falle aussehen, in der die BAW sitzt. 1977 entschied sich Bundesanwalt Joachim Lampe, Becker nur wegen der Schießerei in Singen anzuklagen. Der Fall war eindeutig, ihre Verurteilung zu lebenslänglicher Haft sicher. Ob damals ein Mitarbeiter des VS den Bundesanwalt beiseite nahm und ihm bedeutete, die Sache mit Buback im Prozess gegen Becker wegen übergeordneter Interessen des Staats besser unbeachtet zu lassen? Damals wäre das keine allzu abwe­gige Handlung im Konflikt zwischen dem Staat und der RAF gewesen. Allerdings handelt es sich dabei eindeutig um Rechtsbeugung.
Dieses Gedankenspiel hätte eine weitere Konsequenz: Dann wären die Urteile gegen weitere führende RAF-Kader wie Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Knut Folkerts eindeutig falsch. Diese wurden in zum Teil haarsträubenden Indizienprozessen gerade wegen des Buback-Mordes zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Knut Folkerts, der mittlerweile recht kritisch über seine Jahre in der RAF denkt, sagte vor wenigen Jahren im Spiegel, dass er zur Tatzeit nicht in Karlsruhe gewesen sei, aber als damaliges Mitglied der RAF die politische und moralische Verantwortung für das Attentat übernehme. Wohl deshalb ist er bisher nicht gegen das Urteil vorgegangen.