Der UN-Bericht über den Kongo

Der Genozid, der keiner war

Mit Verzögerung wurde der UN-Bericht über Kriegsverbrechen im Kongo veröffentlicht. Ob Ruanda des Genozids beschuldigt wird, soll ein späteres Gerichts­urteil klären.

Callixte Mbarushimana lebte seit Jahren unbehelligt in Paris. Als Exekutivsekretär führte er die FDLR (Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas), seit Ignace Murwanashyaka, der Präsident der Organisation, und dessen Stellvertreter Straton Musoni im November 2009 in Deutschland festgenommen worden waren. Mbarushimana kümmerte sich um die Geld- und Waffenbeschaffung für eine extremistische Miliz, die im Osten der Demokratischen Republik Kongo (RDC) für unzählige Kriegsverbrechen verantwortlich ist.
Gegen ihn und drei weitere FDLR-Führer hatte der UN-Sicherheitsrat im März 2009 individuelle Sanktionen eine Kontensperrung und ein Reiseverbot verhängt. Ihnen wurde vorgeworfen, an zentraler Stelle »den Friedensprozess in der RDC zu blockieren« und sich der Entwaffnung der Milizen zu widersetzen. Die französischen Behörden schien es aber nicht zu kümmern, dass ihnen immer wieder vorgeworfen wurde, hochrangige Funktionäre der FDLR zu dulden.

Doch am Montag wurde Mbarushimana verhaftet. Er sei aufgrund eines Haftbefehls des Gerichtshofs, der den örtlichen Behörden am 28. September dieses Jahres versiegelt – also als geheime Verschlusssache – zugestellt wurde, von französischen Polizisten festgenommen worden, stellte der Internationale Strafgerichtshof in einem Kommuniqué fest. Gegen Mbarushimana werden fünf Vorwürfe erhoben, die den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschheit erfüllen würden, sechs weitere Anklagepunkte betreffen Kriegsverbrechen. Es geht um Morde, Massenvergewaltigung, Folter und Zerstörung der Lebensgrundlagen von Dorfbewohnern im Osten des Kongo.
Die FDLR sind jedoch nur eine von zahlreichen bewaffneten Gruppen, die in dieser Region Kriegsverbrechen begangen haben. Am intensivsten wurde in den Jahren 1997 bis 2003 gekämpft und gemordet, der französische Wissenschaftler Gérard Prunier bezeichnete den Konflikt, an dem zeitweise auch reguläre Truppen der Nachbarstaaten beteligt waren, als »Afrikas Weltkrieg«.
Am 1. Oktober veröffentlichte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte eine offizielle Version der Geschehnisse, einen 522 Seiten umfassenden Bericht, in dem Verbrechen für Verbrechen referiert wird. Untersucht wurden die Ereignisse im Kongo von März 1993 bis Juni 2003, die Endphase der Diktatur von Mobutu Sese Seko, die Machtübernahme seines Widersachers und Nachfolgers Laurent-Désiré Kabila, der von ostafrikanischen Verbündeten unterstützt wurde, die Gegenoffensive angolanischer und zimbabwescher Truppen sowie schließlich die relative Sta­bilisierung des Kongo.
Über die Existenz des Dokuments und einige zentrale Vorwürfe hatte bereits Anfang August das französischsprachige panafrikanische Wochenmagazin Jeune Afrique berichtet, drei Wochen später folgte eine wesentlich umfangreichere Darstellung durch die Pariser Abendzeitung Le Monde. Seitdem drehte sich die internationale Diskussion über den Untersuchungsbericht nur noch um ein Wort: Genozid. Ein eventuell den Tatbestand des Völkermords erfüllendes Vorgehen wird den Truppen Ruandas, Ugandas und Burundis vorgeworfen, die in den Jahren 1996 und 1997 zur Unterstützung Kabilas in den Kongo einmarschiert waren. Die entsprechenden Passagen sind jedoch vorsichtig formuliert, die juristische Bewertung wird einem eventuell zu bildenden Gericht überlassen.

Insbesondere die ruandische Armee wird kritisiert. Im Jahr 1994, nach dem Genozid in Ruanda, dem Tutsi und Hutu-Oppositionelle zu Opfer fielen, waren etwa zwei Millionen Menschen in den damals noch Zaire genannten Kongo geflohen oder von den Milizen mit Waffengewalt dorthin zwangsumgesiedelt worden. Viele dieser Zivilisten wurden von ruandischen Soldaten getötet, im Bericht wird die Frage aufgeworfen, ob es sich dabei um die systematische Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe gehandelt habe.
Diesen Vorwurf zu erheben, ist heikel und gefährlich. Denn der Völkermord in Ruanda ist wissenschaftlich erwiesen, die Fakten werden international anerkannt. Dass es einen vergleichbaren Genozid, sei es an Hutu, sei es an Kongolesen, gegeben habe, wird hingegen aus politischen Gründen von extremistischen Hutu-Politikern sowie kongolesischen Nationalisten seit Jahren behauptet. Dass ruandische Soldaten auch Zivilisten töteten, ist weitgehend unbestritten. Keinen stichhaltigen Beleg gibt es jedoch für den Vorwurf des Genozids. »Massaker ja, ein Völkermord nein«, schreiben dazu gleichlautend Aldo Ajello, ein ehemaliger UN-Diplomat aus Mosambik, und François Soudan, der französische Chefredakteur von Jeune Afrique.

Überdies ignoriert der Bericht den politischen Hintergrund. Die génocidaires wurden 1994 von der französischen Armee nach Zaire eskortiert. In den Flüchtlingslagern herrschten daraufhin die Hutu-Milizen, sie kontrollierten auch die Verteilung der Hilfsgüter und zweigten einen Teil ab, um ihren Krieg gegen die neue ruandische Regierung und die Tutsi fortsetzen zu können. Für den ruandischen Einmarsch gab es daher nachvollziehbare Gründe. Die »internationale Gemeinschaft« duldete die Hutu-Milizen, erst die Invasion der ruandischen Armee im Herbst 1996 führte zur Auflösung der Flüchtlingslager. Im Laufe der Jahre kehrten 80 Prozent der Hutu nach Ruanda zurück, wie auch der für die Uno erstellte Bericht vermerkt. Diese Tatsache spricht gegen die Unterstellung, die ruandische Regierung habe eine Genozid begangen oder geplant.
Allerdings waren bei der Zerschlagung der Lager etwa 500 000 Hutu in die Wälder vertrieben worden. Rund die Hälfte von ihnen starb dort an Hunger und Krankheiten. Überdies blieben ruandische Truppen im Kongo und drangen nach 1997 tiefer in das Land ein. Es ging nicht nur um die Verfolgung der Hutu-Extremisten, die Armee und das Regime Ruandas beteiligten sich auch an der Ausbeutung der Rohstoffe im Ostkongo. Auch aus ökonomischen Gründen wurden Kongolesen getötet und unterdrückt.
Das ruandische Vorgehen kann und muss also kritisiert werden. Wenn die »Kultur der Straflosigkeit« beendet werden soll, muss allerdings auch die Rolle anderer Verantwortlicher untersucht werden, nicht zuletzt französischer Politiker, die maßgeblich zum Desaster im Kongo beigetragen und sich erst vor wenigen Jahre zu einer Strafverfolgung der génocidaires durchgerungen haben.
Überdies hat der Vorwurf des Genozids es der ruandischen Regierung erleichtert, jegliche Kritik von sich weisen. Sie reagierte empört und drohte Ende August ebenso wie die ugandische Regierung damit, ihre Truppen aus den UN-Einsätzen zurückzuziehen. Die Ruander stellen 3 550 Soldaten der Truppe in der sudanesischen Provinz Darfur, und die Ugander stellen neben Burundi das stärkste Kontingent für den risikoreichen UN-Einsatz in Somalia. Ban Ki-moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, reiste daher überstürzt in die ruandische Hauptstadt Kigali und distanzierte sich von dem Bericht. Dessen Veröffentlichung wurde verschoben, zunächst auf den 1. Oktober neun Uhr früh, dann an jenem Tag nochmals um sechs Stunden, um »ultimative politische Verhandlungen« führen zu können. Die abschließende Version erhebt den Völkermordvorwurf nicht mehr offen, weist aber darauf hin, dass später einzurichtende internationale Gerichte diese und andere Fragen zu klären hätten.