Grün sein heißt oben treiben
Wenn am Sonntag Wahlen wären, würde der neue Bundeskanzler Jürgen Trittin heißen – oder die Kanzlerin Renate Künast. Das ist kein Witz, sondern ergibt sich aus Umfragen, nach denen die Grünen bundesweit bei bis zu 24 Prozent und vor der SPD liegen. So beliebt waren die Grünen noch nie. Und dies nicht nur im »reichen« Musterländle, wo sie sich nun als Tribun von Juchtekäfer und Kopfbahnhof, als Klassensprecher rebellierender Spießerschwaben gerieren und derzeit 34 Prozent Zustimmung genießen (nicht viel weniger als die CDU). Auch im »armen« Berlin sind die Grünen »oben«, liegen in der Hauptstadt vor der SPD, sind in Umfragen mit 30 Prozent sogar stärkste Partei. Und auch im niedersächsischen Wendland, wo sie sich immer noch als Anti-Atommacht inszenieren, bestimmen sie wie eh und je den Diskurs. Ist Hamburg eine Ausnahme? Schließlich gab es dort vor einigen Monaten den ersten Bürgeraufstand gegen die Grünen und ihre Schulpolitik. Andererseits regieren die Grünen dort und bleiben trotz der Proteste »oben«.
Einerseits profitieren die Grünen vom Totalversagen der restlichen Parteien – speziell des natürlichen Konkurrenten FDP und der als Protestpartei völlig enttäuschenden »Linken«. Andererseits sind sie die naheliegende Antwort auf die beständig medial angefeuerte Suche nach dem neuen Konservatismus. Denn sie bieten grünen Heimatschutz: Karl der Käfer, mein Freund der Baum und schöne alte Kopfbahnhöfe, die aus der Zeit stammen, als Züge noch gemütlich zwischen zwei Städten hin- und herpendelten. Und das Wendland bitte schön sauber halten von Atom- und anderem Müll! Denn die Grünen sind die Anti-Müll-Partei schlechthin. Bei ihnen auf der Blumenwiese ist es immer schön aufgeräumt. Und nachdem Zehntausende Türken in Berlin kollektiv einen deutschen Nationalspieler auspfiffen, darf Cem Özdemir denn auch mal ein bisschen vor »Deutschenfeindlichkeit« warnen.
Doch es ist schwer, den Grünen insgesamt Populismus vorzuwerfen. Sicher, in Gorleben und Stuttgart schleimen sie sich an die Protestbewegungen heran, dass man vor Glibber und Sülze nur noch Bahnhof versteht, ansonsten aber halten sie sich dezent zurück. Machen kaum Wahlversprechen, machen keine Koalitionsaussagen, haben mit (unter ihrer Regentschaft durchgesetzten) bösen Dingen wie Hartz IV und Bundeswehrauslandseinsätzen plötzlich irgendwie gar nichts zu tun. Und wo andere mit sarazzinischem, lafontainischem oder seehoferschem Furor herumpoltern und damit vor allem Unseriosität ausstrahlen, spielen die Grünen geschickt die ruhige Stimme der Vernunft und des postideologischen Pragmatismus. In Berlin sind sie landesweit stärkste Partei, obwohl sie eigentlich gar keine Position zu gar nichts vertreten. Das muss man erst mal schaffen!
Und dies kann doch beruhigen, ja es ist die gute Nachricht: In Zeiten allgemeiner politischer Orientierungslosigkeit und Politikerverdrossenheit wählen die Deutschen – zurzeit – lieber den Allgemeinplatz als den Stammtisch, lieber das vermeintlich harmlos Uneindeutige, das sonnenblumig Gutmenschelnde als einen neuen starken Mann mit Aggro-Todesstrafe-für-Kinderschänder-Programm.