Zum Tod des Straßenmusikers, Laiendarstellers und Malers Bruno Schleinstein

Auch die zweite Strophe

Am 10. August verstarb der Straßenmusiker, Laiendarsteller und Maler Bruno Schleinstein. In der vergangenen Woche wurde er in Berlin beigesetzt.

Selbst in seinen wildesten Tagträumen dürfte sich Martin Wiebel im Jahr 1967 nicht ausgemalt haben, welche Folgen der Artikel haben würde, den er gerade über einen Berliner Straßenmusiker namens Bruno Schleinstein geschrieben hatte. »Es war typisch für die damalige Zeit, dass man von Außenseitern fasziniert war«, sagt Wiebel rückblickend. Und so war es vielleicht auch folgerichtig, dass der Mann, der singend durch die Berliner Hinterhöfe zog, wenig später auch in einem Film porträtiert wurde. Der Film »Bruno der Schwarze, es blies ein Jäger wohl in sein Horn« von Lutz Eisholz wiederum führte dazu, dass Bruno S., wie er sich fortan nannte, für kurze Zeit zum international bekannten Filmstar wurde.
43 Jahre später hält Martin Wiebel, Filmproduzent und Professor an der Filmakademie Baden-Württemberg, bei der Beerdigung von Bruno S. in der Kapelle des Alten St. Matthäus-Friedhofs in Berlin die Trauerrede.
Wiebel spricht von Schleinsteins »unverzeihlicher Jugend«. Von einer Mutter, die als Alleinerziehende überfordert war. Im Alter von drei Jahren landet der Junge in einem Kinderheim, damit beginnt für das vermutlich autistische Kind eine lange Leidenszeit. Bruno war ein sogenanntes Reichsausschuss-Kind, ein Jahr nach seiner Geburt wurde das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erlassen. Was genau mit dem Jungen passierte, ist nicht bekannt. Vermutlich wurde er Opfer von Menschenversuchen, wie Lothar Eberhardt vom »Arbeitskreis Marginalisierte – gestern und heute«, bei dessen Veranstaltungen der Musiker und Schauspieler oft auftrat, später bei der Kondolenzfeier erzählen wird. Vor einigen Jahren war Bruno eine Opferrente bewilligt worden.
Mit 23 Jahren war für Schleinstein plötzlich Schluss mit dem Leben in Institutionen. Bei den Borsigwerken fand er Arbeit als Gabelstaplerfahrer. In seiner Freizeit zog er durch die Berliner Hinterhöfe, wo er sein mehr oder weniger freiwilliges Publikum mit alten Moritaten unterhielt, vorgetragen in einem seltsamen Sprechgesang.
1974 wird Bruno von Werner Herzog entdeckt, in »Jeder für sich und Gott gegen alle« spielt er den Kaspar Hauser, drei Jahre später wird er Hauptdarsteller in »Stroszek«. Der Ruhm währt nicht lange, »VVV, vergangen, vergessen, vorüber« habe Bruno oft voller Bitterkeit gespottet, sagt Wiebel.
Einsam war er nicht: Freunde wie der Kneipier Franz Josef Göbel, Inhaber der am Anhalter Bahnhof gelegenen »Stadtklause«, und Klaus Theuerkauf, Betreiber der Kreuzberger Galerie Endart, kümmerten sich viele Jahre lang um Bruno. Und sorgten am Ende auch für die Beerdigung des im Alter von 78 Jahren an Herzversagen Verstorbenen. »Die zweite Strophe auch? Ja, die zweite Strophe auch«, tönt plötzlich die Stimme von Bruno S. aus dem Lautsprecher, und die in der Kapelle Versammelten lachen. Zu Lebzeiten war der Mann bekannt dafür, keinen Vers auszulassen, nicht immer zur Freude seines Publikums, das bei Liedern wie »Sabinchen war ein Frauenzimmer« durchaus auch mit kürzeren Versionen zufrieden gewesen wäre. Aber Bruno war unerbittlich, Strophen auszulassen, kam nicht in Frage.
Als die Trauergemeinde die Kapelle verlässt, regnet es in Strömen. Einzeln tritt man an das Grab, um nassen Sand hineinzuwerfen, begleitet vom Oberkreuzberger Nasenflötenorchester, das bei seinen samstäglichen Proben regelmäßig Besuch von Bruno hatte. Der Schriftsteller Harry Hass ruft: »Gelobt sei, was hart macht«, ein älterer Mann ballt die Faust und verkündet: »Bruno, der Kampf geht weiter.«
Im Neuen Museum auf der Potsdamer Straße, nicht weit entfernt von der Wohnung, in der Bruno bis zuletzt lebte und schließlich starb, trifft man sich zur Kondolenzfeier. Es gibt belegte Brote und Braten von Fleischermeister Staroske, wo er regelmäßig essen ging und zur Not anschreiben lassen konnte, auf einer Leinwand laufen Dokumentarfilme über Schleinstein.
Bruno S. sei kein Einzelfall gewesen, sagt Martin Wiebel, »sein Schicksal teilten in den siebziger Jahren viele Darsteller der sogenannten Arbeiterfilme«. Damals habe man Wert darauf gelegt, Rollen in Streifen wie »Rote Fahnen sieht man besser« oder »Schneeglöckchen im September« mit Laiendarstellern zu besetzen. »Gefragt waren authentische Personen in authentischen Situationen.«
Vielen sei es »dann wie Bruno gegangen: Sie waren kurz im Mittelpunkt des Interesses, da sich an diesen Filmen riesengroße politische Diskussionen entzündeten – und dann waren sie wieder vergessen, weil die Filmemacher sich anderen Themen zuwandten.«
Ihm selber sei es auch einmal passiert, »dass ich einen meiner Hauptdarsteller zufällig wiedertraf. Er erkannte mich sofort und begann gleich ein Gespräch – und ich wusste zuerst nicht einmal, wer er war. Das ist eben das große Problem, wenn man als Profi mit Laien zusammenarbeitet: Was für den Amateur das große Ereignis des Lebens ist, ist für uns nur ein Projekt.«
Und so könne man auch Werner Herzog keinen Vorwurf daraus machen, dass er sich nach »Stroszek« nicht mehr um seinen Hauptdarsteller gekümmert habe. Bruno S. war zwar zunächst noch für »Woyzeck« im Gespräch gewesen, die Rolle erhielt dann allerdings Klaus Kinski. »Rückblickend glaube ich auch nicht, dass er das geschafft hätte«, sagt Wiebel. Klaus Theuerkauf ist sich da nicht so sicher: »Doch, das hätte gepasst, man hätte nur mit ihm üben und ihm alles genau erklären müssen.«
Dass man Bruno nach den Herzog-Filmen aus den Augen verloren habe, sei eben der Lauf der Dinge, »man wird beansprucht von Familie, Kindern, Arbeit«, sagt die Kostümbildnerin Gisela Storch-Pestalozza, die bei einigen Filmen Werner Herzogs, darunter eben auch »Kaspar Hauser«, für die Garderobe der Schauspieler verantwortlich war. »Die Probleme, die Herzog mit Schauspielern hatte, habe ich nie gehabt«, lacht die Kostümbildnerin rückblickend. Die Zusammenarbeit mit Bruno S. sei für sie vollkommen unproblematisch gewesen. »Er war sehr zugänglich. In gewisser Weise war er Kinski ähnlich, eben jemand, der sich unbedingt in seiner Rolle zurechtfinden will.«
Und an den man sich erinnern soll, darin sind sich alle Trauergäste einig. Eine nachhaltige Lösung favorisieren sowohl Wiebel als auch Schleinsteins Erbe, der Anwalt und Notar Thomas Crasemann. Vor »wirklich sehr vielen Jahren, es werden mindestens 30 sein«, sei ihm Bruno S. im Kiez begegnet und ihm gleich bekannt vorgekommen, erzählt Crasemann, der sich selbst als »ganz großen Filmfan« bezeichnet. »Kein Mitleid, nein, Interesse daran, wie so jemand sein Leben meistert«, habe ihn bewegt, sagt er. Man freundete sich an, Bruno S. wurde eingeladen, in der damaligen Kanzlei zu spielen, am Heiligabend begleitete der Jurist den Musiker einmal sogar auf seiner Tour durch die Hinterhöfe. Irgendwann Ende der Neunziger verlor man sich aus den Augen. Und nun ist da dieses Erbe. »Und wenn der Bruno mal tot ist, was wird dann aus den Instrumenten?« fragte Schleinstein, der von sich stets in der dritten Person sprach. Weggeworfen werden sollen sie nicht, »man muss halt erst einmal alles sortieren«, umschreibt Crasemann das chaotische Ambiente, in dem der sammelwütige Verstorbene lebte. Klaus Theuerkauf möchte, dass die Art-brut-Bilder einen festen Platz bekommen. Auch Martin Wiebel möchte seine Kontakte spielen lassen. Man hofft, dass einige Stücke aus Brunos Archiv in die Sammlung der Deutschen Kinemathek eingehen können.
Auf der Leinwand ist unterdessen Schleinstein zu sehen. Er sagt: »Denn der Bruno, der geht jetzt.«