Rainald Goetz’ Bildband »Elfter September 2010«

Die Bilder sagen, das war doch erst gestern, und trotzdem ist es schon zehn Jahre her

Politik und Nachtleben, Architektur und Menschen in Berlin: Rainald Goetz versammelt in seinem Bildband »Elfter September 2010« seine Fotografien aus den Nullerjahren.

Es bringt ja nichts, den ersten Eindruck zu verschweigen: Die Fotos in Rainald Goetz’ Bildband »Elfter September 2010« hauen einen um. Zuerst blättert man im Buch und freut sich darüber, dass die Bilder so still sind. Die Fotos machen keinen Krach, obwohl darauf doch immer wieder Baustellen in Berlin zu sehen sind. Man hatte wohl schon vergessen, dass es gerade die stillen Fotos sind, die einen für Wahrnehmungen empfänglich werden lassen, die dann wie ein Blitz einschlagen und einen subjektiven Text- und Erinnerungsstrom freisetzen, der sich seine Bahn bricht. Der Affekt­rausch, den Fotos erzeugen können, funktioniert nur außerhalb der regelhaften Kontrolle. Man muss schon zulassen, dass die Bilder, ihre Details oder Gesten einen treffen, einen an Haut und Hirn punktieren, wie es Roland Barthes in seinen »Bemerkungen zur Photographie« beschrieben hat.
Wobei das punctum, wie Barthes den Moment bezeichnet, wenn uns ein Bild direkt ins Auge springt, dann auch immer dazu führt, dass man etwas von sich selbst preisgibt, indem man dem Foto etwas hinzufügt, das nicht auf ihm zu sehen ist. Man kann sich aber auch fragen, inwieweit das selbst Hinzugefügte nicht doch schon im Foto enthalten ist.
So einen Treffer landet das Bild, auf dem eine Flasche Windhoek Lager im Bücherregal von Volker Panzer, Moderator des ZDF-Nachtstudios, zu sehen ist. Das rührt einen wirklich, dass der manchmal verstiegen-gediegene Fernsehintellektuelle Panzer eine Flasche Windhoek Lager, eines der besten Biere Afrikas, in ein Regal gestellt hat, in dem sonst Bücher stehen, in denen es um das »Experiment Europa« und »Das Mephisto-Prinzip« geht. Sollte Panzer heimlich auch ein Afrikaner geworden sein, wie man selbst?
Man selbst ist in den als katastrophal empfundenen Nullerjahren jeder Einladung gefolgt, die einen von Libyen über Äthiopien bis Namibia für ein paar Wochen nach Afrika brachte, um der Finsternis hierzulande zu entfliehen. Und Windhoek Lager war dabei in den schönsten Tagen auf dem sogenannten schwarzen Kontinent ein zuverlässiger Freund. Auf das Foto, das Volker Panzer und sein Bücherregal mit der Bierflasche zeigt, folgt ein Porträt von Bommi Baumann, der in feines britisches Landlordtuch gehüllt ist und so weise in die Welt strahlt, dass man unwillkürlich ins Bild zurücklacht.
Es fallen einem dazu sofort die Fotos ein, die die Twins – das sind Gisela Getty und Jutta Winkelmann – von dem ehemaligen Haschrebellen und abgeschworenen Terroristen 1973 in Rom gemacht haben. Baumann, der sich damals, als der Summer of Love in Rom angekommen war, auf der Flucht vor der deutschen Polizei auf dem Weg nach Afghanistan befand, sieht auf den Bildern der Twins genau so gut aus, wie jeder junge, denkende Mensch aussehen will. Die Aufnahme von Goetz zeigt nun, dass das Alter zwar seine Spuren im Gesicht Baumanns hinterlassen hat, dass es ihn aber nicht hat verhärten lassen. Baumann wird zum letzten strahlenden Botschafter des freien Afghanistan, bevor Russen, Amerikaner und jetzt eben auch Deutsche alles in Schutt Asche gelegt haben.
Die deutsche Politik ist ein weiteres Thema des Bandes. Die Verteidigungsminister-Riege der vergangenen Jahre – Rühe, Scharping, Struck, Jung, Guttenberg – bildet den Kontrapunkt zu jenen Porträts der Freunde, mit denen Goetz das gelingt, was er meint, schreibend nicht zu können, nämlich von Freundschaft, Gefühlen und Zartheit zu »erzählen«.
Es gibt im Band das Foto eines Freundes, des Autors Detlef Kuhlbrodt, das eines der schönsten ist, das man von Detlef je gesehen hat. Er steht mit der Kamera in der Hand in dem inzwischen leider geschlossenen Suhrkamp-Ladengeschäft in Berlin und blickt über seine Kamera auf den fotografierenden Goetz. Dass sie beide Schnappschuss-Dokumentaristen der Nullerjahre sind, ist dabei wirklich nur der oberflächliche Zugang zum Foto. Aus dem Bild spricht so viel Zartheit und Distanz des Fotografen gegenüber dem Fotografierten, dass man Gänsehaut bekommt und an das Credo von Rainald Goetz denkt, das da lautet: »Und jedes Bild sagt Nein zu jeder Reduktion der Worte.«
Um aus dem Strom der Assoziationen wieder herauszukommen, legt man sich zwei andere Fotobücher neben Goetz’ Bildband: Martin Kippenbergers 1980 bei Merve erschienener Band »Frauen« und Hervé Guiberts »Le Seul Visage« von 1984. Der Schriftsteller Guibert, der in Deutschland durch Romane über seine Aids-Erkrankung bekannt ist, kombiniert in seinem Fotoband Porträts von Freunden mit Bildern von Bäumen, arrangierten Stillleben und Gemälden, wie auch Goetz es in seinem Band macht. Eine Gemeinsamkeit der beiden Fotografen ist auch die Art und Weise, wie sie Intimität zu dem Fotografierten herstellen. Guibert hat das wohl intimste und schönste Foto von Foucault veröffentlicht und darin alle Scham und Distanz in der Nähe gewahrt. Es zeigt den Philosophen in einer Art Bademantel-Kimono in einer offenen Tür stehend. Ein Kunststück, das Goetz ganz mit einem Porträt seines Malerfreundes Albert Oehlen gelingt. Die Unterzeile zu dem Bild lautet: »Skep­tor’s Skepsis«.
Während Kippenberger in seinem mittlerweile bereits legendär gewordenen Band Schwarz-Weiß-Porträts von Frauen versammelt hatte, wobei er mit der Mehrzahl der Gezeigten wohl befreundet war. Das gab dem Band den Beigeschmack des Machohaften, was seinerzeit von Mitarbeiterinnen in Frauenbuchläden auch bemerkt worden ist, die dem Verlag das Buch entsetzt zurückgeschickt hatten.
Goetz’ Frauenporträts funktionieren anders. Die Bilder wurden zumeist im Nachtleben oder im Kunstbetrieb aufgenommen, und die sexuelle Kraft bleibt hier immer unter den Frauen. Manchmal schon leicht mitgenommen von den Anstrengungen der Nacht, wenden sie sich anderen Frauen in der Berührung zu. »Soziologie der Sexualität« hat Goetz eines der Bilder kommentiert.
Als Bericht aus einem besseren Leben kann man die Fotos aus der Party- und Kunstwelt begreifen, wobei Goetz auch die harten Szenen der Nacht einfängt. Auf einem Bild sieht man ihn selbst mit blutig zerschlagener Nase, eine Aufnahme, die Anfang der Nullerjahre im Pogo, einem Technoclub im Keller der Berliner Kunstwerke, entstanden ist. Es sind Partybilder, die den chronologisch geordneten Band einleiten und die einen ziemlich mitgenommen zurücklassen. Die Bilder sagen, das war doch erst gestern, und trotzdem ist es schon zehn Jahre her.
Wenn man weiterblättert und dann kurz da­rauf eine Aufnahme mit Jürgen Möllemann und Rainer Brüderle, die zusammen vor Pressevertretern erscheinen, entdeckt, wird es ganz dunkel: Wer kennt schon noch Möllemann, während aber Brüderle nach wie vor und nicht gealtert derselbe zu sein scheint. Man kann in solchen Momenten gut nachvollziehen, dass Goetz die Nullerjahre als »extrem düster«, als »Finsternis­exzess« empfunden hat, wie er in einem Interview mit dem Zeit-Magazin sagte, schließlich markieren diese Jahre doch auch einen Bruch in seinem Werk. Gegen Ende des alten Jahrtausends hatte er mit dem Roman »Rave« sein Nachtlebenprojekt abgeschlossen und sich dem Roman der Theorie der Politik zugewandt. Zu dem Zweck stürzte er sich genauso intensiv ins politische Berlin wie zuvor ins Nachtleben. Allein, ein Roman wollte ihm nicht gelingen. Die Politik wurde ihm kein eigener Text. Warum das so war und ist, erahnt man beim Betrachten der Politiker-Bilder. Sie bleiben merkwürdig unpersönlich, aus ihnen spricht kein punctum, das einen eigenen Text oder eigene Bilder hervorbringt. Lustig sind sie vor allem durch die Bildunterschriften. »Von Bundespräsident Johannes Rau entlassen« heißt es zum Beispiel unter einem Foto, auf dem Rudolf Scharping neben Struck und Schröder eher lasch als stramm steht.
Es fehlt auf den Bildern aus Parlament und Staatsrepräsentationsarchitektur das, was über die Fotografie hinaus ins Offene weist. Politik als System scheint tatsächlich eine geschlossene Veranstaltung zu sein, in die man mit den Mitteln der Kunst nicht eindringen kann. Goetz scheint das auch so zu sehen, und so schreibt er unter das Bild der Gedenktafel des 1922 ermordeten Reichsaußenministers Walter Rathenau die Worte »Niklas Luhmann, Politische Soziologie«.
Aber trotz des Scheiterns am Roman der Politik geben die Bilder das politische Geschehen in der Zeit von 2000 bis 2010 wieder, so dass die Arbeit des Parlamentsreporters Goetz sich in das Projekt »Schlucht« einfügt: Es ist, als seien die Bilder der Roman. Der Bildband figuriert als vierter Band der Reihe »Schlucht«, die mit »Klage«, dem Abbruck seines für die deutsche Ausgabe der Vanity Fair verfassten Blogs, begann und mit »Loslabern« seine Fortsetzung fand.
Dass das Buch »Elfter September 2010« überhaupt erschienen ist, ist seinem Lektor bei Suhrkamp zu verdanken, von dem die Idee stammt. Goetz hat immer schon mit Fotos gearbeitet, zum Gesellschaftsfotografen, den man nirgendwo mehr ohne Kamera sah, ist er aber erst im neuen Jahrtausend geworden. Aus der riesigen Sammlung seiner Fotos hat er diesen Band als Auswahl zusammengestellt. Eine Auswahl, die er mit dem Zwischentitel »Werkwärts 3&4«, den er für die Bilder aus den Jahren 2008 bis 2010 gewählt hat, in Verbindung mit Rolf Dieter Brinkmanns »Westwärts 1&2« bringt. Brinkmann hat seinerzeit den Gedichtband mit Fotos von Bäumen, Häusern, Menschen und amerikanischen Verkehrsschildern bestückt. Goetz’ doppelseitiges Foto von Blättern ist eine Referenz an diese Bilder. Er geht aber über den Brinkmannschen Gebrauch des Fotos insofern hinaus, als manche Bilder auf unheimliche Weise mit seinen Texten korrespondieren. Manchmal komponiert er Stillleben in seiner Wohnung mit Umzugskartons, Uhren, Zeitungen oder Malutensilien, die etwas von der Qual spürbar machen, die ihn in den langen Jahren, in denen er nicht schreiben konnte, befallen haben muss. »Sommermärchenhass, jährlich seit 2002, 2004, 2006« hat er unter eines der Stillleben geschrieben, auf dem Bild vermeldet: »Jungs, we love you« und »England weggemüllert«. Nachrichten also aus dem Jahr, als der am Bildband arbeitende Goetz den Hitze­som­mer der WM 2010 schon nicht mehr so schrecklich fand wie die Jahre davor.
Anlass zur Hoffnung soll das aber nicht geben, denn Fotos weisen im Unterschied zum Film nicht in die Zukunft. Sie zeigen nur, was war, im Moment der Aufnahme, und das Jahrzehnt hier auf den Fotos war nicht das tollste. Wie es aber war, davon zeugen die Bilder.

Rainald Goetz: Elfter September 2010. Suhrkamp, Berlin 2010, 224 Seiten, 34,90 Euro