Jazz nur für Erwachsene

Berlin Beatet Bestes. Folge 68. Coccinelle: »Je cherche un millionaire« (1959).

Wenn ich einen Plattenladen betrete, suche ich nie nach einer bestimmte Platte. Ich will mich von dem, was ich finde, überraschen lassen. Digging, also graben, ist der englische Fachbegriff für die Art Plattensuche, die ich betreibe. Deshalb hasse ich auch alphabetisch sortierte Plattenläden. Weil ich nichts Bestimmtes suche, muss ich mich durch alle Platten durchgraben. Dennoch gibt es ein grob umrissenes Spektrum von Genres, nach denen ich suche: Comedyplatten, Werbeschallplatten, politische Platten, Kinderplatten, Platten von Kindern, Platten von Greisen, Platten aus exotischen Ländern und Platten für Erwachsene.
Auf der Single steht praktischerweise vorne schon drauf: »Verboten für unter 16jährige«. Das Cover mit der lasziv dreinblickenden, halbnackten Coccinelle fiel mir in einem Lissabonner Plattenladen ins Auge. Über die Interpretin wusste ich nichts. Nichts Bestimmtes zu suchen, ist nicht nur sportlicher, es kann auch bilden. Zuhause bei meinen Lissabonner Gastgebern, Marcos und Joana, löste die Platte jedenfalls Begeisterung aus. Offensichtlich jugendgefährdend klingen die zwei swingenden Songs von Coccinelle zwar nicht, der schnelle Jazz-Titel »Avec son petit faux-cul« ist aber zumindest zweideutig. Faux-cul bedeutet sowohl »falscher Arsch« als auch »Heuchlerin«. Ende des 19. Jahrhunderts war ein faux-cul eine Polsterung, die den weib­lichen Po vorteilhaft hervorheben sollte. Sofort recherchierte Joana im Internet und präsentierte eine Überraschung: Coccinelle ist Frankreichs erste und berühmteste Transsexuelle. Bereits 1958 ließ sie in Casablanca eine geschlechtsangleichende Operation machen und wurde damit zu einer Pionierin der Transsexuellenbewegung. 1931 in Paris als Jacques Charles Dufresnoy geboren, nannte sie sich ab 1953 Coccinelle, also Marienkäfer. Jahrelang trat sie regelmäßig in dem berühmten Nachtclub »Le Carrousel de Paris« auf. Als Frankreichs erster transsexueller Star spielte sie bis 1968 in mehreren Filmen mit. Sie war insgesamt dreimal verheiratet. Als sie 1960 vor den Traualtar trat, wurde die erste von der französischen Regierung offiziell anerkannte transsexuelle Verbindung hergestellt. Seither haben Transgenderpersonen in Frankreich das Recht zu heiraten. Coccinelle engagierte sich für die Rechte von Transsexuellen und gründete 1994 den Verein Devenir Femme, um Menschen, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen wollten, emotionale und praktische Hilfe anzubieten. Außerdem ist sie die Mitbegründerin des französischen Zentrums für Hilfe, Forschung und Information über Gender­identität und Transsexualität. 2006 starb Coccinelle an einem Schlaganfall.
Von ihrer Geschichte hätte ich ohne das Internet nie erfahren. Coccinelle hätte ich für eine attraktive, aber gewöhnliche Frau gehalten, und warum diese Schallplatte nur an Erwachsene verkauft werden durfte, wäre mir ein Rätsel geblieben. So merkwürdig und manisch meine Sammelleidenschaft auch sein mag, sie bildet.