Die Debatte über »Deutschenfeindlichkeit« 

Die Konstruktion des Fremden

In der Debatte um »Deutschenfeindlichkeit« werden die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt.

Dass sich Deutschland abschafft, wissen wir spätestens seit dem Erscheinen des gleichnamigen Buches von Thilo Sarrazin. Dass die deutsche Gesellschaft abgeschafft wird durch rassistische Gewalttaten und Beschimpfungen gegenüber den eigenen Landsleuten seitens »muslimischer« Jugendlicher, ist eine weitere – wenn auch nicht neue – Erkenntnis, die einmal mehr offenbart: Die Nation ist in Gefahr. Dies zumindest suggerieren zahlreiche Äußerungen ranghoher Politiker, Leitartikel der führenden Medien und Berichte über Einzelschicksale deutscher Schüler. Auf Schulhöfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln würden deutsche Kinder und Jugendliche angegriffen, weil sie Deutsche seien, und als »deutsche Kartoffel« oder »deutsche Schlampe« bezeichnet. Der Stern hat in einer nicht repräsentativen Umfrage herausgefunden, dass fast 85 Prozent der Befragten bereits einmal Opfer von »Deutschenfeindlichkeit« geworden seien.
Insbesondere Familienministerin Kristina Schröder (CDU) hat sich des Themas »Deutschenfeindlichkeit« angenommen, denn »auch das ist eine Form des Rassismus«, wie sie betont. Aber was heißt hier eigentlich »auch«? Schröder, die sich gern als Expertin für »Extremismus« präsentiert, ist bislang nicht als glaubwürdige Antirassistin aufgefallen. Rechtsextreme Strukturen sind für sie zuvorderst ein Problem des politischen Extremismus, der wie »Extremismus jeglicher Couleur« zu bekämpfen sei. Ihr »Extremismus-Bekämpfungsprogramm« von Juli dieses Jahres beinhaltet eine Ausweitung von Projekten gegen »Linksextremismus«. Auch ihr Engagement gegen »Deutschenfeindlichkeit« rechtfertigt sie mit dem Kampf gegen die politischen Ränder jenseits der Volksparteien: Es gehe darum, »das Thema nicht den Rechtspopulisten zu überlassen«. Inhaltliche Berührungsängste scheint Schröder hingegen nicht zu haben: Nach einem Bericht der antifaschistischen Zeitung Lotta hat sie noch bis vor kurzem Texte der Jungen Freiheit und des Weblogs Politically Incorrect auf ihrer Homepage verlinkt.

Konservative Medien widmen sich seit geraumer Zeit der »Deutschenfeindlichkeit«. Das Thema wird allerdings nicht nur am rechten Rand diskutiert. Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher beklagte schon 2008 eine »Desintegration der Mehrheit durch punktuelles Totschlagen Einzelner«. Im gleichen Jahr forderte der CDU-Frak­tionsvorsitzende im hessischen Landtag, Christean Wagner, die sofortige Abschiebung von Ausländern, wenn sie Einheimische mit den Worten »Scheißdeutscher« beschimpfen. Als Argument werden einzelne Vorfälle wie ein Übergriff auf einen Busfahrer herangezogen, der sich 2008 in Berlin ereignete und bei dem die Worte »Alles nur Scheißdeutsche überall« gefallen seien. Unterstützt werden die politischen Meinungsmacher durch Berichte aus der strafrechtlichen Praxis: »Wir stellen bei den Gewalttätern seit einiger Zeit eine unverblümte Deutschenfeindlichkeit fest«, hatte die mittlerweile verstorbene Berliner Richterin Kirsten Heisig schon 2006 in einem Interview mit dem Tagesspiegel berichtet. Mit der Debatte um die Thesen von Sarrazin scheint der ideale Zeitpunkt gekommen, um Klartext zu reden, wie Regina Mönch in der FAZ erklärt: »Zu lange wurde geduldet (...) und das Problem rhe­torisch verbrämt: Es gibt einen Rassismus in sozialen Brennpunkten, der von muslimischen Schülern ausgeht.«

Die politischen Kreise, die üblicherweise den gesellschaftlichen Ausschluss von Nicht-Deutschen in Sammellagern als notwendig, Abschiebungen von Roma in das Kosovo als menschenrechtskonform und gewalttätige Übergriffe von Privatper­sonen auf Migranten allenfalls als »fremdenfeindlich« bezeichnen, reden nun also von Rassismus. Die Debatte ist allerdings keiner Unerfahrenheit im Umgang mit politischen Begriffen geschuldet. Sie beruht auf dem Wunsch, die Deutschen als Opfer statt als Täter zu inszenieren und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen.
Rassismus besteht allerdings nicht darin, dass Menschen aus einer gesellschaftlichen Gruppe von Menschen aus einer anderen gesellschaftlichen Gruppe in einem einzelnen Fall schlecht behandelt werden. Bereits die Unterteilung der Gesellschaft in mehrere Gruppen, die in einem ­hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, begünstigt rassistische Strukturen. Indem Gruppen von »Deutschen« einerseits und »Nicht-Deutschen« andererseits gegenübergestellt werden, sind die Privilegien schon verteilt und werden fortan sozial, politisch und rechtlich nur noch reproduziert. Ein »Deutscher« kann zwar von einem »Nicht-Deutschen« wegen seines »Deutschseins« angegriffen oder beleidigt werden, jedoch ändert das nicht grundlegend die Position, die die Beteiligten in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen.

Eine rassistische Gesellschaft ist darauf angewiesen, den Gegensatz von »Einheimischen« und »Fremden« immer aufs Neue zu legitimieren. Da bietet es sich an, auf gewalttätige »muslimische« Männer und deren deutsche Opfer zu verweisen und damit scheinbar menschenfreundliche Argumente ins Feld zu führen. Tatsächlich werden dabei Gewalttaten und patriarchale Strukturen kulturalisiert: Wenn »muslimische« Jugendliche in Deutschland Gewalt ausüben, wird dies auf die »muslimische Machokultur« zurückgeführt; wenn hingegen ein deutscher Schüler Amok läuft oder seine Lehrerin bedroht, liegt das daran, dass der Täter gesellschaftlich ausgestoßen wurde oder nicht genügend Aufmerksamkeit bekam.
Sexistische Verhaltensweisen sind nicht das wirkliche Objekt der Kritik. Vielmehr wird der kolonialistisch vorgeprägte Gegensatz zwischen Okzident und Orient fortgeführt. Der Verweis auf das rückständige Andere durch die politischen Meinungsmacher dient vor allem einem: der Verfestigung einer westlichen oder nationalen Identität und dem Bild der »eigenen« fortschrittlichen Gesellschaft, die frei von Sexismus, Gewalt und anderen Widersprüchen sei. Folgerichtig suggeriert der herrschende Integrationsdiskurs eine homogene deutsche Gesellschaft, an welche sich die von außen kommenden »fremden« Migranten anpassen müssen.
Gleichgültig ist, ob die »Gefahr« von »muslimischen«, »türkisch-stämmigen«, »arabischen« oder migrantischen Jugendlichen ausgeht. Wichtig ist allein der Gegensatz zwischen »uns« und den »Fremden«. Ebenso austauschbar sind die Bilder, die der Konstruktion von »Fremdheit« zugrundeliegen: Seien es gewalttätige Über­griffe oder Kopftücher, sei es die Einwanderung in die Sozialsysteme – von Bedeutung ist allein, ob »unsere Kultur« oder »unser Staat« bedroht wird.
Diesem Weltbild darf nicht ein naiver Kulter­relativismus gegenübergestellt werden, der Gewalt und Patriarchat als kulturelle Eigenheiten toleriert. Ebenso wenig geht es einem konsequenten Antirassismus darum, Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen außerhalb der deutschen Gesellschaft zu tabuisieren.
Kritik von weißen Deutschen an Unterdrückungsverhältnissen, die sich auf den »fremden« Islam gründen, findet jedoch niemals im luftleeren Raum fernab hegemonialer Denkmuster statt. Sie kann noch so emanzipatorisch gemeint sein – sie ist immer der Schwierigkeit ausgesetzt, in unterschiedliche Hierarchieverhältnisse eingebettet zu sein, und birgt zwangsläufig die Gefahr, den Ausschluss des »Fremden« zu reproduzieren. Dieses Dilemma kann nicht einfach nach einer Seite hin aufgelöst werden.