Kritik an der israelischen Siedlungspolitik

Jenseits der Grünen Linie

In den israelischen Siedlungen im Westjordanland wird erneut gebaut, und die Regierung Benjamin Netanjahus will einen Loyalitätseid einführen. Linke und ­liberale Israelis kritisieren den Rechtsruck.

Etwas seltsam mutete es an, als sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei den offiziellen Gedenkveranstaltungen zum 15. Jahrestag der Ermordung Yitzhak Rabins in der vergangenen Woche als dessen politischer Erbe zu präsentieren suchte. »Ich teile deine Meinung, dass wir nie aufhören dürfen, auf einen Frieden zu drängen«, sagte Netanjahu an den Toten gerichtet.
Die Friedensverhandlungen kommen jedoch nicht voran. Die israelische Regierung weigert sich, den Baustopp für die jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland zu verlängern, und fordert von den Palästinensern, Israel explizit als jüdischen Staat anzuerkennen. Die paläs­tinensische Autonomiebehörde lehnt eine solche Anerkennung ab und verlangt einen umfassenden Baustopp als Bedingung für die Wiederaufnahme der Verhandlungen.
Tatsächlich wurde die Bautätigkeit in den Siedlungen seit dem Ende des Moratoriums am 26. September wieder aufgenommen und sogar beschleunigt. Eine Untersuchung der Nachrichtenagentur Associated Press ergab, dass im Westjordanland seither mit dem Bau von mindestens 550 neuen Wohneinheiten begonnen wurde. Die Siedlungen wachsen derzeit mehr als viermal so schnell wie vor dem Baustopp, und gebaut wird häufig an Orten, die bei jeder denkbaren ­Einigung an die Palästinenser fallen müssten. Die palästinensische Führung sieht, im Einklang mit allen linken und liberalen Beobachtern in Israel, die Siedlungen als das Haupthindernis für eine Einigung und die Errichtung eines palästinensischen Staats.

Bereits jetzt ist es schwer vorstellbar, wie eine Räumung vonstatten gehen soll. Zwar wohnt die Mehrzahl der etwa 300 000 Siedler in unmittelbarer Nähe der »Grünen Linie«, diese Regionen könnten durch einen Gebietsaustausch Israel zugeschlagen werden. Doch ein Drittel lebt tief im Innern eines möglichen zukünftigen palästinensischen Staates. Unter ihnen finden sich die radikalsten Gruppen der Siedlerbewegung. Der Aufruhr, der die Evakuierung von 9 000 Siedlern aus dem Gaza-Streifen begleitete, lässt im Fall einer Räumung erheblichen Widerstand erwarten. Dementsprechend sensibel reagieren die Palästinenser, wenn in diesem Gebiet weiter gebaut wird.
Mittlerweile hat Netanjahu angeboten, den Baustopp zu verlängern, als Gegenleistung für eine Anerkennung Israels als jüdischen Staat durch die Palästinenser. Die palästinensische Führung wies dies umgehend zurück. Sie fürchtet, dass dadurch nicht nur ihre Verhandlungsposition in Hinblick auf die palästinensischen Flüchtlinge geschwächt, sondern auch die Stellung der arabischen Minderheit in Israel gefährdet würde.
Zwar hat die PLO bereits 1988 die Existenz Israels formell anerkannt. Da Israel sich schon in seiner Unabhängigkeitserklärung als »jüdischen Staat« definierte, erscheint die palästinensische Position auf den ersten Blick als eine Weigerung, die Konsequenzen aus dieser Anerkennung zu ziehen. Die Tatsache, dass Netanjahu diese Forderung gerade jetzt erhebt, zeigt jedoch vor allem den Unwillen seiner Regierung, sich auf echte Verhandlungen einzulassen. So sieht dies auch der palästinensische Politiker Nabil Sha’ath, der in einem Gastbeitrag für die israelische Tageszeitung Ha’aretz schreibt, dass Israel vom eigentlichen Problem, dem Siedlungsbau, ablenken wolle.

Viele israelische Regierungskritiker betrachten Netanjahus Forderung als Zeichen für einen bedrohlichen Rechtsruck. Sie sehen die Forderung im Kontext der Debatte um einen Loyalitätseid auf Israel als jüdischen und demokratischen Staat. Diese Debatte wurde von der rechten Partei Israel Beitenu von Außenminister Avigdor Lieberman initiiert, der im vorigen Wahlkampf mit der gegen die arabische Minderheit gerichteten Parole »Ohne Loyalität keine Staatsbürgerschaft« erfolgreich um Stimmen warb. Die Verabschiedung entsprechender Gesetze war eine der Bedingungen von Israel Beitenu für den Beitritt zur Koalition Netanjahus.
Inzwischen wurde ein erster Gesetzesentwurf vom Kabinett auf den Weg gebracht, der einen solchen Loyalitätseid von Neueinwanderern verlangt, aber innerhalb wie außerhalb der Regierungsparteien auf heftige Kritik stößt. Am vorvergangenen Samstag folgten mehrere tausend Menschen den Aufrufen von linken Parteien und Bürgerrechtsorganisationen zu einer Demon­stration in Tel Aviv. Ebenso wie viele linke Intellektuelle und Kommentatoren verurteilten die Teilnehmer das Gesetz als rassistisch, da es zunächst nur auf nichtjüdische Einwanderer an­gewendet werden soll. Auch innerhalb der Regierung gab es Vorbehalte, so dass sich Netanjahu entschloss, eine Änderung vornehmen zu lassen. Dies wiederum erzürnte Repräsentanten der Immigranten aus der früheren Sowjetunion, die einen Unterschied zwischen in Israel geborenen und eingewanderten Juden nicht gelten lassen wollen. Ob das Gesetz eine Mehrheit in der Knesset findet, ist daher völlig offen.
Linke Politiker und Bürgerrechtler kritisieren auch nicht in erster Linie das Gesetz selbst, zumal es wegen der restriktiven Einwanderungspolitik ohnehin nur auf eine verschwindend geringe Anzahl von Nichtjuden Anwendung finden würde. Als weit schwerer wiegend erachten sie die symbolische Bedeutung, und sie fürchten, dass weitere Maßnahmen folgen werden.

Israel Beitenu strebt an, den Loyalitätseid auch auf andere Bevölkerungsgruppen anzuwenden, darunter politische Funktionsträger und Parlamentsabgeordnete. Dies aber würde bedeuten, die arabischen Israelis von der politischen Partizipation auszuschließen. Die arabischen Israelis haben sich nach Erkenntnissen von Soziologen in den vergangenen Jahren immer weiter »israelisiert«, doch droht Netanjahus Politik, diesen Prozess rückgängig zu machen. Viele Beobachter fürchten daher nicht nur um die demokratische Integrität Israels, sondern auch um die relative Integration der arabischen Minderheit.
Immer deutlicher wird, dass mit der gegenwärtigen israelischen Regierung eine liberale Innenpolitik oder ein Durchbruch in den – gegenwärtig ohnehin nicht stattfindenden – Friedensverhandlungen nicht möglich ist. Eine politische Alternative ist jedoch derzeit nicht in Sicht. Von den Drohungen einzelner Politiker der Arbeitspartei, die Koalition zu verlassen, ist so viel zu halten wie von allen sozialdemokratischen Drohungen dieser Art. Jüngst gab es wieder Gerüchte darüber, dass Netanjahu die Oppositionspartei Kadima anstelle von Israel Beitenu in die Regierung holen könnte. Doch weder unter der derzeitigen Oppositionsführerin Zipi Livni noch unter Ehud Olmert und schon gar nicht unter Ariel Sharon hat Kadima eine wesentlich andere Politik gemacht als der Likud heute.
Es fehlt in Israel derzeit eine gesellschaftliche Bewegung, die eine aktivere Friedenspolitik fordert, und es fehlt eine Partei, die diese zu verwirklichen bereit wäre. Symptomatisch ist, dass für die öffentliche Kundgebung zum Gedenken an Yitzhak Rabin auf dem nach ihm benannten Platz in Tel Aviv am kommenden Samstag gerade einmal ein paar tausend Menschen erwartet werden. Ehud Barak, Rabins Nachfolger als Vorsitzender derjenigen Partei, die einmal die Partei des Friedensprozesses war, wird gar nicht erst eingeladen werden. Vermutlich würde er auch nicht kommen. Im vorigen Jahr musste er vor wütenden Demonstranten die Flucht ergreifen.