Über den Ausnahmezustand in Marseille 

Soldaten in der Innenstadt

In Marseille ist der Streik der Müllafuhr zu Ende. Lange herrschte dort Ausnahmezustand. Das Militär räumte dort den Müll von den Straßen weg. Mehrere Bereiche des öffentlichen Dienstes werden noch bestreikt, und ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht.
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Mittwoch, 20. Oktober, kurz nach 15 Uhr. Weiße Gestalten tauchen in Gruppen in der Nähe des alten Hafens auf. Polizeiwagen sperren die Straßen ab. Schwere, khakifarbene Armeelastwagen besetzen die Innenstadt. Über den Köpfen der Fußgänger wehen Plastiksäcke, vom Mistral gebläht. Ein Wind, der den freigelegten Gestank in die Gassen treibt.
In der Rue Saint-Ferréol mit ihren eleganten Geschäften beginnt die Zivilschutzeinheit des Militärs die Abfallberge abzutragen und Sack für Sack auf die Lastwagen zu werfen. Am Abend wird nur ein Bruchteil der geschätzten 8 000 Tonnen Müll, die sich in den Straßen von Marseille nach acht Tagen Streik der städtischen Müllabfuhr angesammelt haben, verschwunden sein. Die spektakuläre Säuberungsaktion wird von Soldaten durchgeführt, die weiße Masken und Overalls zum Schutz vor radioaktiven, bakteriologischen und chemischen Gefahren tragen. Den »prä-epidemischen Zustand« aber, den der Präfekt der Region, Michel Sappin, ausgerufen hat, müssen die Soldaten im postapokalyptischen Outfit anscheinend allein im Einkaufsviertel bekämpfen. Dabei sind fast alle Viertel vom Streik bei der Müllabfuhr und der Blockade der Depots betroffen. Die Gewerkschaften hatten zunächst angekündigt, den Protest fortzusetzen, bis die Regierung die Rentenreform zurückzieht. am Montagabend wurde der Streik jedoch aus »Hygienegründen« beendet. Der Präfekt hatte zuvor in einer Regionalzeitung ausrichten lassen, dass er die Leiter der Gewerkschaften für »psychisch krank« halte.
Einer von ihnen ist Patrick Rué, Generalsekretär der lokalen Force Ouvrière (FO). Seine Aussagen klingen nicht pathologisch, sondern eher etwas pathetisch: »Als eine rebellische Stadt bleibt Marseille seiner Tradition treu, sie ist seit jeher die erste Stadt, die sich gegen ungerechte Vorstöße erhebt. Die Rentenreform belastet ausschließlich die Lohnabhängigen.«

Gegen die Reform hat sich in der Metropole der Provence ein hartnäckiger Widerstand formiert, der mehrere Sektoren umfasst. Allein an diesem Mittwoch, einen Tag nach dem letzten nationalen Protesttag, werden der öffentliche Verkehr, Teile der Post, die Bahn, mehrere Schulen und Bibliotheken von Streikenden blockiert. ­Patrick Rué selbst leitet um 6 Uhr morgens eine Aktion, die den Verkehr durch den Tunnel Saint-Charles unterbrechen soll, und nimmt dafür eine Anklage in Kauf. »Leider ist das heute die einzige Lösung, das Land zu paralysieren. Die Regierung und der Präsident wollen nichts hören, aber es gibt immer noch eine Mehrheit im Land, die ihnen zeigt, dass sie die Reform zurücknehmen müssen.«
Am stärksten wirkt sich zweifellos der Streik in den Raffinerien an dem nahe gelegenen Étang de berre und dem angegliederten Industriehafen aus. Nach über drei Wochen Blockade liegen in der Bucht bei Marseille 65 Frachtschiffe vor Anker, davon 47 mit Rohöl oder Diesel beladene Tanker. Die Streikenden im viertgrößten Hafen Europas tragen somit wesentlich zur derzeitigen Treibstoffknappheit in Frankreich bei. Mit gutem Grund: Sie fordern, dass die für sie besonders hohe Arbeitsbelastung und die Gesundheitsrisiken bei der Festlegung des Rentenalters berücksichtigt werden.
Am längsten, seit über einem Monat, hält der Streik in den Krippen und den Schulkantinen an. Mehr als 300 Kantinen der rund 450 Schulen der Stadt bleiben bis auf Weiteres geschlossen. »In den Kantinen ist die Mehrheit der Angestellten weiblich. Wir sind doppelt benachteiligt«, sagt Arabella Lauzat, Delegierte des Kantinenpersonals, »dieser Niedriglohn führt zu Renten von etwa 900 Euro. Wer wegen Schwangerschaft und Erziehung die geforderten Beitragsjahre nicht aufweisen kann, erhält noch weniger. Mit 67 Jahren eine Rente, die nicht zum Leben reicht? Für uns Frauen kommt das nicht in Frage. Wir werden beim Protest immer die Ersten sein, wir werden immer mehr sein, und wir werden bis zum Ende dabei sein.«
Wie das Kräftemessen um die Rentenreform enden wird, ist offen. Wie schon bei früheren Protesten spielt die Regierung Sarkozy auf Zeit. Die soziale Bewegung hat sich jedoch derart ausgedehnt, dass bis zur Wiederaufnahme des Schul­betriebs nach den Ferien Anfang November zwar ein Abflauen, nicht aber der Abbruch der Massenproteste zu erwarten ist.

Noch nicht gewirkt hat auch die Repression. In der Regel verziehen sich bei Polizeieinsätzen die Protestierenden in aller Ruhe, um anderswo neue Blockaden zu errichten. Das geräumte Treibstoffdepot im benachbarten Fos-sur-Mer wurde aber wenige Tage später wieder besetzt.
Auch die Beteiligung von Schülern und Studenten an der Protestbewegung hat, mit Ausnahme von Lyon, nicht zu größeren Eskalationen geführt. In Marseille bleibt die Beteilung der jungen Menschen bisher relativ gering. Während sie in anderen Städten auf Demonstrationszügen von den Gewerkschaften diszipliniert werden, stellen sie hier selbst einen Ordnungsdienst. Und staunen in die schwarze Rauchsäule, welche Gewerkschafter ohne Rücksicht auf den herrschenden Benzinmangel mitten auf der Verkehrsachse am alten Hafen aufsteigen lassen.
»Les jeunes au boulot, les vieux au bistrot!« (Die Jungen an die Arbeit, die Alten in die Kneipe!) Die Sprechchöre der Gymnasiasten lassen keine Scheiben in Brüche gehen. Das Argument, die Heraufsetzung des Rentenalters werde die Jugendarbeitslosigkeit ansteigen lassen, ist den meisten geläufig. Auch Alain ist gut informiert und hat die Blockaden an seinem Gymnasium unterstützt. Der »Massenmanipulation« der Regierung hält der 17jährige entgegen: »Wenn wir länger arbeiten müssen, wird unsere Lebensqualität merklich sinken.«
Mit seinen 23 Jahren steht Florian le Pape bereits im Erwerbsleben. Die private Wasserfirma, bei der er angestellt ist, wird nicht bestreikt. An nationalen Aktionstagen wie am 19. Oktober legt aber auch er die Arbeit nieder. »Es ist bereits mein fünfter Streiktag in diesem Jahr. Wie allen Lohnabhängigen werden mir diese Tage vom Lohn abgezogen. Aber ich denke, dass sie notwendig sind.« An der Taktik des Gewerkschaftsbündnisses zweifelt er: »Ein Generalstreik über drei oder vier Tage würde auch zu Einbußen führen, aber wir würden fast sicher am Schluss gewinnen. Mit den eintägigen Streiks jede Woche können schließlich sieben bis acht Tage ausfallen, ohne dass wir erreichen, was wir wollen. Ich glaube, dass sich die Bewegung radikalisieren muss.«
In Marseille hat die Bewegung eine Stärke erreicht, die es zulässt, durch abwechselnde Streiks in einzelnen Sektoren einen Aktionstag dem anderen folgen zu lassen, so dass der Streik nicht unterbrochen wird. Für den ersten von zwei weiteren Protesttagen, am Donnerstag dieser Woche, sind Aktionen geplant. Das Motto lautet: »Vier Donnerstage für die nächste Woche.«
Auf Dauer droht die Bewegung jedoch, sich zu verzetteln. Es fehlt an verbindlichen Ideen, die über den bloßen Widerstand gegen die Rentenreform hinausgehen. Ein Generalstreik könnte die Protestgruppen immerhin zusammenführen und ist effizienter als vier Donnerstage. Zudem würde das gezielte Lahmlegen der Wirtschaft für einige Tage die Lebensqualität weniger beeinträchtigen als ständig wachsende Müllhaufen und die eingeschränkte Mobilität während der Ferien.