Die Ausstellung »Das Potosì-Prinzip« in Berlin

Am Anfang war das Silber

Der Bergbau hat das bolivianische Potosí im 17. Jahrhundert reich gemacht. Die Ausstellung »Das Potosí-Prinzip« im Berliner Haus der Kulturen der Welt beschäftigt sich mit dem Aufstieg der Stadt und der Zirkulation von Waren und Bildern.

Principio, das bedeutet im Spanischen sowohl Anfang als auch Prinzip. Und Potosí steht tatsächlich am Anfang jenes Prozesses, der heute verklärend als »Entstehung der Moderne« beschrieben wird. Die bolivianische Minenstadt ist im 16. Jahrhundert größer und prächtiger als London oder Paris. Mit dem Silber, das aus dem Cerro Rico, dem Reichen Berg, gewonnen wird, hätte man eine Brücke über den Atlantik bis zum Hafen von Cádiz bauen können. Dort wird das Silber auf Schiffe ver­laden, die direkt nach England gehen, denn der spanische König ist hoch verschuldet. Es sind die indigenen Zwangsarbeiter, die den Reichtum aus dem Berg heraushämmern und die zu Hunderttausenden in den Minen sterben. Das Silber aus Potosí trägt entscheidend zu jener ursprünglichen Akkumulation bei, welche die Entstehung des Kapitalismus in Europa ermöglicht hat. Insofern ist Potosí nicht nur der Beginn, sondern auch das Prinzip, das unsere Gesellschaft seitdem begleitet.
»Potosí ist Gegenwart, ist jetzt und europä­ische Geschichte«, erklären die Kuratoren Alice Creischer, Andreas Siekmann und Max Jorge Hinderer im Editorial des Kataloges, der begleitend zur Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt erschienen ist. »Das Potosí-Prinzip: Wie können wir das Lied des Herrn im fremden Land singen?« lautet der Titel der Ausstellung im Rahmen der Feierlichkeiten zum »Bicentenario«, dem Beginn der Unabhängigkeitsbe­wegungen in Lateinamerika vor 200 Jahren.
Nicht nur Rohstoffe, sondern auch Bilder werden vom kolonialisierten Lateinamerika nach Europa transportiert. Bis zu 10 000 Bilder christ­licher Ikonografie werden jährlich von den zumeist anonymen indigenen Künstlern gefertigt, nach Druckvorlagen aus der Plantinpresse in Antwerpen und fast identisch mit jenen Kunstwerken, die gleichzeitig in Europa und Asien hergestellt werden. Die Evangelisierung der indigenen Gruppen geht einher mit einem Prozess der Globalisierung von Kunst.
Creischer, Siekmann und Hinderer spannen nicht nur inhaltlich einen weiten Bogen, sondern wagen sich auch methodisch weit vor: 25 zeitgenössische internationale Künstler wurden von ihnen eingeladen, sich ein Werk aus dem andinen Barock auszusuchen, um mit dem Werk in einen künstlerischen Dialog zu treten. Angeordnet sind die Arbeiten in einem Labyrinth der Bezugnahmen, das sich dem Besucher nur dann erschließt, wenn er mit viel Zeit und Geduld sowie mit einem Ausstellungsguide in der Hand durch die Räume wandert. Oft führt der Weg quer durch die neue Ausstellungshalle des Hauses der Kulturen der Welt. Kontemplation, kurzes Staunen und dann weitergehen funktioniert hier nicht. Konsequent übertragen die Kuratoren Karten und Grafiken auf den Ausstellungsraum – ergänzt mit einer Menge an Informationen über die Entstehungsgeschichte und komplexen Interpretationen der historischen Werke, die man mitnichten vollständig aufnehmen und sofort verarbeiten kann. »Man kann die Dinge nicht nur durch Sehen begreifen«, sagt Andreas Siekmann. »Normalerweise ordnet der Besucher ein Werk anhand eines Schildchens mit dem Titel der Arbeit und dem Namen des Künstlers und dessen Herkunftslandes ein. Alles andere wird dann nachrangig. Bei uns gibt es keine Schildchen, sondern Informationen.«
Man wird den Intentionen der Kuratoren deshalb besser gerecht, wenn man gar nicht erst versucht, sich die komplette Ausstellung anzueignen. Besser ist es, der eigenen Wahrnehmung zu folgen und sich einzelne Werke vorzunehmen, etwa weil sie einen ästhetisch ansprechen oder weil der Text im Heft neugierig macht. Drei Werke sollen an dieser Stelle vorgestellt werden.
Da ist zunächst das Bild »Descripción del Cerro Rico e Imperial Villa de Potosí«. Es zeigt eine detaillierte Stadtansicht aus dem Jahr 1758. Aber sieht man wirklich die ganze Stadt? In seiner Antwort auf dieses Bild, »Das Silber und das Kreuz«, untersucht der Filmemacher und Künstler Harun Farocki die Leerstellen der historischen Darstellung und Szenen, die in der Gesamtansicht verloren gehen. Farockis Methode ist dabei so einfach wie effektiv: Er filmt das Bild von Nahem ab und kommentiert, was man sieht oder eben nicht sieht – zum Beispiel Minenausgänge und Zwangsarbeiter.
Für das nicht Sichtbare interessiert sich auch Maria Galindo, Mitglied des feministischen Kollektivs »Mujeres Creando« aus Bolivien. Galindos historische Vorlage ist »Las Novicias« (Die Novizen) aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gemalt von einem unbekannten Künstler. Das Bild zeigt zwei junge Mädchen, die von ihren Vätern den Oberen eines Klosters übergeben werden. Es sind die zweitgeborenen Töchter reicher Familien, die, anders als ihre älteren Schwestern, nicht verheiratet werden, sondern für den »Frieden im Himmel« bestimmt sind. Doch sind es nicht nur sie allein, die fortan hinter Klostermauern ihr Dasein fristen müssen. Auf dem Bild nicht zu sehen sind ihre Dienerinnen, indigene Frauen, die ihnen ins Kloster folgen müssen. Maria Galindo hat ein Raster aus Holz vor dem Gemälde angebracht, das erahnen lässt, dass der Betrachter immer nur Ausschnitte zu sehen bekommt.
Subtiler fällt die Bearbeitung des Gemäldes »Imposición de la casulla a San Ildefonso« durch den Argentinier Eduardo Molinari aus. Das Original, das mit großer Wahrscheinlichkeit von einem indigenen Kunstmaler stammt, besteht aus einer zweiteiligen Darstellung, ein Bild zeigt die Verlockungen des Himmels, das andere das Dasein auf Erden, zu sehen sind Könige und andere Würdenträger inmitten einer üppigen Pflanzenwelt, die nicht weniger prächtig erscheint als die himmlischen Sphären. »Ich habe mich gefragt, wie es dem Künstler erging, etwas zu malen, was nichts mit seinem Leben zu tun hatte, ja ihn vielleicht sogar angewidert hat. Dann ging es mir wie allen Künstlern hier darum, Kontinuitäten von Potosí zu finden, also den Wertschöpfungsketten der Gegenwart.« Molinari musste nicht weit fahren. Nur wenige Kilometer nördlich von Buenos Aires liegt die Grenze zur »Soja-Republik« des US-Konzerns Monsanto, die Teile Argentiniens, Paraguays, Uruguays, Boliviens und Brasiliens umfasst. Hier wird in Plantagen mit genmanipulierten Pflanzen 50 Prozent des weltweiten Sojabedarfs produziert. »Zunächst sieht das alles ganz friedlich aus, wie ein grüner Teppich. Aber wenn man nach den Hintergründen fragt, was mit dem Soja passiert und welche Folgen der Anbau für die lokale Bevölkerung hat, dann offenbart sich das Grauen«, beschreibt Molinari seine Reise, die er in einer Installation aus Fotos, Zeitungsausschnitten und Waschmaschinen festgehalten hat.
Die Gleichzeitigkeit von Grauen und Pracht ist es, welche die historische Entwicklung in Potosí kennzeichnet und auch gegenwärtige Prozesse der Kapitalakkumulation auszeichnet. Das Labyrinth der Ausstellung führt weiter in die Bereiche »Arabische Emirate« und »China« (leider ausgelagert: das sehenswerte »Museum der chinesischen Wanderarbeiter« im Haus der IG Metall), Zentren der ursprünglichen Akkumulation und des globalen Kunstbetriebs der Gegenwart. Trotz seiner staatstragenden Auftrags- und Geldgeber – dem Museo Nacional Reina in Sofía, wo die Ausstellung bereits zu sehen war, dem Bolivianischen Nationalmuseum in La Paz, wo sie demnächst Station macht, und der Kulturstiftung des Bundes – geht »Das Potosí-Prinzip« weit über den repräsentativen Rahmen der Feierlichkeiten des »Bicentenario« hinaus. Hier wird Kunst aus ihrer ästhetischen Hülle befreit und in den Kontext der Kapitalismuskritik gestellt.

Das Potosí-Prinzip. Haus der Kulturen der Welt, Berlin.