Google Street View und der virtuelle Gottesbeweis

Das Bild, das ich bin

Google Street View und die neue Metaphysik der Sichtbarkeit.

Seit zwei Wochen ist es amtlich: Gott ist Katholik. Auf den Bildern, die Google Street View durch puren Zufall von ihm gemacht haben soll, trägt er eine dunkelrote Kutte und wird von einer zweiten Gestalt in Rosarot begleitet. Diese Farben symbolisieren in der katholischen Ikonographie den Heiligen Geist und die Freude. Wem eine solch personifizierende Deutung zu banal klingt, der kann hinter den beiden Figuren aber auch Jesus und den Apostel Petrus in purpurnen Gewändern bei einem Erkundungsgang durch die Schöpfung vermuten. In jedem Fall handelt es sich, glaubt man der lautstarken Minderheit beinharter Google-Christen, um eine authentische Emanation. Zweimal ist Gott von Google schon geortet worden, beide Male in der Schweiz: zuerst an der A3 am Walensee bei Quarten im Kanton St. Gallen, danach sogar mitten in Zürich. Womöglich ist sein mehrmaliges Auftauchen innerhalb so kurzer Zeit als verspätetes Statement zum Minarett-Urteil im Musterland der Basisdemokratie zu verstehen, vielleicht handelt es sich aber auch um eine innerkirchliche Stellungnahme zur traditionellen Dominanz des Schweizer Calvinismus, unter der die Katholiken des Landes, die immerhin 40 Prozent der konfessionsgebundenen Bevölkerung ausmachen, nach wie vor zu leiden haben. Sollte die Echtheit der Erscheinung von höchster Stelle bestätigt werden, wäre das die erste göttliche Epiphanie außerhalb Südeuropas seit gefühlten 100 Jahren.
Der Vatikan, der jüngst mit stichhaltigen Argumenten die These lancierte, dass Homer Simpson in Wahrheit Katholik sei, hat sich bei der Google-Debatte jedoch auffällig zurückgehalten. Grund dafür dürfte nicht nur ein Bedürfnis nach kirchlicher Restseriosität sein, sondern auch das spezifisch katholische Verhältnis zum biblischen Bilderverbot. Aus diesem zogen Katholizismus und Protestantismus bekanntlich verschiedene, einander schroff widersprechende Konsequenzen. Der Protestantismus hat aus ihm einen als Alltagspraxis verordneten Exorzismus der Sinnlichkeit abgeleitet, welcher Prunk und Pomp, Ornament und Luxus als überflüssigen Zierat zu verdammen lehrt, der im Namen der Reinheit des göttlichen Logos zu versachlichen sei. Nicht in seinen exzessiven bildlichen Repräsentationen, sondern nur im Gotteswort selbst und in dem aus ihm folgenden, von Arbeit, Disziplin und Kargheit beherrschten Lebensalltag realisiere sich sein Sinn. Der Katholizismus hat sinnliche Schönheit zwar ebenfalls nie einfach als Abbild der göttlichen betrachtet, im Gegensatz zum Protestantismus jedoch gerade in deren prunkvollen Exzessen einen Vorschein jener Schönheit erkannt, welche die Schöpfung selber sei. Für den Protestantismus schließen sich Schönheit und Wahrheit, Ethos und Genuss tendenziell aus; für den Katholizismus sind die Exaltationen weltlicher Schönheit ein notwendig unzureichender, aber eben auch notwendiger Anklang der Schönheit der Schöpfung, die als erlöste nichts anderes wäre als der unendliche Genuss. Angesichts dessen versteht es sich von selbst, dass der ergooglte Gottesbeweis bei authentischen Katholiken allenfalls ein Achselzucken auslöst. Während Protestanten sich noch aus tiefstem Herzen über den schreienden Blödsinn solcher Kolportage ereifern können, ist sie echten Katholiken einfach egal, weil sie wissen, dass Gott, wenn er denn einmal wirklich erscheinen sollte, die A3 meiden und jede Google-Kamera überstrahlen würde. Vom Gedanken der Epiphanie mag man halten, was man will, eines ist sicher: Sie lässt sich weder filmen noch fotografieren. An ihr wird jede Logik der Reproduktion zunichte.
Tatsächlich unterhält der Widersinn einer vermeintlich gefilmten Epiphanie selbst eine untergründige Beziehung zum Atheismus, der in seiner modernen Variante nichts mehr mit Religionskritik zu tun hat, sondern ganz und gar auf die kleinbürgerliche Maxime »Ich glaube nur, was ich sehe« heruntergekommen ist. Der moderne Atheismus ist nichts anderes als ein zum Glauben erhobener, begriffsloser Positivismus. Weil ihm jede Negativität verhasst ist, begegnet er dem theologischen Dogma nicht mehr mit jener bitteren Polemik, die dem Atheismus bei Marx noch innewohnte, sondern nur mehr mit Indifferenz, Hohn oder routinierter Verachtung. Zu den beliebtesten Argumenten moderner Atheisten zählen denn auch Abgeschmacktheiten wie die Feststellung, die Verwandlung von Wein in Blut sei chemisch unmöglich und es sei bisher noch niemandem gelungen, ohne Hilfsmittel über das Wasser zu gehen. Als hätte je ein intelligenter Christ – und davon gibt es genügend – dergleichen behauptet. Solch ein fanatischer Glaube an die krude Empirie, der vom Wahrheitsgehalt der Phantasmen und Illusionen ebenso wenig weiß vom trügerischen Charakter der äußeren Wirklichkeit, hat die Neigung, aus eigener Dynamik heraus in Irrationalität und Aberglauben umzuschlagen. So finden Atheisten gewöhnlich nichts daran, unter Berufung auf ihren Oberguru Richard Dawkins an »Gene« und »Meme« zu glauben, nur weil deren Existenz im Gegensatz zu der Gottes angeblich naturwissenschaftlich »bewiesen« sei, und erklären unter dem Label eines »libertären Humanitarismus« freimütig ihre Solidarität mit allen möglichen Sekten, solange diese nur im Streit mit dem Dogma der institutionalisierten Kirche stehen. Wäre sie nicht so offensichtlich schwachsinnig, dass sie dem Atheismus einen bequemen Anlass zur erneuten Verächtlichmachung der Theologie bietet, die Geschichte vom gegoogleten Gott käme dem atheistischen Bedürfnis nach Verleugnung jedweder Transzendenz durchaus entgegen. Ein Gott, den man filmen kann, wäre ein Mensch wie Du und Ich und daher die Negation seines eigenen Begriffs. Ihm würde fehlen, was die positivistische Ideologie in ihrem Innersten schon immer gehasst hat, die Aura.
Dass die modernen Reproduktionstechniken der Aura ihrer eigenen Logik nach feindlich gesonnen sind, hat zuerst Walter Benjamin erkannt. Als Aura bezeichnet er die Erfahrung der ästhetischen Autonomie, die nach Maßgabe menschlicher Wahrnehmung auch Gegenständen der Natur als Signum ihrer Unverfügbarkeit innewohnen kann. Aura sei, schreibt Benjamin in seinem Aufsatz zum »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, die »Erfahrung einer Ferne, so nahe sie sein mag«. Fotografie und Film machen die äußere Wirklichkeit fungibel und beliebig reproduzierbar und lassen die Erfahrung dieser Unverfügbarkeit zu residualen, äußerst seltenen Augenblicken zusammenschrumpfen. Dennoch verhindern sie sie nicht vollends: Gerade in alten Fotografien entziffert Benjamin paradoxerweise Reste jener auratischen Erfahrung, die von der Fotografie als Technik doch gerade exorziert wird. Es sind vor allem Fotografien des menschlichen Gesichts, die eine im Moment ihrer Betrachtung schon wieder geschwundene, vergängliche und doch unverlierbare Gegenwart festhalten, in denen Benjamin die Aura im Augenblick ihres Verschwindens zu erblicken glaubt. Diese Erfahrung wird freilich nur möglich durch die zeitliche Distanz zwischen Aufnahme und Betrachtung: In den Anfängen der Porträtfotografie mussten Menschen vor der Kamera oft Minuten lang wie gefroren verharren, bis der chemische Prozess vollzogen war, den die spätere Fotografie auf Sekundenbruchteile gerafft hat.
Im Gefrieren der Person zum Bild, das der Entstehung des eigentlichen Bildes vorausgeht, bleibt innerhalb der Fotografie ein Aspekt der alten Porträtmalerei bewahrt: die äußerste Verdichtung der Zeit in einer Art kristallinem Augenblick, in dem das Unverwechselbare eines Menschen, das gerade in seiner Vergänglichkeit liegt, zusammengefasst wird. Die Wende von der analogen zur digitalen Reproduktion und die Entstehung des digitalen Echtzeitbildes, wie es durch Google Street View zum globalen Wahrnehmungsmodus avanciert ist, tilgen die zeitliche Distanz zwischen Aufnahme und Betrachtung und damit auch die Melancholie, die Benjamin in der Fotografie erkennt.
Die Melancholie der Fotografie besteht darin, dass sie etwas Wirkliches, aber Vergangenes festhält; deshalb wohnt allen Fotos, alten zumal, ein Moment der Traurigkeit inne. Die digitale Reproduktion dagegen hält nicht fest, was gewesen ist, sondern, was geschieht; sie zeigt nicht die Vergangenheit, sondern das permanente Vergehen. Der ihr angemessene Modus der Erfahrung ist nicht die Melancholie, sondern die Indifferenz. Sie entspricht einer Wirklichkeit, in der dem unwiederholbaren Prozess, der ein Leben ausmacht, jedes qualitative Moment genommen ist und Zeit selber auf eine Abfolge sinnloser Zeitpunkte zusammenschrumpft, die sich nur noch addieren, ohne je Gestalt zu gewinnen. Es ist die adäquate Zeiterfahrung von Menschen, die keine Biografien mehr haben, sondern nur noch Lebensläufe
Mehr als 250 000 Haushalte haben hierzulande schon Widerspruch gegen die Erfassung ihrer Häuserfronten durch Google eingelegt; in Italien ist gerichtlich entschieden worden, dass die Einwohner gewarnt werden müssen, bevor Google ihre Straßen heimsucht. Mit Google konkurrierende Anbieter wie Sightwalk, die der eigenen Aussage nach »nur Relevantes«, in der Regel touristisch bedeutende Orte, fotografieren, nutzen das Ressentiment gegen die globale Beobachtung für eigene Zwecke. Die diffuse Angst vor der drohenden »Ausspähung« der Privatsphäre, die sich rational kaum begründen lässt, ist indessen nur Symptom für den längst vollzogenen Niedergang des Privaten selbst. Gerade weil die Kameras von Google an keinerlei »Ausspähung« interessiert sind, sondern im Gegenteil interessenlos mit der immer selben Gleichgültigkeit alles filmen, was ihnen ins Visier kommt – in Brasilien sogar Leichen, die am Straßenrand von Rio offenbar ähnlich häufig vorkommen wie pinkelnde Männer im Görlitzer Park –, gerade also, weil Google sich für das unverwechselbare Individuum, das der private Bürger zu sein glaubt, überhaupt nicht interessiert, erweckt es namenlose Angst.
Nur wer im Stillen ahnt, dass das Glücksversprechen des Privaten längst im Orkus der Geschichte gelandet ist, vermag sich derart emphatisch mit dem äußeren Abbild der eigenen Existenz zu identifizieren, dass er den »Raub« dieses Bildes durch ein anonymes Kameraauge mit dem Verlust der Existenz gleichsetzt. Die Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, deren säkularisiertes Bewusstsein in die auratische Erfahrung eingewandert ist, zielte jenseits des ideologischen Abhubs, den sie transportierte, stets auch auf die Erkenntnis, dass jeder Einzelne mehr ist als seine eigene empirische Spur. Deshalb ist die Aura nicht einfach moderner Restbestand eines überholten theologischen Weltbildes, sondern hält dessen Wahrheitsmoment im Profanen fest: Das Lebendige an den Erscheinungen der empirischen Welt ist gerade das, worin sie über sich selbst hinausweisen und mehr sind als nur Gegenstände unter Gegenständen. Die Debatte um Googles göttliches Auge dagegen ist Reflex einer Wirklichkeit, in der den Menschen die trostlose Empirie des eigenen Alltags zur Welt geworden ist. Je schrecklicher das Wenige ist, das einem bleibt, umso mehr Angst hat man, es zu verlieren.