Griechenland bittet die EU um Hilfe bei der Flüchtlingsabwehr

Debüt der schnellen Eingreiftruppe

Zum ersten Mal seit Gründung der EU-Grenzschutzagentur Frontex im Jahr 2005 kommen in Griechenland die »Rapid Border Intervention Teams« zum Einsatz. Es ist ein weiterer Schritt zum Aufbau einer supranationalen Grenzpolizei.

Der Minister wand sich, als sei er selbst der Angeklagte. Doch das Verfahren, in dem Thomas de Maizière (CDU) am Donnerstag voriger Woche vor dem Bundesverfassungsgericht als Antragsgegner auftrat, sollte lediglich klären, ob die Zustände in Griechenland so beschaffen sind, dass man Flüchtlinge dorthin abschieben darf.
Das droht unter anderem dem 30jährigen Iraker Said S., der einst über die Ägäis in die EU kam. Er klagte in Karlsruhe, weil er arge Zweifel daran hegt, dass Griechenland ein Ort ist, an dem Flüchtlinge leben können. Seine Zweifel teilen unter anderem Länder wie Irland, Großbritannien, Holland, Österreich, Italien, Belgien und Schweden. Sie alle stoppten in der letzten Zeit Abschiebungen nach Griechenland, weil ihre Regierungen glauben, dass die Flüchtlingspolitik des Landes derzeit vollkommen im Chaos versinkt.
Nur der deutsche Innenminister, der sah die Sache anders. »Die Situation ist schwierig, aber noch kein Zusammenbruch«, sagte de Maizière. Griechenland sei zweifelsohne ein »Rechtsstaat« und ein »sicherer Drittstaat«, es liege »keine Ausnahmesituation vor«. Der Innenminister wollte unbedingt das Recht behalten, auch künftig all jene Flüchtlinge nach Griechenland zurückzuschicken, die von dort nach Deutschland kommen.

Vielleicht hätte Said S. versuchen sollen, einen anderen Minister als Zeugen zu laden. Christos Papoutsis zum Beispiel, den griechischen Minister für Bürgerschutz. Er hätte erzählt, dass seine Grenzschützer allein am ersten Oktoberwochenende 1 400 Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei aufgegriffen haben. Auch hätte er sicher erwähnt, dass die Zahl der Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, sich seit 2009 vervierfacht hat. Und er hätte kaum vergessen zu sagen, dass derzeit 89 Prozent aller Asylbewerber, die nach Europa kommen, in seinem Land die Grenze überqueren. Dass er sie alle zur Abschreckung von Nachahmern unter Umgehung aller Menschenrechtsstandards und unter katastrophalen Bedingungen oft wochenlang in berstend volle, elende Internierungslager sperren lässt, das hätte Said S. ja selbst ergänzen können (Jungle World 38/10).
Klar wäre jedenfalls eines geworden: Griechenland selbst hat den Zusammenbruch seiner Fähigkeit erklärt, seine Grenzen zu sichern. Schriftlich und ganz offiziell, nur drei Tage vor der Verhandlung in Karlsruhe. Am Montagabend war bei Ilkka Laitinen, dem Direktor der Europäischen Grenzsicherungsbehörde Frontex in Warschau, ein Schreiben von Papoutsis eingegangen. Darin bat der Minister um die Entsendung von sogenannten Rabit-Einheiten (Rapid Border Intervention Teams) nach Griechenland, einer Art schneller Eingreif­truppe von Grenzschützern.

Im Jahr 2005 wurde Frontex von der EU ins Leben gerufen, um die Abschottung der Außengrenzen des Schengen-Gebiets zu optimieren. Zunächst beschränkte sich die Agentur darauf, bei den Grenzpolizeien der Mitgliedsstaaten Geräte und Personal einzusammeln, um sie an die Ränder des Schengen-Raumes zu entsenden. Hubschrauber der deutschen Bundespolizei, Schiffe aus Finnland und Rumänien, stets mit ihrer ursprünglichen Besatzung, kamen so vor den Kanaren, in der Ägäis oder zwischen Malta und Libyen zum Einsatz. Ihr Auftrag war immer der gleiche: das Aufspüren von Papierlosen bei der illegalen Einreise als Unterstützung der nationalen Grenzschützer. Die Hoheitsrechte blieben jedoch stets bei diesen, die Frontex-Truppen waren zunächst faktisch Gäste mit besserem Beobachterstatus. Auf diese Weise gelang es Frontex, die Fluchtrouten vor allem in Osteuropa, im Westen und im Zentrum des Mittelmeers immer weiter abzudichten. Doch solange die Agentur nur solche leihweisen Hilfseinsätze koordinierte, war sie noch weit davon entfernt, das zu sein, was vielen EU-Innenpolitikern seit langem vorschwebt: eine vollwertige, supranationale EU-Grenzpolizei.
Im Jahr 2007 ging man einen Schritt weiter. Mit der Rabit-Verordnung wurde Frontex beauftragt, einen Pool von Einsatzkräften und technischem Material aufzubauen und vorzuhalten, um Mitgliedstaaten Hilfe zu leisten, wenn die Lage ist wie derzeit in Griechenland. Zwar stehen auch die Rabits unter dem Kommando des Gastgeberlandes, doch anders als bei den herkömmlichen Frontex-Einsätzen haben sie deutlich erweiterte Rechte, dürfen beispielsweise ihre Schusswaffen behalten. Bis 2010 wuchs der Rabit-Pool auf rund 700 Grenzschützer an, doch bislang kam es nie dazu, dass die schnelle Eingreif­truppe tatsächlich angefordert wurde.
Und so ließ Frontex-Chef Laitinen sich nicht lange bitten, als Papoutsis Brief kam. »Die Situation ist sehr ernst, deshalb habe ich entschieden, dass wir Griechenland in dieser drängenden Ausnahmesituation unterstützen werden«, erklärte der Finne am Tag darauf. Die Rabits sollen mit den beiden schon seit längerem in Griechenland agierenden Frontex-Missionen »Poseidon« und »Attica« zusammenarbeiten. Schon am Mittwoch trafen die ersten Rabits in der Evros-Region ein.

Der Münchner Migrationsforscher Bernd Kasparek, Sprecher des antirassistischen Netzwerkes Welcome to Europe, glaubt, dass Griechenland den Mechanismus vor allem aktiviert hat, um die EU unter Druck zu setzen, weitere Finanzhilfen zu zahlen. »Was sollen die Rabits denn dort effektiv tun?« fragt er sich.
Denn so gern Griechenland dies womöglich sähe: Die Ankommenden daran zu hindern, den Evros-Fluß zu überqueren und in das Schengen-Gebiet einzureisen, ist zumindest rechtlich ausgeschlossen. »Das wäre Refoulement, widerrechtliche Zurückweisung«, sagt Kasparek, also ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonven­tion. Solange die Türkei niemandem Asyl gewährt, haben die von dort kommenden Flüchtlinge ­einen Rechtsanspruch, nach Griechenland eingelassen zu werden. »Wenn die Verletzung dieses Rechts den Rabits gleich beim ersten Mal nachgewiesen würde, wäre das ein total schlechter Start«, meint Kasparek.
Nun ist es nicht so, dass man sich in der Vergangenheit groß um das Verbot von Zurückweisungen geschert hätte. Immer wieder berichteten Flüchtlinge in den vergangenen Jahren, dass sie von Booten der griechischen Küstenwache mit teils überaus rabiaten Methoden zurück in türkische Hoheitsgewässer geschleppt wurden. Frontex-Schiffe haben diese Praxis offenbar nicht nur toleriert, sondern gezielt unterstützt. Viele Berichte deuten darauf hin, dass dadurch immer wieder Menschen ertranken. Die Zurückweisungen waren illegal und taten den ohnehin heiklen griechisch-türkischen Beziehungen nicht gut. Doch in Sachen Grenzsicherung arbeiten die beiden Staaten seit Neuestem gut zusammen.
»Also bleibt den Rabits nur, die Leute zu verhaften und in den Haftanlagen abzuliefern. Dann decken sie aber die katastrophalen Zustände dort«, sagt Kasparek. Vor beidem, dem Refoulement und der Beteiligung an der Internierung von Flüchtlingen in unmenschlichen Lagern in Italien, Griechenland oder Libyen, hatte Frontex in der Vergangenheit keine Skrupel. Doch damals konnte sich die Agentur stets hinter den nationalen Grenzschützern unsichtbar machen. Nun tritt sie unter eigenem Label auf.
Für Kasparek ist bezeichnend, dass der EU angesichts der humanitären Katastrophe am Evros nichts anders einfällt, als noch mehr Grenzpolizisten zu schicken. »Abschottung statt Hilfe«, das sei schon immer das Prinzip der europäischen Politik gewesen, wenn es um Flüchtlinge ging.