Das »Jobwunder« auf dem deutschen Arbeitsmarkt 

Die Magie der Zahlen

Die Bundesregierung jubelt über das Wunder auf dem Arbeitsmarkt. Die Bedingungen, unter denen dieser Aufschwung stattfindet, sind allerdings ernüchternd.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ließ es sich nicht nehmen, die frohe Botschaft höchstpersönlich zu verkünden. Die Zahl der Arbeitslosen sei unter drei Millionen gesunken, mit dieser Nachricht überraschte sie die Öffentlichkeit am Mittwoch voriger Woche. Mit 2,945 Millionen als arbeitssuchend registrierten Menschen herrsche die niedrigste Arbeitslosigkeit in einem Oktober seit 1992, erklärte von der Leyen. Und damit auch niemand übersieht, dass diese Entwicklung auf die hervorragende Arbeit der Regierung zurückzuführen ist, startet das Arbeitsministerium nun eine Aktion, bei der in der ganzen Republik Plakate aufgehängt werden, auf denen die neuesten Zahlen aus der Arbeitslosenstatistik verkündet werden.
Die Medien begannen eilig von einem »Jobwunder« zu sprechen, und prompt reklamierten neben der gegenwärtigen Regierung auch noch andere den scheinbaren Erfolg für sich. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag, Thomas Oppermann, beeilte sich, den Rückgang auf die Krisenstrategien der Großen Koalition zurückzuführen. Und auch der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD), an den viele in der Partei derzeit nicht gerne erinnert werden möchten, tauchte plötzlich wieder aus der Versenkung auf und machte für die nun präsentierten Arbeitslosenzahlen die unter seiner Regierung beschlossenen Hartz-Gesetze verantwortlich. Ohne die Gesetzesänderungen von 2003 stände Deutschland heute da, wo die Nachbarländer jetzt seien, die keine Reformen angepackt hätten, behauptete der Genosse der Bosse.

Der Aufschwung ist da, so lautet die Botschaft, die die Regierenden mit ihrem Gerede vom Wunder auf dem Arbeitsmarkt verkünden wollen. Und alle wollen an der Party teilhaben, auch die FDP, deren Umfragewerte sich seit Monaten in der Nähe von fünf Prozent konsolidieren. Ihr neuer Hoffnungsträger ist Rainer Brüderle, der als einziger aus der Führungsriege der Partei in den vergangenen zwölf Monaten nicht durch negative Schlagzeilen auffiel. Der Bundeswirtschaftsminister bekräftigte am Sonntag sein überraschendes Plädoyer für deutliche Lohnerhöhungen. Angesichts der wieder steigenden Wirtschaftsleistung müssten die »harten Einschnitte der Vergangenheit« nicht fortgesetzt werden. Allerdings schränkte er diese Äußerung sogleich mit dem Hinweis ein: »Konkrete Abschlüsse macht nicht der Staat.« Eine klare Absage erteilte Brüderle auch der Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, denn sollte der Lohn zu hoch sein, gefährde dies letztlich nur Arbeitsplätze.
Das Auffälligste am Spektakel um das neue deutsche »Jobwunder« ist allerdings nicht einmal der Kontrast zwischen Inszenierung und Realität, sondern die Tatsache, dass die deprimierenden fakten überall nachzulesen sind. Noch vor wenigen Jahren musste ein kritischer Zeitgenosse, wenn mit den Erwerbslosenzahlen getrickst wurde, in linken Nischenpostillen und Erwerbslosenportalen recherchieren, um annähernd zu erfahren, wie es auf dem Arbeitsmarkt wirklich aussieht. Das ist derzeit anders. Man ist sich bewusst, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung verzweifelt auf der Suche nach positiven Schlagzeilen ist. Im Spiegel, in der Süddeutschen Zeitung oder beim Onlineportal der Tagesschau wird, teils hämisch, teils verschämt, vorgerechnet, dass die Erwerbslosenstatistik hemmungslos geschönt ist und der Aufschwung »nicht bei den Menschen ankommt«, wie die Standardformulierung inzwischen lautet. Nur die Bild-Zeitung fragt ernsthaft: »Kommen jetzt zehn goldene Jahre?« Der Grund für diese neue Ehrlichkeit dürfte allerdings weniger in einem neuen journalistischen Ethos liegen, als vielmehr in der dunklen Ahnung, dass außerhalb der Pressekonferenzen der Bundesregierung und der großen Parteien kaum jemand mehr daran glauben mag.

Wer genauer hinsieht, stellt denn auch schnell fest, dass der Boom vor allem geringfügige und unsichere Formen der Beschäftigung betrifft. Es gibt rund fünf Millionen Menschen, die einem Job auf der Basis von 400 Euro nachgehen. Mehr als 2,2 Millionen verdienen sich mit einem Mini-Job etwas dazu. Rund 4,2 Millionen Menschen befinden sich in Arbeitsverhältnissen, deren Bezahlung so niedrig ist, dass sie ergänzend ALG II beziehen. Wer mindestens 15 Stunden pro Woche arbeitet, gilt seit geraumer Zeit nicht mehr als arbeitslos. ALG-I-Bezieher, die älter als 58 Jahre sind, werden ebenso wenig berücksichtigt wie Ein-Euro-Jobber und Menschen, die an Weiterbildungs- und Eingliederungsmaßnahmen teilnehmen. Fast 1,5 Millionen Menschen befanden sich zuletzt in diversen Maßnahmen, folglich gelten sie nicht als erwerbslos. Hinzu kommt eine »stille Reserve« von bis zu einer Million Menschen, die gerne einen Job zur Existenzsicherung hätten, aber nicht aktiv suchen, sei es, weil sie über ein Familien­einkommen mitfinanziert werden, keinen Kitaplatz für ihre Kinder finden oder schlicht weder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt noch auf Arbeitslosengeld haben. Noch im Juni gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass 8,6 Millionen Menschen Arbeit suchen. Daran dürfte sich seitdem wenig geändert haben, und in dieser Größenordnung bewegt sich demnach die reale Dimen­sion von Erwerbslosigkeit, Unterbeschäftigung und ökonomischer Marginalisierung.
Selbst im Hinblick auf die neugeschaffenen Jobs sieht es hinter der Fassade düster aus, denn der Rückgang der offiziellen Erwerbslosenzahlen basiert neben statistischen Tricks auch auf einer starken Zunahme der Leiharbeit. Ein Großteil des Beschäftigungszuwachses findet in diesem Segment statt, die Anzahl der Leiharbeiter ist mittlerweile auf 900 000 angestiegen. Die Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) legen nahe, dass in der Industrie der Trend anhält, wenig qualifizierte Arbeitsplätze abzubauen und die Arbeit von Zeitarbeitern erledigen zu lassen. Für die Leiharbeiter selbst dürfte das kaum ein Arbeitsverhältnis sein, in dem sie sich dauerhaft wiederfinden wollen.
Claus Matecki, Vorstandsmitglied des DGB, spricht von einem »Missbrauch der Leiharbeit«. Bei illusionsloser Betrachtung dürfte es sich um nichts anderes handeln als den Gebrauch dieses Instruments für seinen originären Zweck. Der Bundesvorstand des DGB geht davon aus, dass es Ende des Jahres mehr als eine Million Leiharbeiter geben wird. Hinzu kommt, dass viele neue Stellen nur noch befristet sind. Ein flüchtiger Blick auf die Bereiche, in denen Stellen besetzt werden, enthüllt zudem eine Schieflage: Im Gesundheits- und Sozialwesen stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 3,5 Prozent und in wirtschaftlichen Dienstleistungen ohne Zeitarbeit um 2,9 Prozent. In der verarbeitenden Industrie hingegen gab es im Vergleich zum Vorjahr 53 000 Beschäftigte weniger.
Dennoch lassen sich derzeit geradezu verwegen anmutende Prognosen antreffen. Der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, Michael Hüther, hielt in einem Gespräch mit der Passauer Neuen Presse weniger als zwei Mil­lionen Arbeitslose für möglich, und dies bereits im Jahr 2012. Grundlage für solche Spekulationen sind vor allem zwei Annahmen: Zum einen gibt es die Hoffnung, dass ein anhaltender Aufschwung jährlich 400 000 neue Arbeitsplätze schaffen wird, zum anderen rechnet man damit, dass der demografischen Wandel dazu führt, dass für die aus der Lohnarbeit aussteigenden Älteren mehr Nachwuchskräfte gesucht werden könnten. Anders als dies in früheren Krisen der Fall war, schieden in den vergangenen Jahren mehr ältere Arbeitnehmer aus dem Berufsleben aus, als Jüngere nachrückten. Diese Entwicklung entlastete die Statistik um mehr als 100 000 Arbeitslose im Jahr. Schon jetzt wird das Gespenst des Fachkräftemangels beschworen – was leicht absurd wirkt, wenn man an die geringe Bereitschaft der großen Unternehmen denkt, angemessene Ausbildungskapazitäten zu schaffen. Vor allem dürften sich die Hoffnungen der Arbeitsmarktstatistiker darauf konzentrieren, dass immer mehr ältere Erwerbslose die magische Grenze von 58 Jahren überschreiten und damit aus der Arbeitslosenstatistik herausfallen. So bleibt letztlich die Feststellung, dass der real erheblich geringere Abbau der Arbeitslosigkeit im Wesentlichen durch Lohndumping und die Schaffung eines breiten Niedriglohnsektors ermöglicht worden ist.

»Hartz IV wirkt«, sagt Hilmar Schneider, Arbeitsmarktdirektor am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn – und ist sich des mit dieser Aussage verbundenen Zynismus vermutlich nicht bewusst. Er geht davon aus, dass die Drohung mit Armut und Marginalisierung vor allem bei denjenigen »wirkt«, die gerade ihren Job verloren haben. Die Betroffenen würden alles versuchen, um diesen Fall nicht eintreten zu lassen. Schneider spricht davon, dass sich die Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen, mit der Einführung von Hartz IV erhöht habe. Beispielsweise würden häufiger Jobs angenommen, deren Bezahlung geringer ausfällt, als es im vorherigen Arbeitsverhältnis der Fall war. Diese freundliche Umschreibung bedeutet nichts anderes als eine massenhafte Absenkung des Lebensstandards von Arbeitnehmern und ein dramatisches Absinken des Werts der Ware Arbeitskraft.
Der so vehement behauptete Aufschwung könnte allerdings schon bald vorbei sein. Denn er beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Exportüberschüssen. Nach Angaben des Instituts für sozialökologische Wirtschaftsforschung lieferten diese im zweiten Quartal 2010 einen Wachstumsbeitrag von 1,4 Prozentpunkten zum BIP, das entspricht etwa zwei Dritteln des Zuwachses. Während die Massenkaufkraft weiter zurückgeht, ruhen die Hoffnungen fast ausschließlich auf einer weiteren Expansion der Exporte, also auf der erfolgreichen Verdrängung ausländischer Kapitale auf dem Weltmarkt. Abgesehen von den standortnationalistischen Ideologien, die damit wieder Zuspruch erhalten und die nicht nur in der Debatte über die griechische Staatsverschuldung eine Rolle spielen, sondern in den kommenden Monaten auch in manchen gewerkschaftlichen Argumentationen wieder auftauchen dürften, gibt es wenig Anlass zu der Vermutung, dass diese Expansion dauerhaft anhalten könnte.
Die beiden wichtigsten Abnehmer der deutschen Exportüberschüsse, Europa und die USA, befinden sich in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. In den europäischen Ländern sorgen drastische Sparprogramme diverser Regierungen und die weiterhin spürbaren Auswirkungen der Krise für eine ökonomische Stagnation, während in den USA der wirtschaftliche Niedergang kaum gebremst werden konnte und womöglich eine neue Krise bevorsteht. Die zwanghafte Euphorie, die derzeit von der Bundesregierung verbreitet wird, könnte schon im kommenden Jahr noch fragwürdiger erscheinen.