Schrumpfende Städte. Ein Besuch in Dessau

Es ist so weit, holt mich hier raus

Schrumpfende Städte in Sachsen-Anhalt wollen attraktiver werden. Unter dem Motto »Weniger ist Zukunft« wurden in den vergangenen Jahren im Rahmen der »Internationalen Bauausstellung Stadtumbau 2010« Strategien gegen Leerstand und Verfall erarbeitet. Ein Beispiel aus Dessau.

Wenn man in Dessau aus dem Zug steigt, merkt man schnell, dass irgendetwas nicht stimmt. Während das Bauhaus als Weltkulturerbe und Touristenattraktion gehegt und gepflegt wird, sehen andere Teile der Stadt vernachlässigt aus: verfallende Gebäude, wuchernde Pflanzen, Straßenzüge ohne Häuser und Gebiete, in denen weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Hier passiert etwas, was so nicht geplant war: Dessau schrumpft. Seit 1989 hat die Stadt ein Viertel ihrer Bevölkerung verloren, und nach Prognosen des Statistischen Landesamts wird diese sich bis zum Jahr 2020 auf rund die Hälfte reduzieren.
Die für Dessau so wichtige Industrie schaffte den Systemwechsel nicht, so dass nach der Wende in kurzer Zeit ein Großteil der Arbeitsplätze wegfiel, was zur Hauptursache für das Einsetzen des Bevölkerungsschwunds wurde.
Damit war die Situation recht schnell klar: In Dessau-Roßlau, wie die Stadt seit 2007 nach einer Gemeindereform heißt, musste man sich, so wie in vielen anderen Gebieten im Osten, vom Wachstum verabschieden. Nur konnten sich die Behörden mit diesem Gedanken nicht so richtig anfreunden. Daher wurden fleißig »Projekte« entworfen und EU-Fördergelder beantragt, ein Kohlekraftwerk, etliche Shoppingcenter und Parkhäuser gebaut.
Eines dieser Parkhäuser befindet sich im Stadtzentrum [#9]. Glaubt man dem Schild an der Einfahrt, wurde es im Jahr 2000 erbaut. Stockwerk für Stockwerk geht man die Rampen hinauf, doch finden sich dort nur sehr wenige Autos, und je höher man gelangt, desto leerer wird es. Ab dem 9. Stockwerk sollte man eigentlich eher von einem Taubenhort sprechen. Die dort auf dem Boden hinterlassenen Exkrementen lassen erahnen, dass hier tatsächlich schon lange kein Auto mehr gefahren ist.
Eine weitere Ikone der Schrumpfung ist das von der EU finanzierte Kraftwerk [#4], das nur zu 20 Prozent ausgelastet ist.

Stadtplaner und Stadtverwalter haben in den vergangenen Jahren verschiedene Strategien entwickelt, um auf die Situation zu reagieren. Erst kam das Förderprogramm »Stadtumbau Ost«, mit dem Bund und Länder die Kommunen in den neuen Bundesländern angesichts des strukturellen Wohnungsleerstands unterstützen sollten und das im Wesentlichen ein reines Abrissprogramm war.
Seit 2002 entwickelt die »Internationale Bauausstellung Stadtumbau 2010« Strategien gegen Leerstand und Verfall. 19 Städte haben sich an diesem Projekt beteiligt und präsentieren nun im Abschlussjahr 2010 ihre Lösungsvorschläge unter dem Motto: »Weniger ist Zukunft«.
In Dessau wird dieses Konzept realisiert, indem nun kontrolliert abgerissen wird. Die Idee ist, Dessau in »urbane Kerne« aufzugliedern, die von Landschaftsflächen durchzogen werden. Diese sollen durch leerstandsbedingte Abrisse entstehen. Die Brachflächen sollen allmählich zu einer großen Grünfläche zusammenwachsen, die die »urbanen Kerne« verbinden soll. So will man das Verhältnis zwischen bebautem und unbebautem Raum verändern.
Doch ob es sich um eine wirkliche Alternative oder um die Weiterentwicklung des alten Abriss-Konzepts handelt, ist fraglich, selbst, wenn man in Dessau gerne mit »Zukunft« wirbt. Vor den Abrissflächen sind auf großen Schildern Slogans zu lesen wie »Zukunft hat in Dessau Tradition« oder »Hier investieren wir in Ihre Zukunft«. Die privaten Investoren machen es nach. »Schöner wohnen in Dessau!« ist auf einem Plakat an einer baufälligen Hauswand zu lesen [#5]. Ulrich ist der letzte Bewohner einer Straße, in der schon viele Gebäude abgerissen wurden: »Bei mir in der Straße wird nicht mal mehr gekehrt und alle paar Wochen ist die Kanalisation verstopft, weil sie nicht mehr genügend ausgelastet ist. Eine Investition in meine Zukunft ist das nicht. Die wollen uns doch verarschen!«
In der Tat löst ein Spaziergang durch die Stadt alles andere als Euphorie aus. Die Landschaftsflächen sind eben doch eher Lücken im Stadtgefüge und baufällige und überwucherte Häuser [#3]. Sie mögen etwas Romantisches haben, aber Hoffnung vermitteln sie wirklich nicht. Die Brachflächen wären vermeidbar gewesen, wenn man sie mit den Einfamilienhäusern der weit vom Zentrum entfernten Neubaugebiete, wie beispielsweise in Dessau-Kochstedt, [#6] aufgefüllt hätte. Auch wenn es verständlich ist, dass eine junge Familie lieber am Waldrand als zwischen Plattenbauten wohnt. Hier wäre es die Aufgabe der Stadtplaner gewesen, diese Entwicklung zu steuern.
Genau das ist eines der Hauptprobleme: die scheinbar unüberwindbare Distanz zwischen Planern und Bürgern. Geld für städtebauliche Interventionen gibt es meist nur für internationale Großprojekte, die an weit entfernten Schreibtischen und ohne Gedankenaustausch mit den Anwohnern erdacht werden. Die Dessauer fühlen sich vernachlässigt, und viele von ihnen suchen das Weite.

Bei einem Spaziergang treffe ich Stephan und Melanie [#10] und frage sie, ob sie sich fotografieren lassen würden. »Wir sind aber nicht aus Dessau, wir besuchen nur unsere Tante«, antworten sie. Nach einer Weile geben sie dann zu, dass sie doch aus Dessau kommen: »Jetzt wohnen wir aber in der Nähe von Berlin.« Mit Dessau identifizieren sie sich nicht mehr. Herr Mosemann [#2] ist Rentner und wohnt in einem Plattenbau. Auf seine Weise hat auch er der Stadt den Rücken gekehrt: »Erst musste mich meine Frau dazu überreden, einen Kleingarten zu kaufen, aber mittlerweile verbringe ich fast meine ganze Freizeit hier.« Wie Herrn Mosemann geht es vielen, die zahlreichen Kleingartenkolonien machen einen lebendigeren Eindruck als viele andere Teile der Stadt.
Familie Szczes wohnt in einem Plattenbau [#7], allerdings ist es ein besonderer, denn es ist nur noch ein Stockwerk davon übrig geblieben. »Runtergestuft« nennen sie das. Sie wohnen jetzt zu einem vergleichsweise günstigen Preis in einem Reihenhaus mit Garten. Ein gutes, aber seltenes Beispiel für sinnvolle Umgestaltung. Frau Szczes erklärt das Beste daran: »Jeder Besitzer hat sein Haus selbst entkernt«, so konnte die Innenarchitektur den eigenen Wünschen angepasst werden.
Die schrumpfende Stadt bietet auch Raum für unkonventionelle Ideen, die jedoch nicht von groß angelegten Projekten stammen, sondern von den Leuten, die in ihrem alltäglichen Leben Empfindungsreichtum beweisen und die Bereitschaft, ihre Umgebung anders wahrzunehmen und zu nutzen. Ein Beispiel dafür ist Familie Tennert [#8], die eine stillgelegte Straße für ihre Hobbys benutzt. »Wenn ich und mein Sohn die Autos auf dem Parkplatz vor unserer Wohnung fahren lassen, beschweren sich die Nachbarn. Aber in Dessau gibt es genug Plätze, wo man niemanden stört«, erzählt der Vater.
Auch Alex und seine Kumpels greifen in die Gestaltung des öffentlichen Raums ein. Zusammen haben sie auf dem Gelände eines ehemaligen Kohleverladebahnhofs eine Dirtbahn gebaut [#1]: »Wir haben einen Antrag eingereicht und dann Fördergelder bekommen. Von der Stadt wurden uns Bagger zur Verfügung gestellt, mit denen wir an freien Tagen die Rampen gebaut haben. Das nächste Projekt ist eine BMX-Halle in der ehemaligen Räucherei.«
Der Wandel, den Dessau und viele andere schrumpfende Städte jetzt noch brauchen, ist ein Umdenken vor allem von institutioneller Seite. Der blinde Glaube an das Wachstum, der ohnehin keine Perspektiven bietet, kann durch ein alternatives Modell ersetzt werden. Zugunsten aller, die heute empfinden, was in den Staub auf einer Fensterscheibe eines verlassenen Bürogebäudes geschrieben wurde: »Es ist so weit, holt mich hier raus.«