Über Margherita von Brentano

Joschka minus Machtgehabe

Margherita von Brentano hat sich schon früh mit den personellen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik beschäftigt.

Die Philosophin Margherita von Brentano war die Nichte von Heinrich von Brentano, der von 1955 bis 1961 Außenminister unter Konrad Adenauer war. Clemens von Brentano, Margheritas Vater, war der erste westdeutsche Botschafter in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist diese Familienkonstellation, die Margherita von Brentano schon früh mit den Kontinuitäten der deutschen Politik in Berührung brachte.
»Margherita von Brentano. Das Politische und das Persönliche« haben die Herausgeberinnen Iris Nachum und Susan Neimann ihren im Wallstein-Verlag erschienenen Band über die Aktivistin Margherita von Brentano (1922–1995) betitelt. Sie hätten es genauso gut nach Hannah Arendts Lebensprogramm mit »Vita activa oder vom tätigen Leben« überschreiben können. Die Herausgeberinnen zeigen anhand einer Collage aus Berichten, Briefen, Vorträgen und Radioprogrammen Brentanos sowie Gesprächen mit Freunden und Kolleginnen eine unermüdlich in den Bereichen Politik, Gesellschaft und Universität engagierte Frau.
Brentano lehrte von 1956 bis zu ihrer Emeritierung 1987 Philosophie an der FU Berlin. Sie promovierte 1948 in Freiburg mit einer durch Martin Heidegger angeregten Arbeit zur Metaphysik des Aristoteles. Von 1950 bis 1956 war sie leitende Redakteurin im Schul- und Jugendradio des Südwestfunks. In dieser Zeit begann mit mehreren Beiträgen zur Aufarbeitung der Judenvernichtung ihr Engagement in der von ihr maßgeblich mitbegründeten Antisemitismusforschung innerhalb der BRD.
Antisemitismus sei immer schon total gewesen, schrieb sie 1965, »so dass er nicht von ungefähr in der ›Endlösung‹ mündete, sondern von vornherein potentielle Endlösung ist«. Es handele sich dabei nicht um einen partiellen Zug, einen Teilschaden, eine beiläufige Schwäche der Gesellschaft, sondern um ein Symptom, ja Ferment einer im Ganzen schadhaften und vor den Ansprüchen, die sie sich stellt, versagenden Gesellschaft, heißt es in ihrem Text »Die ›Endlösung‹ – ihre Funktion in Theorie und Praxis des Faschismus«. Antisemitismus war für sie ein Symptom in der »Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft«. Man kann schon aus diesen wenigen Sätzen ersehen, dass für Brentano die Geschichtswissenschaft allein nicht in der Lage sein konnte, die Wurzeln des Antisemitismus freizulegen. Angesichts der Totalität des Phänomens müssten, so Brentano, mindestens Instrumente aus Psychoanalyse und Sozialphilosophie zum Handwerkszeug der Historiker hinzukommen.
Bei aller philososphischen Strenge, die sie ihren Begriffsbildungen zugrunde legte, verlor sie in ihrer theoretischen Arbeit nie das Konkrete aus den Augen. Theorie war für Brentano eine Form der Praxis. Das zeigte sich auch in ihren Seminaren. Wenn sich gerade mal wieder ein Student in seiner Rede in wolkigen Abstraktionen zu verlieren drohte, zitierte sie gern Bertolt Brecht. »Wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede ist, wird er Namen nennen«, hatte Brecht in seinem Gedicht zu Lenins Tod geschrieben. Und wenn Brentano mit Brechts Worten in das Seminar eingriff, stand dahinter immer die Forderung, Faschismus und Antisemitismus als gegenwärtige gesellschaftliche Phänomen zu begreifen. Geschichte hatte für sie nur als Gegenwart Sinn.
Man kann das anhand eines Briefes, den sie im Oktober 1986 an den israelischen Holocaust-Forscher Saul Friedländer schrieb, zeigen. Auch hier werden Namen genannt. Sie habe gerade einen Fernsehbeitrag über die Familie von Weizsäcker gesehen, in der auch Richard von Weizsäcker auftauchte. Darin wurde der Vater des damaligen Bundespräsidenten, Ernst von Weizsäcker, als exemplarischer Vertreter des besseren Deutschlands in der NS-Zeit hochstilisiert, wie Brentano schreibt. Seine Tätigkeit sei als eigentlich »wertvoller und vor allem aufopferungsvoller« Beitrag dargestellt worden, weil es ein im »verborgenen wirkender Widerstand« gewesen sei. »Mir kamen die Tränen vor Rührung!!« resümiert sie ihren Eindruck im Brief an Friedländer. Sie kannte Richard von Weizsäcker als Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, der stets edelmütig wirkte, zurückhaltend agierte und andere, wie in den Auseinandersetzungen um die Hausbesetzungen, die Drecksarbeit machen ließ.
Eine Strategie, die schon sein Vater Ernst von Weizsäcker beherrscht hatte. Der in der vergangenen Woche vorgestellte Bericht der Historiker Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann über die Geschichte des Auswärtigen Amtes hat in aller Deutlichkeit herausgestellt, dass Ernst von Weizsäcker die Ausbürgerung Thomas Manns aus Nazideutschland befürwortete und 1938 dem Schweizer Gesandten in Paris erzählte, die Juden müssten Deutschland verlassen, »sonst gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen«. Das sind wirklich keine neuen Erkenntnisse. Das war alles bekannt und hatte unter anderem dazu geführt, dass Ernst von Weizsäcker 1949 im sogenannten Wilhelmstraßenprozess aufgrund seiner Beteiligung an der Deportation französischer Juden nach Auschwitz wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt worden war. Dennoch wurde von Weizsäcker in Westdeutschland als eine Art heimlicher Widerstandskämpfer des besseren, gern auch adligen Deutschlands gehandelt.
Diese Umdeutung entsprang keinem passiven Verdrängungsmechanismus, sondern war ein aktives Gestaltungsmoment der westdeutschen Demokratie. Auch dagegen richtete sich Brentanos radikale Kritik am Liberalismus. Aus dieser Perspektive ist es auch nur logisch, dass es nicht ein der FDP angehörender Außenminister war, nicht Walter Scheel, nicht Hans-Dietrich Genscher und auch nicht Klaus Kinkel, der die Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes in Auftrag gab, sondern der ehemalige Frankfurter Sponti-Steinewerfer Joschka Fischer.
Den Liberalismus hielt Brentano für untauglich im Kampf gegen den Antisemitismus im Allgemeinen wie im Speziellen, weil er nicht in der Lage sei, die Totalität des Prozesses der Judenvernichtung zu verstehen. Was sie damit meinte, wird in einem kurzen Briefwechsel mit dem liberalen Bochumer Historiker Hans Mommsen deutlich. Brentano insistiert hier darauf, dass »man«, also die deutsche Bevölkerung, sehr wohl wissen konnte, was geschah. Die schrittweise Ausgrenzung der Juden geschah öffentlich, die Reichskristallnacht konnte jeder wahrnehmen und die Deportationen spielten sich vor aller Augen ab. Nur dass man eben »wegschaute«, wie sie schreibt. Mommsen fallen dagegen nur die »Vielschichtigkeit des Problems«, die verschiedenen Formen der Verdrängung und eine »allgemeine und undifferenzierte moralische Verantwortung« ein, die zwar bestehe, aber »politisch« nicht umsetzbar sei. Das Wort »politisch« hat Brentano in Mommsens Brief markiert und den Briefwechsel dann abgebrochen. Politisch war der Liberalismus für Brentano eine Kraft, die potentiell jederzeit in Gewalt umkippen kann, weil der Liberalismus kein prinzipielles Problem mit der Macht hat.
Sie selbst kannte das aus ihrer Familie. Ihr Vater war 1923 von Gustav Stresemann, dem Außenminister der Weimarer Republik, gebeten worden, ein Gutachten über die neue Partei der Rechten, die NSDAP, zu erstellen. Das Gutachten enthielt deutliche Hinweise auf die Radikalität der Nazis und veranlasste Clemens von Brentano, Ende der zwanziger Jahre in seiner Funktion als Botschaftsrat beim Vatikan den damaligen Papst vor den Nazis warnen – was seine Ablösung zur Folge hatte und 1936 die Versetzung aus dem Außenministerium in den dauerhaften Ruhestand. Sein Nachfolger wurde Ernst von Weizsäcker.
Für Margherita von Brentano folgten aus der Geschichte ihres Vaters zwei Erkenntnisse. Zum einen musste man bei den Nazis nicht »mitmachen«. Man konnte sich verweigern, ohne Schaden zu nehmen, solange man nicht öffentlich gegen sie vorging und dem Bürgertum angehörte. Zum anderen erkannte sie aber auch anhand der Biografie ihres Vaters nach dem Zweiten Weltkrieg, dass das Bürgertum, selbst wenn es widerständig war, in der neuen Bundesrepublik keine Schwierigkeiten hatte, mit alten Nazis zusammenzuarbeiten, womit auch die Kontinuität des Antisemitismus gewahrt blieb. Eine Kontinuität, die ihr schlagartig bewusst wurde, als sie Ende der fünfziger Jahre mit einem ihrer Studenten, dem Juristen Reinhard Strecker, den deutschen Juristenkalender durchsah: Juristen, die maßgeblich am NS-Justizsystem beteiligt waren, waren auch in der BRD in wichtigen Funktionen tätig. Dieser Skandal wurde in der Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz«, die Strecker mit Hilfe von Brentano und dem Sozialistischen deutschen Studentenbund (SDS) durchführte, öffentlich gemacht.
Der Band »Das Politische und das Persönliche« macht anschaulich, dass die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« am Anfang einer Bewegung stand, die man später die Achtundsechziger nennen sollte. Es war eben nicht die offizielle Politik der BRD, die den Antisemitismus bekämpfte, sondern es waren ein paar versprengte Einzelne mit einem selbstgestellten Aufklärungsauftrag, und ihr Zentrum befand sich an der FU in West-Berlin und nicht in Frankfurt. So wichtig Brentano die »Dialektik der Aufklärung« als Referenz war, so wenig hielt sie von der pessimistischen Sicht, nach der Aufklärung fast zwangsläufig in den Mythos umschlägt. Das war für sie ein Totschlagargument gegen die Anstrengung der Aufklärung selbst. Wenn man so will, war ihr Adorno zu liberal. Die Resonanz auf die Ausstellung hatte Brentano aber noch etwas anderes gezeigt, nämlich dass Politik, wenn sie sich der Aufklärung im Sinne Kants verpflichtet, sich nicht innerhalb der Parteienstrukturen bewegen kann. Es war auch diese Ausstellung, die dazu führte, dass der SDS aus der SPD ausgeschlossen wurde.
Ausgerechnet ein Mitglied der CDU sorgte für die öffentliche Reputation der Ausstellung: Der damalige Generalbundesanwalt Max Güde hatte den SDS-Aktivisten Strecker in seinen Karlsruher Amtsräumen empfangen und die Ausstellung als glaubwürdig bezeichnet. Für Brentano war das Politische insofern auch persönlich, als es immer darum ging, die Persönlichkeit in der jeweiligen Institution zu finden, mit der man reden und kooperieren konnte.
Die »rote Margherita«, wie der Spiegel sie titulierte, war eine bedeutende Figur der westdeutschen Bewegung gegen Atomkraft, Antisemitismus und Frauenunterdrückung. Sie schwenkte dabie niemals auf den Kurs der Mächtigen ein. Aufklärung blieb für sie Selberdenken.

Margherita von Brentano: Das Politische und das Persönliche. Eine Collage. Hrsg. von Susan Neimann und Iris Nachum. Wallstein, Göttingen 2010, 542 Seiten, 34,90 Euro