Über Renate Künast und die grüne Euphorie

Wir hätten da noch dasselbe in Grün

Renate Künast ist die grüne Spitzenkandidatin für das Berliner Bürgermeisteramt. Die Stimmung bei den Grünen ist wegen guter Umfragewerte euphorisch, die Rede der grünen Kandidatin war hingegen wenig inspirierend.

»Wir wollen nicht nur mit Elektroautos rumfahren, wir wollen sie auch produzieren!« Dieser Satz aus der Rede, die Renate Künast bei der Mitgliederversammlung der Berliner Grünen hielt, markiert wohl am deutlichsten, wie sehr die Partei seit einigen Monaten bemüht ist, sich neu zu positionieren. Die Grünen wollen nicht mehr die nörgelnden Ökos vom linksalternativen Rand sein, sondern sich als politischer Repräsentant eines neuen Bürgertums in der Mitte der Gesellschaft etablieren.
Um diesen Anspruch zu betonen, war der Lichthof des Berliner Museums für Kommunikation, wo die grüne Bundesvorsitzende ihre Kandidatur als »Regierende Bürgermeisterin von Berlin« bekannt gab, der richtige Ort. Knapp 1 000 Grüne und ihre Freunde begrüßten sich in legerer Kleidung mit einem lässigen »Hey«, während der Saal und die Ränge des neoklassizistischen Prachtbaus des Berliner Bürgertums aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in grünes Licht getaucht waren. Von den Säulen schauten mit leichtem Tuch bekleidete griechische Jünglinge und Elfen aus dem 19. Jahrhundert auf die Versammelten herab, die dort eine Inszenierung im modernsten amerikanischen Wahlkampfstil darboten. Grüne Schals und mit den Worten »Für Berlin« bedruckte Schilder waren zuvor an die einstigen »Anti-Berliner« verteilt worden. So hatte der frühere West-Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen das linksalternative Milieu in Kreuzberg nach den Ausschreitungen vom 1. Mai 1987 genannt. Doch diese Erinnerung an ganz andere Konfrontationen schien bei der Mitgliederversammlung des Berliner Landesverbandes am Freitag vergangener Woche aus dem Gedächtnis getilgt zu sein.

Berauscht vom derzeitigen Erfolg und den rosigen Zukunftsaussichten, wusste die Landesvorsitzende Irmgard Franke-Dressler nicht einmal mehr, dass das heutige »Bündnis 90/Die Grünen« vor über 30 Jahren als »Alternative Liste« gegründet worden war. Überraschend war das nicht, beinahe die Hälfte der Zuhörer, die sich an diesem Abend versammelt hatten, gehörte allein schon altersbedingt nicht zu den alten Kämpfern und Kämpferinnen. Beim Fall der Berliner Mauer waren die heutigen Mitglieder der Grünen Jugend vermutlich höchstens im Kindergartenalter. Und so standen Gründungsmitglieder wie der Innenpolitiker Wolfgang Wieland und der Verkehrsexperte Michael Cramer mit der 1977 in Temeschburg, Rumänien geborenen Ramona Pop, die inzwischen Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus ist, entspannt und mitunter tuschelnd beisammen. Zu ihnen gesellten sich Özkan Mutlu, der 1968 im türkischen Kelkit geborene bildungspolitische Sprecher der Partei, und Franz Schulz, der aus dem Hausbesetzermilieu stammende langjährige Kreuzberger Bürgermeister.
Der gemeinsame Blick ist nach vorne gerichtet, dies zeigte sich auch in der Rede der 54jährigen Künast. Wenn sie die Wahl gewinnen möchte, dann reichen eben nicht nur 50 Prozent der Stimmen in Kreuzberg, sondern auch in den anderen Stadtteilen muss »eine breite gesellschaftliche Mehrheit« erreicht werden. Künast verknüpfte gleich zu Beginn ihrer Rede den »politischen Aufbruch von 1918, 1968 und 1989« mit dem »industriellen Aufbruch in der Gründerzeit von Siemens, Borsig und AEG«. Sie erwähnte es nicht, aber als die USA vor wenigen Tagen ein riesiges Sonnenkraftwerk mit der Leistungsfähigkeit eines Atomkraftwerks bestellten, ging der Auftrag nach Deutschland. Mittlerweile stehen der Atomindustrie nicht mehr nur eher idealistisch orientierte Umweltschützer, sondern auch ein konkurrierender Industriezweig gegenüber, der politisch repräsentiert werden will. »Hier bin ich!« schien Künast dem im Saal ebenfalls anwesenden Vorsitzenden der Berliner Industrie- und Handelskammer, Eric Schweitzer, zurufen zu wollen.

Ansonsten bot ihre Rede das übliche Wahlkampfgetöse, ähnlich könnten auch die Linkspartei und die SPD von »Aufbruch« sprechen und versuchen, den Namen »Berlin« positiv zu besetzen. Der einzige Unterschied ist, dass die beiden Regierungsparteien in den vergangenen Jahren die Gelegenheit verpasst haben, solche Versprechungen zu verwirklichen. Entsprechend konnte Renate ­Kü­nast die verbreitete Sehnsucht nach Veränderung wie diejenige nach Emotionen bedienen: Sie sprach von »einer Stadt für alle«, in der »alle gut leben können«, und appellierte auch an die Sehnsucht nach bürgerlicher Sparsamkeit. Deshalb »gibt es keine Wahlkampfgeschenke«, betonte sie mit klarer Stimme. Andeutungen eines konkreten Wahlprogramms skizzierte sie eher unauffällig in Nebensätzen. Lehrern möchten die Grünen ein höheres Gehalt zahlen, und in der Berliner Verwaltung soll es zwar Umstrukturierungen, aber keine weiteren Entlassungen geben. Auffallend steigerte sich der Applaus, als Künast versprach, sie wolle der Gentrifizierung Schranken setzen.
Aus den von der designierten Spitzenkandidatin benannten Schwerpunkten »Bildung, Arbeit und Klima« soll in den kommenden Monaten »in einem basisdemokratischen Prozess innerhalb der Grünen« das konkrete Wahlprogramm entwickelt werden. Franz Schulz fragte sich, »wie zum Beispiel Mobilität für alle aussehen könnte und sich nicht nur in 20 Kilometern neuen Fahrrad-Streifen erschöpft«. Ein bisschen mehr dürfe es schon sein. Schulz glaubt, dass nun schlüssige Vorschläge »mit einem Realisierungshorizont« für die »Re-Kommunalisierung der Wasserbetriebe und der S-Bahn« gemacht werden müssen. Christian Ströbele, grüner Bundestagsabgeordneter aus Kreuzberg, zeigte sich in einem Gespräch mit der Taz hin und her gerissen zwischen »dem faszinierenden Gedanken, nicht nur in irgendeiner Regierung zu sitzen, sondern den Hut aufzuhaben«, und dem Wissen, dass »wir dann für alles verantwortlich gemacht werden und wenig ändern können«.

Bei Umfragen erreichen die Grünen derzeit knapp 30 Prozent und könnten sich, falls die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, ihren Traumpartner unter SPD, Linken und der CDU aussuchen. Auffallend ist auch, wie vorsichtig die Zeitungen des Springer-Verlags mit Künast umgehen, was dadurch bedingt sein dürfte, dass ein Bündnis mit den Grünen für die CDU die letzte Möglichkeit des Machterhalts wäre. In Baden-Württemberg kann man beobachten, wie liberale Christdemokraten sich darum bemühen, den Nachhaltigkeitsgedanken der Umweltbewegung konservativ zu interpretieren, um sich selbst als anschlussfähig darzustellen. Sie merken, dass der neue Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel polarisiert. Die Re­gierungsvertreter der CDU werden von der Bevöl­kerung der Vorstädte, die sich vor allem Ruhe wünscht, wegen dieser polarisierenden Politik der schwarz-gelben Koalition als »Chaoten« wahrgenommen. Die klassischen Wählermilieus, die seit dem Bestehen der Bundesrepublik CDU und SPD tragen, zerfallen immer weiter. In diesem Prozess präsentieren sich die Grünen verstärkt als politische Vertreter einer neuen bürgerlichen Klasse, die auf ganz neue Art »Ruhe und Ordnung« garantieren will. Wie sich dieser Ausbruch aus dem links-alternativen Milieu bis zur Wahl im September vollziehen lässt, ist das große Gesprächsthema hinter den Kulissen der Partei. Noch ist bei den Grünen die Angst groß, dass die Befragten bei Wahlumfragen mit »ihrer Macht« spielen, nur um den im Augenblick an der Macht sitzenden Vertretern der Politik ihre Unzufriedenheit zu demons­trieren.
Zu dieser politisch etablierten Schicht gehört auch Renate Künast. Am Freitag verlor sie jedoch kein Wort über Erfahrungen, die sie in den vergangenen 30 Jahren in der Berliner und der Bundespolitik gemacht hat. Es stellt sich die berechtigte Frage, warum die Grünen in der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder (SPD) nur relativ wenig von ihrem Programm durchsetzen konnten. Lag es nur daran, dass sie der kleinere Koalitionspartner waren? Oder kann man schon von einer Ohnmacht der politischen Repräsentation sprechen, wie sie derzeit in den USA zu beobachten ist? Erst vor zwei Jahren ist Barack Obama zum »mächtigsten Mann der Welt aufgestiegen«, sein Wahlkampf berief sichauf Formen der Bürgerbeteiligung, die derzeit auch von den Grünen bemüht werden. Um die Zustimmung zu Obamas bisheriger Regierungszeit ist es nicht gut bestellt. Dabei könnte Renate Künast für den Wahlkampf durchaus mit einigen vorzeigbaren Ergebnissen aus ihrer Amtzeit als Bundesministerin für Landwirtschaft und Verbraucherschutz punkten. Sie hat sich mit Lobbys wie dem Bauernverband angelegt und das Bio-Siegel eingeführt. Stattdessen lieferte die Spitzenkandidatin stereotype Wahlkampfrhetorik. Ein wenig mehr Reflexion wäre beim Auftakt des Wahlkampfs im Berliner Museum schon angebracht gewesen. Damit am Ende mehr dabei herauskommt als dasselbe wie immer – nur diesmal in Grün.