Über das Buch »Salon Deutschland. Geist und Macht 1900-1945«

Am Tisch mit Rilke und Hitler

Der Salon des Münchner Verlegerehepaars Elsa und Hugo Bruckmann war in der Zeit zwischen 1899 und 1945 ein Sammelpunkt von Intellektuellen, Reformern und Künstlern. Was Schöngeister und extreme Rechte einte, war die Suche nach elementaren ­Gewissheiten. Der Germanist Wolfgang Martynkewicz hat in einer hervorragenden Studie dieses Kapitel deutscher Geistesgeschichte nachgezeichnet.

Die Geisteswelt des wilhelminischen Großbürgertums ist eines der merkwürdigsten intellektu­ellen Konglomerate in der jüngeren europäischen Geschichte. Vor allem in der Spätphase des Deutschen Kaiserreichs trafen Tradition und Moderne, Beharrungswille und Aufbruchstimmung in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen auf­einander. Dies führte am Vorabend des Ersten Weltkriegs jedoch nicht nur zu Lagerbildung, sondern zeitigte auch einige hochbrisante Mischungen. Der Salon Bruckmann in München um Elsa Bruckmann, eine geborene Prinzessin Cantacuzène, und ihren Gatten, den Verleger Hugo Bruckmann, gehörte zu den Orten, an denen die Begegnung von Literaten, Künstlern und Kulturreformern mit Mäzenen, Verlegern und Kulturpolitikern eine besondere Verdichtung erfuhr. Das dortige Zusammenwirken von adeligen und bürgerlichen Eliten, etabliertem Kulturbetrieb und avantgardistischer Intelligenz, kurz: von »Geist und Macht«, strebte Großes an – und schuf dabei Dämonen.
Der Salon sollte nach dem Ersten Weltkrieg zu einer wichtigen Bühne Adolf Hitlers werden und das Ehepaar Bruckmann den Aufstieg der NSDAP maßgeblich fördern. Diesem Geschichtskapitel hat der Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz eine umfangreiche Studie gewidmet. Im Wesentlichen auf die Briefe und Nachlässe der beteiligten Zeitgenossen und vor allem Elsa Bruckmanns gestützt, zeichnet er darin ein genaues Bild der spätwilhelminischen »Zeitenwende«. Mit seiner Studie »Salon Deutschland« gelingt dem Autor eine außergewöhnlich dichte Darstellung des gesellschaftlichen und ästhetischen Diskurses der Eliten dieser Epoche, die sich als scharfe Analyse der deutschen Misere liest.
Um 1910, diesen Eindruck vermittelt das Buch, muss der Münchner Salon einer der interessantesten Orte Europas gewesen sein. 1899 auf Initiative des Wagner-Kreises und vor allem Houston Stewart Chamberlains ins Leben gerufen, hatte sich der Salon der Förderung einer Kultur verschrieben, die den neuen Zeiten entsprechen sollte. Der Salon wie der Verlag Bruckmann förderte Talente, Kontakte wurden geknüpft, Karrieren gemacht. Nicht wenige der Namen, die damals auf der Gästeliste standen, fanden später Eingang in die Literaturgeschichte: Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmanns­thal verband eine enge Freundschaft mit dem Haus. Das »Kapillarsystem« der Bruckmanns umfasste die Kosmiker um Stefan George wie den Wiener Kreis und die Psychoanalyse. Allerdings zeitigte die Offenheit des Hauses Bruckmann für das Neue nicht nur inspirierende Folgen in der deutschen Geisteswelt, sondern bot auch allerhand obskuren Theoretikern, Antisemiten und Rasseschwärmern Raum. Bis in die Jahre des Ersten Weltkriegs bürgte der Salon jedoch für kulturelle Höhepunkte.
Es ist es bezeichnend, dass gerade München zum Ort dieser Blüte wurde. Viel stärker als das ferne Berlin entfaltete die bayerische Residenz den Drang, geistiges Zentrum zu sein; im Preußen Wilhelm II. ballte sich lediglich die Macht. So unterschieden sich bereits die architektonischen Vorstellungen dort vom Monumentalstil, der in der Reichshauptstadt gepflegt wurde: Der kaiserliche Repräsentationswille bevorzugte die spätabsolutistische Pracht und verharrte im Historismus. Seine Architekten gestalteten Neorenaissance, Neobarock oder Neo­gotik. In München war dagegen, wenn auch nicht weniger opulent, das Spiel mit dem Neuen möglich; hier suchten sich die Bauherren »orientalische« oder antike Vorbilder und wandelten diese ab. Einen plastischen Eindruck von den ästhetischen Präferenzen dieser Zeit kann man sich auch heute noch durch einen Ausflug in die Villa Stuck im Münchner Stadtteil Bogenhausen verschaffen. Das 1897 nach eigenen Entwürfen von dem Münchner Künstler Franz von Stuck als Atelier- und Wohnraum erbaute Palais präsentiert den Formdiskurs des Fin de Siècle in all seinen Verweisen und Überfrachtungen. Das Gebäude und die freizügig-dekadenten Motive des Künstlerpaares Mary und Franz von Stuck waren zur Jahrhundertwende modernistische Sensation und Skandal zugleich. Heute wirken die Gestaltung der Räume, die Skulpturen und Motive wie eine Postmoderne avant la lettre. Keine Frage, dass auch das Ehepaar Stuck bei den Bruckmanns verkehrte, denn diese scharten neben der literarischen Avantgarde auch Bühnenreformer und architektonische Neuerer um sich. Nicht selten kamen neue Impulse aus glücklichen Personenkonstellationen zustande, wie im Falle des Mäzens Harry Graf Kessler und des Architekten und Designers Henry van de Velde. Mächtige Förderer konnten Widerstände konservativer Kulturbeamter beseitigen und damit ihren Protegés weiterhelfen. Mit diesem Netzwerk war es möglich, den neuen Formen gegen den etablierten Berliner Geschmack zur Aufmerksamkeit zu verhelfen. Auch die durch Bruckmann gegründete und von Julius Meier-Graefe geleitete Zeitschrift Dekorative Kunst spielte dabei eine zentrale Rolle.
Nicht nur auf dem Feld der Architektur war man bemüht, die Gebrauchsfeindlichkeit des wilhelminischen Plunders zu überwinden. Die Fronten der Auseinandersetzung, auch das verdeutlicht die Studie, waren alles andere als klar und lassen sich kaum in »Traditionalisten« und »Modernisten« aufteilen. Es gab »Moderne«, die sich aus nationalistischen Gründen massiv gegen den französischen Einfluss stemmten und der wilhelminischen Hofmalerei vorwarfen, vom Stil her eigentlich »Französlinge« zu sein. Verfechter der neu entwickelten Formen wollten einerseits der industriellen Fertigung Rechnung tragen, andererseits aber auch einen unverkennbaren deutschen Nationalstil erzeugen. (Vor diesem Hintergrund ist es eine der wenigen Auslassungen der Studie, dass sie Arthur Moeller van den Bruck nicht erwähnt, der schon während des Kaiserreichs Protagonist des nationalistischen Modernismus in Deutschland war.) Andere sahen in einer breitenwirksamen Vermittlung von Kunst die dringlichste Aufgabe, unabhängig von ihrem ästhetischen Gehalt. Hier hatte sich der Verlag Bruckmann bereits früh mit der Herausgabe der Zeitschrift Kunst für alle exponiert, die eine Beziehung »zwischen dem Atelier und der Na­tion« herstellen wollte.
Anfällig war der Salon Bruckmann für Propheterien jeglicher Art. Auch die Vertreter neopaganer und rassentheoretischer Ansätze fanden hier ein Forum: Alfred Schuler und Ludwig Klages präsentierten ihre Weltdeutungen, Rudolf Kassner konnte seine »Physiognomik« verteidigen und Heinrich Wölfflin in Vorträgen Kunst und »Rasse« verschmelzen. Vor allem aber war mit Houston Stewart Chamberlain stets der Wagnersche Geist präsent, zumal Chamberlains »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« bei Bruckmann erschienen waren und dem Verlag einen ungemeinen Erfolg verschafft hatten. Die »Rassenfrage« war besonders in den höchsten Kreisen en vogue, Chamberlains Wirkung reichte bis zu Wilhelm II. persönlich.
Der Erste Weltkrieg und die Verklärung der deutschen Mobilisierung zur nationalen Erhebung des »Augusterlebnisses« bot schließlich die Möglichkeit, der angeblichen Sinnkrise zu entkommen. Der Ruf zu den Fahnen schien die Erlösung zu bieten, die man zuvor vergeblich in der Kunst, in der Architektur oder auf der Bühne mit Ausdrucks- und Hexentänzen gesucht hatte. Der Salon litt zwar unter der personellen Ausdünnung durch den Kriegsdienst, man gab sich aber hochpatriotisch. Als ihr geliebter Neffe, der Hölderlin-Exeget Norbert von Helling­rath, 1916 vor Verdun fiel, zerbrach für Elsa Bruckmann eine Welt. Die Niederlage 1918 besiegelte den Abschied vom ästhetizistischen Treiben der Vorkriegszeit.
Was jetzt folgte, wirkt wie ein tiefer Bruch und stand doch in direkter Beziehung zu der Heilssuche der Vorkriegszeit. Das Ehepaar Bruckmann bahnte Adolf Hitlers Weg in die bayerische High Society. Die Annäherung an die NSDAP, merkt Wolfgang Martynkewicz an, konnte direkt an die »Kunstreligion« und »Artistenmetaphysik« anknüpfen. Dabei hätten die Bruckmanns besser als andere wissen müssen, welcher Geist sich in München Bahn brach. Wie von einem vorausschauenden Zufall diktiert, fand das berüchtigte Massaker, das Regierungstruppen im Mai 1919 an 21 Mitgliedern eines katholischen Gesellenvereins verübten, im Hause der Bruckmanns statt. Die Soldaten hatten nach der Niederschlagung der Räterepublik die jungen Männer für Spartakisten gehalten, sie festgenommen und in das Bruckmannsche Palais gebracht. Dort wurden sie vor den Augen der entsetzten Hausherrin erbarmungslos gefoltert und abgeschlachtet. Doch auch diese »Leichen im Keller« der Bruckmanns, wie das entsprechende Kapitel treffend heißt, führten bei dem Ehepaar zu keinen tieferen Erkenntnissen. Vor allem Elsa Bruckmann, die schon 1921 nationalsozialistischen Veranstaltungen beiwohnte, schwärmte für den »Führer«. Sie begleitet ihn zu seinen Auftritten im Circus Krone und besucht ihn während der Landsberger Festungshaft. Direkt nach seiner Haftentlassung, am Vorweihnachtsabend des Jahres 1924, machte Adolf Hitler dem Hause Bruckmann seine persönliche Aufwartung; von nun an verkehrten er und seine engsten Gefolgsleute wie Rudolf Hess und Alfred Rosenberg dort regelmäßig. Die Familie Baldur von Schirachs war ohnehin eng mit Bruckmanns befreundet. Hugo Bruckmann setzte sich verlegerisch für die nationalsozialistische Sache ein und unterstützte Alfred Rosenbergs »Kampfbund für deutsche Kultur«. In Adolf Hitler meinte man endlich den Chamberlainschen Geisteskönig gefunden zu haben, der Kunst und Politik zu einem Gesamtkunstwerk von Wagnerschem Dimensionen verschmolz. Die im Hause Bruckmann geknüpften Verbindungen sollten der »Bewegung« so manche Türe öffnen.
Doch bedeutete der ersehnte Durchbruch der NSDAP zugleich das Ende aller bildungsbürgerlichen Illusionen. Hugo Bruckmann wurde im Juli 1932 Reichstagsabgeordneter für die NSDAP und bekleidete später den Posten des Reichskultursenators. Wie viele Angehörige der noch im Wilhelminismus geprägten Genera­tion war er zwar maßgeblich am Aufstieg des »Dritten Reichs« beteiligt, konnte sich aber in der etablierten Naziherrschaft nicht lange behaupten. Dem komplizierten neuen Machtgeflecht und den Intrigen innerhalb der Partei war er nicht gewachsen. Er blieb in seiner Funktion bedeutungslos. Die Bruckmanns hatten ihre Schuldigkeit getan, jetzt war es an anderen, die Früchte ihrer Mühen zu ernten. Martynkewicz zitiert eine Äußerung Hitlers nach dem Tod Bruckmanns 1941: Der Verleger könne zwei »welthistorische Verdienste« für sich beanspruchen, erstens »die Herausgabe von Chamberlains Grundlagen des XIX. Jahrhunderts«, und zweitens seine Förderung der »jungen NSDAP«, schließlich habe Hitler im Hause Bruckmann »alle bedeutenden Männer der nationalen Kreise Münchens« kennen gelernt.
Da der Salon sich aus jenen Eliten rekrutierte, die in Deutschland stets maßgeblich waren, lässt sich an seinem Beispiel geradezu idealtypisch der Weg des deutschen Großbürgertums ablesen: Aus kunstbeflissenen Schöngeistern mit einem äußerst heterogenen Umfeld, die im Umgang sowohl mit Juden als auch mit Antisemiten stets nur ein Problem der Einladungspolitik respektive Tischordnung gesehen hatten, wurden fanatische Apokalyptiker, die sich schließlich ganz dem »Erlöser« Hitler verschrieben. Vor allem Elsa Bruckmann, resümiert Martynkewicz, habe dabei geglaubt, »eine unzerstörbare Verbindung mit dem historischen Sieg eingegangen zu sein. Kunst und Geist waren in ihrem Haus zu Komplizen der Macht geworden, um der Sehnsucht nach einer Totalität zu folgen. Die Hoffnung auf Erneuerung entsprang nicht einer gesicherten und zuversichtlichen Anschauung der Welt, sondern, ganz im Gegenteil, einer tiefen Verunsicherung.« Angesichts des Unbehagens in der Kultur schützt also weder die Kenntnis von »Wanderers Nachtlied« noch der impressionistischen Malerei davor, in Barbarei zu verfallen.
Die hochgradig umtriebige Geisteswelt der Jahrhundertwende ist noch heute schwer zu überschauen, weshalb es Wolfgang Martynkewicz nicht leicht hatte, sein umfassendes Panorama zu erstellen. Konsequent orientiert er sich an seinem Gegenstand und warnt: »Der Salon kennt kein Protokoll, keine Sitzordnung, kein Ergebnis. Die Diskurse sind durch Zeit und Raum verbunden und bleiben doch für sich.« Für das Buch bedeutet dies, dass es in der Darstellung immer wieder ausschweift, Exkurse entfaltet, die einzelnen Personen und ihr Schaffen ausführlich vorstellt. Das erschwert die Lektüre mitunter, ist aber dennoch nötig, um dem Thema und den Protagonisten gerecht zu werden. Das Ergebnis ist daher hervorragend gelungen, die Lektüre allerdings auch ein gutes Stück Arbeit. Um den Werdegang bürgerlicher Hochkultur mit all seinen Verästelungen und Niederungen beispielhaft nachzuvollziehen, ist das Buch die Mühen einer langen Lektüre zweifellos wert.

Wolfgang Martynkewicz: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945. Aufbau, Berlin 2009, 617 Seiten, 26,95 Euro