Freke Over im Gespräch über Hausprojekte und Barrikaden in Berlin-Friedrichshain vor 20 Jahren

»Die Aufarbeitung beginnt gerade erst«

Am 9. November 1989 fiel die Mauer, im Frühling wurden in Ostberlin, immer noch Hauptstadt der DDR, über 120 Häuser besetzt. Am 3. Oktober 1990 fand die deutsche Vereinigung statt, am 14. November wurden die besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain geräumt. Dazwischen lag fast ein Jahr ohne staatliche Autorität. Freke Over war vor 20 Jahren Sprecher der Besetzer der Mainzer Straße, später, zwischen 1995 und 2006, wurde er in Friedrichshain auf der Liste der PDS dreimal direkt ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Heute betreibt er in Brandenburg das »Ferienland Luhme« und ist Stadtverordneter in Rheinsberg.
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Wie bist du vor 20 Jahren in die Mainzer Straße gekommen?
Nach dem Mauerfall 1989 hat es mich nach Berlin gezogen, in die damals spannendste Stadt der Welt. Und nachdem am 1. Mai 1990 die Mainzer Straße besetzt worden war, bin ich dort im Juni eingezogen. Damals wurden mangels staatlicher Autorität massenweise Häuser in der DDR besetzt, man konnte einfach in leerstehende Häuser einziehen. Allein in der Mainzer Straße waren zwölf Häuser besetzt, zehn auf der einen und zwei auf der anderen Straßenseite. So entwickelte sich die Mainzer Straße schnell zum Zentrum der Hausbesetzerszene.
Wer waren die Bewohner?
Die kamen aus ganz unterschiedlichen politischen Spektren. Im Vergleich zu den anderen besetzten Häusern in Berlin waren in der Mainzer Straße sehr viele, ja eigentlich hauptsächlich, Wessis.
Wie viele Hausprojekte gab es damals im ­Osten?
120 Häuser, die sich alle mehr oder weniger als politische Projekte verstanden, haben sich im Verhandlungsgremium der besetzten Häuser zusammengeschlossen. Der Sommer 1990 war der kurze Sommer der Anarchie. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten, wir konnten unsere Vorstellungen von selbstbestimmtem Wohnen und unzählige Projekte einfach umsetzen. Niemand hinderte uns, die Volkspolizei trat praktisch nicht in Erscheinung.
Wann änderte sich die Lage?
Als im September 1990 der Westberliner Senat zu den Verhandlungen mit dem Ostberliner Magistrat dazukam, wurde schnell klar, dass der Senat kein Interesse hatte, Lösungen für alle Häuser herbeizuführen. Dann kam der 3. Oktober. Am Tag zuvor wurde die Polizeihoheit an Westberlin übertragen, und von diesem Zeitpunkt an mussten auch Räumungen befürchtet werden.
Und es war dann ja auch schon bald soweit.
Am 12. November wurde morgens bekannt, dass drei Häuser geräumt worden seien, zwei in der Pfarrstraße und eines im Prenzlauer Berg, daraufhin sind etwa 70 Leute aus der Mainzer Straße spontan einmal um den Häuserblock gezogen. Dabei wurden auch, wie es heißt, »Barrikaden gebaut« – in Wirklichkeit behinderten zwei Baustellenabsperrungen leicht den Verkehr auf der Frankfurter Allee. Als wir nach zehn Minuten wieder in der Mainzer Straße waren, wurde die Demonstration auch schon mit Wasserwerfern und Räumpanzern angegriffen, wir haben uns schnell in die Häuser zurückgezogen, die Räumpanzer schoben Autos zur Seite, Wasserwerfer zielten auf die Fenster, drückten uns die Scheiben ein, und aus den Fenstern flog dann vieles zurück. So begann die Eskalation.
Es gab dann heftige, viele Stunden dauernde Straßenschlachten im ganzen Kiez.
Ja, bis zum Abend war die Mainzer Straße von Polizei befreit, es wurden Barrikaden errichtet, Gräben ausgehoben. Wir haben aber auch ganz intensiv versucht, Verhandlungen zu erreichen, eine Hamburger Lösung für Berlin zu schaffen. Die Hafenstraße hat ja nach mehrtägigen Straßenschlachten eine Verhandlungslösung erreicht, das war unser Vorbild. Aber für Berlin war das politisch nicht vorgesehen. Die Straße sollte geräumt werden, 1 500 Bereitschaftspolizisten waren an diesem Tag im Einsatz. Aber die massive Gegenwehr von uns und anderen Häusern und auch von der normalen Bevölkerung führte dazu, dass sich die Polizei im Laufe der Nacht aus dem gesamten Kiez zurückziehen musste.
Am nächsten Tag wurden die Barrikaden weiter befestigt und es kamen Journalisten und Schaulustige in Massen.
Am 13. November haben alle möglichen Leute nochmal versucht zu verhandeln. Von Bärbel Bohley über Harald Wolf bis zu Renate Künast, alle waren da. Am Abend haben wir mitbekommen, dass aus Westdeutschland massive Polizeikräfte unterwegs waren, zeitweise war die Autobahn zwischen Braunschweig und Berlin für die Truppentransporte gesperrt. Da wussten wir, jetzt kommen sie mit allem, was sie haben, und am Morgen werden sie angreifen.
Etwa 4 000 Polizisten und 400 Hausbesetzer lieferten sich am 14. November eine der dramatischsten Straßenschlachten der Berliner Nachkriegsgeschichte.
Auf jeden Fall war es das Heftigste, was ich jemals in meinem Leben an staatlicher Gewalt erlebt und gesehen habe. Ich persönlich hätte gerne auf diese Erfahrung verzichtet, aber ich finde es bis heute wichtig und richtig, dass wir diesen Kampf geführt haben, auch wenn wir wussten, dass wir ihn nicht militärisch gewinnen würden. Es wurden von der Polizei tausende Gasgranaten und Gummigeschosse eingesetzt, die damals gar nicht zugelassen waren. Es soll sogar zwei Schussverletzungen durch scharfe Waffen gegeben haben, ob das stimmt, kann ich aber nicht sagen. Für uns war das dafür ausschlaggebend, dass wir uns in die Häuser zurückgezogen haben und dass wir uns dann schließlich auch haben festnehmen lassen, weil wir sagten, das ist es nicht wert, dass hier jemand dabei draufgeht.
Der Grad der Eskalation hat damals viele in eine Art Schock versetzt. In einem der acht besetzten Häuser der Kreutziger Straße nebenan wurden noch am selben Tag Mietverträge unterzeichnet aus Angst vor Räumung. Insgesamt ging es nach der Räumung der Mainzer Straße nur noch ums Legalisieren. War die Räumung der Todesstoß für die Hausbesetzerbewegung als politisches Projekt?
Anders als in den achtziger Jahren, als man mal hier und mal da ein Haus geräumt und den vermeintlich »guten« Besetzern Verträge gegeben hat, ging es bei der Mainzer Straße nur darum, ein für alle Mal die Machtverhältnisse klarzustellen, und zwar nicht nur gegenüber den Besetzern, sondern auch gegenüber der restlichen ostdeutschen Bevölkerung, damit die da gar nicht erst auf dumme Gedanken kommt.
Ein für die Linke derart krasses Ereignis wie dieses hat nicht einen einzigen Jahrestagsritus oder ähnliches nach sich gezogen, wie kann das sein?
Naja, eine Revival-Straßenschlacht halte ich nicht für ein politisch sinnvolles Konzept. Die Häuser der Mainzer Straße waren für uns verloren, die wurden ja auch sofort mit enormem staatlichen Einsatz saniert, den Eigentümern wurde die Sanierung sogar aus staatlichen Mitteln geschenkt. Der Staat hatte Fakten geschaffen. Der 14. November ist für mich nur ein Tag der Depression. Was ich aber schade finde, ist, dass wir nicht diesen kurzen Sommer der Anarchie feiern und dieses tolle Projekt, das wir da alle zusammen in dieser Ausnahmezeit durchgezogen haben.
Was war das Großartige daran?
Wir haben etwa als Straße beschlossen, wir wollen einen Abenteuerspielplatz bauen, und dann haben wir einfach angefangen, das zu tun. Wir haben entschieden, wir wollen ein wenig Verkehrsberuhigung, und einfach angefangen, Blumenkästen aufzustellen. Wir haben versucht, mit den anderen Anwohnern zu gemeinsamen Strukturen zu kommen, ob in der Volxküche oder in unseren Kneipen, Läden, bei Kulturveranstaltungen, Festen. Sicher war nicht alles erfolgreich und gut, aber es war ganz viel Bewegung drin, es war ganz viel möglich, und ganz viel davon war ein gesellschaftliches Ausprobieren.
Und geblieben sind nur solche romantischen Erinnerungen?
Nach der Räumung waren wir anfangs noch ganz euphorisch, wir dachten, es geht irgendwie weiter. Es gab ja eine unfassbar große Solidaritätswelle. Die Bevölkerung brachte ohne Ende Kleidung und andere Spenden vorbei, und Linke aus ganz Europa erklärten sich solidarisch, auf die eine oder andere Weise. Es gab in den nächsten Tagen weltweit Krawalle mit mindestens 15 Millionen Mark Sachschaden. Wir haben eine Weile gebraucht, um zu merken, da geht gar nichts los, das ist jetzt wirklich vorbei. Aber es ist sicher mehr geblieben als die Erinnerung der Beteiligten. Es waren auch nicht nur positive Erfahrungen. Ich glaube, von denen, die die Räumung miterlebt haben, ist keiner ohne kleineren oder größeren Knacks davongekommen, das war für alle eine einschneidende Lebenserfahrung, für manche traumatisch.
Die Abwesenheit der Staatsgewalt in diesem Sommer hatte sicher viele positive Auswirkungen, aber auch negative, etwa die, dass selbst Gewalt ausgeübt werden musste – gegen die in Ostberlin sehr aktiven Neonazis.
Die Nazis haben das Fehlen der staatlichen Gewalt auch ausgenutzt, sie haben in Lichtenberg ebenfalls Häuser besetzt und häufig besetzte Häuser in Friedrichshain angegriffen. Da konnte man sich nicht auf die Polizei verlassen, man musste sich selbst verteidigen. Einmal kam der Chef der Polizeiwache bei uns vorbei und entschuldigte sich, sie seien da neulich nicht gekommen, weil sie so wenige gewesen seien und Angst gehabt hätten, von den Nazis aufs Maul zu kriegen, und ob wir nicht künftig zusammenarbeiten könnten: gemeinsame Funkkanäle, gemeinsame Alarmierung.
Den Job der Polizei haben die Hausbesetzer teilweise ohnehin übernommen.
Wir haben die öffentliche Sicherheit hergestellt, ja. Wir haben originär staatliche Aufgaben wahrgenommen, um die körperliche Unversehrtheit von uns und anderen zu sichern. Es gab eine Wachzentrale, die über Funk mit den anderen besetzten Häusern im Bezirk verbunden war, und wenn irgendwas losging, dann gab es Alarm. Dann: Helme auf, rein in unsere Wanne und hin zum Einsatz. Und es hat dennoch Übergriffe gegeben, die nicht verhindert werden konnten, bis hin zu zwei Entführungen durch Nazis.
Auf der einen Seite gab es diesen unglaublichen Freiraum, auf der anderen Seite bedeutete das, hinter Stacheldraht und Falltüren leben zu müssen. Wenn du das heute abwägst …
Immer lieber den Freiraum als die staatliche Gewalt, auch um den Preis, dass man sich selber kümmern muss. Dann malt man den Stacheldraht halt rosa an.
Nicht jeder empfindet es als Ideal, so ein militarisiertes Leben zu führen.
Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt militarisiert gefühlt, denn es gab keine Hierarchien, sondern im Gegenteil Selbstverantwortung. Aber es stimmt, es war viel Gewalt im öffentlichen Raum, und das war nicht schön, das hat keinen Spaß gemacht.
Würdest du sagen, das Besondere an diesem Sommer war vor allem das einzigartige Machtvakuum?
Der historische Moment hat Dinge möglich gemacht, die jetzt unvorstellbar sind.
Gibt es irgendeine Form der historischen Aufarbeitung dieser Zeit?
Man kann uns jederzeit einladen und uns fragen. Neulich wurde eine Doktorarbeit an der Uni Graz abgelegt zur Mainzer Straße. Und gerade hatte der Interviewfilm »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer wird geräumt« Premiere. Ich denke, die historische Aufarbeitung beginnt erst so langsam.

Zur Besetzerbewegung in der Mainzer Straße findet sich auf Youtube die zehnteilige Filmreihe »Kollektiv Mainzer Straße – Sag niemals nie«.