Über manipulierte Tierdokumentationen

Wenn das Zebra im eigenen Streifen spielt

Die Sehnsucht des modernen Menschen nach dem Ursprünglichen lässt ihn schnell zum beleidigten Kritiker gestellter Tieraufnahmen werden. Doch wie echt können und sollen Naturfilme überhaupt sein?

Die Sonne brennt auf den hitzeflimmernden Boden der Savanne. Im kargen Schatten eines Baumes liegt ein zusammengekauertes Fellknäuel: ein kleiner Fellrüssler*, der mit großen Augen in die unwirtliche Welt guckt. Da – plötzlich eine Bewegung am Stamm. Ein Hackselgreifer* schiebt sich langsam die Borke hinunter. Die Musik wird dramatisch, das Bumpern der Bässe lässt Böses ahnen, schon schlägt der Beutegreifer blitzschnell und erbarmungslos zu.
Eine ganz normale Szene, wie man sie aus hunderten von Tierdokumentationen kennt. Aber stellt sie auch tatsächlich die Wirklichkeit dar? Mit dieser Frage beginnt regelmäßig die Litanei über Tricks und Täuschungen in der Tierfilmbranche. In periodischen Abständen durchziehen solche Artikel die Medien. Jüngst gerade wieder angesichts der Neuerscheinung des Buches »Shooting in the Wild: An Insider’s Account of Making Movies in the Animal Kingdom« des Tierfilmers Chris Palmer. Anne Backhaus kam auf Spiegel Online die schockierende Erkenntnis: Es ist stimmt ja gar nicht alles, was im Fernsehen läuft. Über 50 Leserrezensionen, die sich mehrheitlich genau darüber empören, findet man bei Amazon, und auch die Spiegel-Kommentatoren im Internet zeigen sich überwiegend enttäuscht von der Tierfilmbranche. Sie glauben, dass das am ehesten ein Disney- und damit Ami- und somit schließlich Hollywood-Problem sei, während die deutsche Filmwertarbeit das Wahre, Gute und Schöne darstellt, auf jeden Fall aber das Knochenehrliche.

Dabei ist das Duell Fellrüssler versus Hackselgreifer ziemlich beliebig herausgegriffen. Man hätte den Artikel auch so beginnen lassen können: Der Wind tost über die seit Wochen im klirrenden Frost liegenden Ebenen von Inukjuak an der Hudson Bay im arktischen Quebec. Einige Inuit-Frauen kauern sich in ihrem Iglu zusammen, derweil ihre Männer sich durch die Naturgewalten kämpfen, die Gesichter tief in der Fellmütze vergraben, mit Speeren bewaffnet. In der Ferne erkennt man eine Gruppe von Walrössern. Die Männer schleichen sich an, schleudern ihre Speere auf einen der Kolosse und sichern so ihren Familien das Überleben. Aber der Winter ist noch lange nicht vorüber.
»Nanook of the North«, im Deutschen »Nanuk, der Eskimo«, kam 1922 als erster abendfüllender Dokumentar-Stummfilm in die Kinos. Der Regisseur Robert J. Flaherty porträtiert in ihm das Leben des Inuit Nanook. Der Film gilt in jeder Beziehung als cineastische Meisterleistung und wird bis heute zu den bedeutendsten Dokumentarfilmen der Welt gezählt. Aber schon damals wurden Vorwürfe laut, die Dokumentation zeige gar nicht die Wirklichkeit. Denn wie sich herausstellte, hieß Nanook in Wirklichkeit Allakariallak und hatte im echten Leben eine ganz andere Frau als im Film. Er jagte auch nur für die Kamera mit dem altertümlichen Speer. Die Inuit waren damals schon längst auf Schusswaffen umgestiegen. Der Film zeigt dennoch in der naturromantisch-archaischen Version der Ahnen, wie diverse Robben und Walrösser gejagt und getötet werden. Tierschützer protestierten entsetzt, denn die Tötungsszenen waren zwar gestellt, die Robben starben aber ganz real. Kritiker warfen dem Film Betrug vor. Dem Ruhm von »Nanook« tat das letztlich keinen Abbruch, aber dieser Exkurs an den Beginn der Dokumentarfilm-Ära belegt: Die Vorwürfe, Tierfilme seien gefälscht, sind so alt wie der Tierfilm selbst.

Von den Tierfilmern ist selten geleugnet worden, dass nicht alle Szenen dadurch entstanden sind, dass ein wettergegerbter Mann mit seiner Kamera jahrelang in einem Tarnzelt hockte, bis das belauerte Tier endlich die gewünschte Verhaltensweise zeigte. Die ohnehin immens hohen Produktionskosten für solche Dokumentationen würden sonst ins Unermessliche steigen, viele Verhaltensweisen könnten vermutlich gar nicht gezeigt werden.
Das Spektrum der Manipulationen ist breit. Der Tierfilm-Pionier Heinz Sielmann begründete seinen Ruhm nicht nur damit, dass er wochenlang geduldig im Matsch herumstand, um seine favorisierten »schnepfenähnlichen Vögel« abzulichten, sondern auch durch ein gemeinsames Projekt mit dem berühmten Verhaltensforscher Konrad Lorenz, für das er einen künstlichen Hamsterbau aus Zement fertigte. Hamster verbringen den Großteil ihres Lebens unterirdisch und entziehen sich so der normalen Filmerei. Sielmann stellte zahmen Laborhamstern ein liebevoll gebasteltes Modell eines Hamster-Höhlensystems zur Verfügung, das zu einer Seite durch eine Glasscheibe einsehbar war. So gelangen erstmals Inneneinblicke in den Alltag der possierlichen Nager.
Andere Tierfilmer bestrichen Kabel mit Leberwurst, damit sie zeigen konnten, wie der urbane Marder sich an Autos gütlich tut, wieder andere pflockten Zebras in der Savanne an, damit Raubkatzen im Zoom der Kamera zeigten, was sie mit Huftieren am liebsten machen. Tiertrainer arbeiten lange daran, Wölfe zu zähmen und sie an laufende Kameras, Scheinwerfer und fluchende Regisseure zu gewöhnen. Sprengladungen um einen See sorgen für das gewünschte massenhafte Aufsteigen der Enten, und schließlich werden sogar die Akteure selbst zu Filmschaffenden, wenn etwa von Menschen aufgezogenen Vögeln Kameras im Gefieder installiert werden, damit sie für Luftbilder ihrer fliegenden Kumpels sorgen. Ganze Sequenzen werden in aufwendig nachgebauten Aquarien gedreht – oder gleich im Zoo. Und wenn alles nichts hilft, aber Vorgänger oder Kollegen in anderen Ländern mehr Glück und Tier XY schon vor der Kamera hatten, werden eben Archivbilder in das fertige Werk geschnitten.
All das ist eigentlich nie verheimlicht worden: Tierfilmer wie Heinz Sielmann haben dazu immer gerne Auskunft gegeben oder zeigen die Techniken gleich selbst, sei es im betreffenden Film, sei es in »Making of«-Produktionen. Nur das Ausmaß der Trickserei ist strittig. Die meisten Größen der Szene betrachten als Leitlinie, dass nichts gestellt werden darf, was die Tiere nicht auch tatsächlich unter natürlichen Bedingungen von selbst zeigen würden. Oder anders formuliert: Solange die Tiere als Schauspieler arbeiten und einfach nur ein solides, gut recherchiertes Sachstück visualisieren, bei dem sie sich selbst spielen, ist alles in Ordnung.
Peinlich wird es natürlich, wenn durch unsachkundige Zusammenschnitte plötzlich Arten gemeinsam durch einen Wald tollen, die in der Natur gar nicht im selben Lebensraum vorkommen, oder wenn dem Zuschauer Verhaltensweisen präsentiert werden, die das Tier unter normalen Umständen im Leben nicht zeigen würde. Auch für solche Grenzüberschreitungen gibt es zahlreiche Beispiele. Erstgenanntes kommt häufiger vor, als man denkt, und ist eher ein Zeichen von allgemein schlechten Produktionsbedingungen. Wenn der Fernsehsender Vox etwa für seine »Tier­zeit«-Dokumentationen ein Filmteam aus Kostengründen für höchstens zwei Wochen nach Südamerika schickte, um dort Material für möglichst gleich mehrere Folgen der Reihe zu drehen, ist klar, dass sie von dort keine sensationellen Aufnahmen nie zuvor dokumentierter Tierarten nach Hause bringen konnten, sondern eher einen Schwung Landschafts- und Stimmungsbilder und vielleicht noch ein paar Aufnahmen der Titelhelden, die von einem lokal kundigen Wissenschaftler mal eben aus dem Sumpf gezogen wurden. Und der Rest muss dann mit Archivbildern aufgefüllt werden, und da Biologen teurer sind als Praktikanten, hüpft am Ende eben ein mittelamerikanischer Pfeilgiftfrosch durch den südamerikanischen Dschungel.

Andere Fälle sind problematischer. Nämlich wenn vermeintliche Verhaltensweisen dokumentiert werden, die bislang unbekannt waren oder die auf falschen Annahmen beruhen. Der spektakulärste Fall dieser Kategorie betrifft ein kleines arktisches Nagetier, den berühmten Lemming. Regelmäßig werden die Tierchen, so wird es immer wieder berichtet, von einem Rappel gepackt, der sie in Massen loswandern lässt und schließlich »wie die Lemminge« in den Selbstmord durch den Sprung von hohen Klippen treibt. Von einem Massen­suizid kann in Wirklichkeit aber keine Rede sein. Vermutlich passiert nichts anderes, als dass die Populationsdynamik der Nager dazu führt, dass sie alle paar Jahre zu zahlreich für ihren Lebensraum sind. Dann wandern sie los, um neue Lebensräume zu erschließen. Und wo extrem viele Lemminge durch die Tundra wuseln, gibt eben auch der ein oder andere mal den Löffel ab oder verunfallt. Die Mär vom Massenselbstmord allerdings wurde in dem Disney-Film »White Wilderness« von 1958 eindrucksvoll in Szene gesetzt. Dort sieht man, wie sich anscheinend ein des Lebens überdrüssiger Nager nach dem anderen von hohen Klippen ins eisige Nordmeer und damit in den sicheren Tod stürzt. Was man nicht sieht, ist, dass die Disney-Leute die Tierchen zuvor auf eine rotierende Scheibe gepfropft haben und durch diese in ihr Verderben schleudern ließen. Solches Vortäuschen falscher Tatsachen gilt dann auch als massiv ehrenrührig unter Tierfilmern.
Wozu aber die Aufregung alle paar Jahre über die ganz normalen Techniken in der Tierfilmerei? Warum jammert Focus 1996 über die »Expeditionen ins Trickreich« und darüber, dass die Filmer »schummeln und tricksen für die Einschaltquote«? Wieso werden 2010 von Spiegel Online die Erfahrungsberichte Palmers als Enthüllungen angepriesen, wenn er doch nur das wiedergibt, was Dutzende Tierfilmer vor ihm in epischer Breite ganz freimütig erzählt haben, und was jeder, der Tiere ein bisschen kennt, ganz selbstverständlich annehmen muss.

Denn das Originalverhalten der Tiere würde ja ohnehin niemand sehen wollen: Es besteht bei den meisten Arten nun mal zu einem Großteil aus Herumlungern und Gammeln, aus Winterschlaf und Sommerruhe. Eine 24-Stunden-Reportage über den Tagesablauf eines Löwen wäre so aufregend wie das berühmte ORB-Aquarium der neunziger Jahre, das man unter diesem Aspekt als mutigen Versuch eines wirklich authentischen Tierfilms deuten könnte. Und dass allein schon die Lebensweise und erst recht die hervorragenden Sinne vieler Tiere verhindern, dass sie sich in den aufregenden Momenten ihres Lebens aus allen Perspektiven und in Top-Qualität filmen ließen, ahnt jeder, der draußen mal versucht hat, Arten jenseits von Spatz und Kaninchen auch nur zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn ernsthaft zu beobachten.
Das ist ein Teil der Erklärung: Der Zuschauer kennt Tiere gar nicht mehr, bzw. eben nur durch Tierdokus. Gleichzeitig aber erwartet er vom Naturfilm Wahrhaftigkeit. Er schaut fern, weil es ihn zum Echten, Ursprünglichen, Unverfälschten drängt, und was eignet sich besser für derlei aufgeladene Sehnsüchte als ein Löwenrudel, das tut, was es eben tun muss, ganz unbeeindruckt von Werbeanzeigen, Kontoständen und den neuesten Trends aus New York. Die moderne Welt bringt dem Menschen zahllose Annehmlichkeiten und Sicherheit, aber etwas in ihm wünscht sich zurück zum Archaisch-Reinen, zur Essenz der Existenz. So wird der Naturfilm zur Projektionsfläche des unerfüllten emotionalen Sehnens des modernen Menschen, unterstützt und kathartisch verstärkt durch das immerwährende Mantra am Ende der Streifen, das vor dem baldigen Ende der Naturschönheiten durch Jagd, Lebensraumzerstörung oder Klimawandel, kurz: durch den modernen Menschen warnt.
Das Tier wird so zum edlen Wilden, das dem thermopenbefensterten Loftbewohner mit Kombi im Carport den Gegenentwurf zu seiner Welt zeigt. Diese elementare Auseinandersetzung verlangt offenbar die Illusion, dass die gezeigten Tiere auch wirklich genau so sind. Dass sich bei Richterin Barbara Salesch nur Laienschauspieler streiten, kümmert niemanden, aber wenn der Fellrüssler gegen den Hackselgreifer kämpft, dann soll das bitte auch authentisch sein. Danach seufzt der Zuschauer in wohligem Schauer angesichts der schönen, unverdorbenen Natur und dreht den Temperaturregler der Heizung ein wenig höher.

* Namen von der Redaktion geändert