Die Pogrome vom 9. November 1938 im Zerrspiegel der deutschen Medien

Wie aus einem einzigen Munde

Geschichte wird gemacht, es geht voran. Von der »Reichspogromnacht« zum ­»unverkrampften Patriotismus« von heute. Die Pogrome vom 9. November 1938 in den bundesdeutschen Medien.

In den letzten beiden Jahren hat Deutschland viel gefeiert. 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall und 2 000 Jahre Varusschlacht. Hinzu kamen das Deutschland-Geschrei anlässlich der Fußballweltmeisterschaft und der Sieg der Schlagersängerin Lena Meyer-Land­rut beim Eurovision Song Contest. Das Jubiläum der »Wiedervereinigung« steht in diesem Jahr auf dem Programm. Während man den 9. November als den »Tag des Mauerfalls« feiert, wird die Bedeutung des 9. November hinsichtlich der Verbrechen der deutschen Zivilbevölkerung und der Nazi-Kommandos an Jüdinnen und Juden in den Hintergrund gedrängt. Die deutschen Verbrechen werden verdrängt, stattdessen ist die Rede von »mutigen Deutschen«, von »gerechten Grenzern« und einem »vereinten Deutschland«.
Die Besonderheit der Novemberpogrome als ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums gerät aus dem Blick. Konservative Politiker beschwören dieser Tage eine angeblich 2 000jährige »christlich-jüdisch geprägte Leitkultur« in Deutschland, doch die Novemberpogrome stehen in einer langen antijudaistischen und antisemitischen Tradition.
In der Geschichtswissenschaft wird der 9. November 1938 noch immer oft als gezieltes Vorgehen des Nazi-Regimes interpretiert, das dazu dienen sollte, auch die letzten Reste der moralisch-ethischen Grundlagen der deutschen Gesellschaft zu zerstören. Die Nazis hatten die Macht im Staat zwar übernommen und gesichert, die nahezu vollständige Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden konnte jedoch nur gelingen, weil die deutsche Bevölkerung diesen Massenmord duldend in Kauf nahm, ihn unterstützte oder sich daran beteiligte. Rückblickend werden die Novemberpogrome als ein Geschehen bewertet, das die »Endlösung« erst möglich machen sollte. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Zu Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden kam es bereits vor der Machtübernahme der Nazis, und auch nach 1933 wurde mitunter ohne einen direkten Befehl des Nazi-Regimes gemordet.

»Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen«
Bevor es zu den Novemberpogromen kam, fand eine beispiellose Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland statt. Am 1. April 1933 wurden in allen deutschen Städten jüdische Geschäfte boykottiert, mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« zwang man Juden frühzeitig in den Ruhestand, und die »Nürnberger Rassegesetze« nahmen ihnen ihre staatsbürgerlichen Rechte. In Dachau und Buchenwald wurden die Konzentrationslager ausgebaut. Zwischen 1933 und 1937 wanderten viele Jüdinnen und Juden aus, was ab 1938 seitens des Nazi-Regimes zu beschleunigen versucht wurde.
In Polen wurde derweil am 9. Oktober 1938 eine Verordnung erlassen, nach der die Pässe aller länger als fünf Jahre im Ausland lebenden Polen ablaufen sollten. Unter diesen befanden sich tausende polnische Jüdinnen und Juden. Als im Deutschen Reich großangelegte Abschiebungen nach Polen organisiert wurden, weigerten sich die polnischen Grenzbeamten, die abgeschobenen Jüdinnen und Juden aufzunehmen. Tausende waren im Niemandsland zwischen der deutschen und polnischen Grenze gefangen.
Von der Ausweisung der jüdischen Polen war auch die Familie des 17jährigen Herschel Grynspan betroffen. Aus Protest gegen diese Politik erschoss er am 7. November 1938 in Paris den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst von Rath. Die Nachricht von dessen Tod verbreitete sich rasch im Deutschen Reich. Noch am selben Abend gab Propagandaminister Joseph Goebbels allen Jüdinnen und Juden die Schuld daran und freute sich über spontane Gewalttaten im ganzen Reich, die sich gegen Juden richteten. Ein Protokoll der SA Nordsee zeigt, dass nur Stunden nach dem Attentat direkte Befehle an die Kampftruppen ausgegeben wurden: »Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sicherzustellen. (…) Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen.« Die darauf einsetzenden Pogrome dauerten nicht nur eine Nacht, sondern bis zum 13. November.
Das Ergebnis waren 91 ermordete sowie zahlreiche verletzte Jüdinnen und Juden, 191 zerstörte Synagogen, 7 500 zerstörte jüdische Geschäfte, die Verwüstung fast aller jüdischen Friedhöfe und die Deportation von 30 000 Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager. »Die Erkenntnis, dass die Juden an diesem Tag ›vogelfrei‹ seien, teilte sich auch Bürgern mit, die gar nicht zu den Einsatztrupps gehörten und auch nicht einmal Parteigenossen waren«, schreibt Daniel J. Goldhagen. »Und mancher ließ sich aufgrund der Situation hinreißen, auf die bedrängten und wehrlosen Juden einzuschlagen. (…) Weitere Hunderttausende schauten zu, als die Täter die Juden feierlich in Richtung Konzentrationslager marschieren ließen.« Zwar gab es auch Kritik von Deutschen an dem brutalen Vorgehen, aber sie richtete sich vor allem gegen die »blinde Zerstörungswut der Kampftruppen«. Und zumeist wurde sie geäußert aus Angst davor, selbst zum Ziel »jüdischer Racheakte gegen alle Deutschen« zu werden.
Der jüdische Zeitzeuge Valentin Senger aus Frankfurt berichtet in seinem Buch »Kaiserhofstraße 12«, dass er an diesem Abend von einem unglaublichen Gefühl überwältigt worden sei. »Noch nie war es mir so deutlich ins Bewusstsein gedrungen, dass ich zu ihnen gehörte. Es waren meine Brüder und Schwestern, denen man die Scheiben zertrümmerte, die Wohnungen demolierte (…) und denen man Schlimmes an Leib und Leben antat.« Die Novemberpogrome waren keine Verbrechen, die ausschließlich von den organisierten Kampftruppen der Nazis verübt wurden. Die deutsche Zivilbevölkerung – ohne Parteibuch, ohne direkte Anweisung – stand an diesem Tag auf der Straße, mitwissend und mitwirkend.

»Moralische Bereinigung des Komplexes«. Die Berichterstattung in der bundesdeutschen Presse
Dennoch vollzog sich in den vergangenen Jahren ein Diskurs, der einerseits die Deutschen zu Opfern des »Dritten Reichs« stilisiert und andererseits die Verbrechen einer kleinen Elite des Nazi-Regimes anlasten will. Die Entwicklung lässt sich beispielsweise an der Berichterstattung der Frankfurter Rundschau (FR) aufzeigen. Die FR wurde 1945 als zweite deutsche Tageszeitung nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und berichtete immer wieder über das Gedenken zum 9. November 1938. Dabei wird deutlich, dass auch in der linksliberalen Presse, sofern man von einer solchen heute überhaupt noch sprechen kann, eine Diskursverschiebung stattfindet: weg von dem Bemühen um Erinnerung, hin zur Konstruktion einer »neuen deutschen Identität«. Was nicht das Ergebnis einer spontanen Entwicklung ist. Die Veränderung des Diskurses findet kontinuierlich bis heute statt.
Am 9. November 1945 werden die Pogrome auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau thematisiert, beschrieben in einem Artikel des Rabbiners Dr. Leopold Neuhaus. Im Jahr der Niederlage des Nazi-Regimes benennt Neuhaus die Täter als »gewisse Helden der Arbeit«. Es seien die Deutschen gewesen, die mit »Hohn und Spott« die Pogrome durchführten und begleiteten. Der 9. November ist Neuhaus zufolge mit »blindwütigem, infernalischem Hass und grausamem Fanatismus« verknüpft. Ein sprachlich so direkter und emotionaler Artikel über die »Reichspogromnacht« wird in der FR nicht wieder erscheinen.
Neuhaus zufolge sind die Pogrome »nie wieder gutzumachen«. Wobei er sich an seiner Hauptfrage orientiert: »Wer könnte vergessen?« Damit wird die Forderung nach einer aktiven Erinnerung gestellt. Indem er sie als »Fanal zur Zerstörung« bezeichnet, ordnet Neuhaus die Pogrome historisch als Vorläufer der in der Folge einsetzenden mörderischen Judenverfolgung ein. Bereits wenige Jahre später, im Jahr der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, fragt Gottfried Stein in der FR vom 9. November 1949, ob es »einen ernstzunehmenden Antisemitismus im deutschen Volk« gebe. Er betont, dass die Ermordung der europäischen Juden »einen Teil der Parteimitglieder, ja überzeugte Nationalsozialisten« bestürzt habe. »Das Volk« habe »die Augen verschlossen« und mit »unterdrücktem Zorn auf die regierende Unterwelt« die Zeit des NS-Regimes überstanden.
Stein zieht eine klare Trennlinie: Auf der einen Seite meint er die NS-Täter zu sehen, auf der anderen Seite »das deutsche Volk«. Der Mehrheit der Deutschen, die derart im Handumdrehen zu Gegnern des Nazi-Regimes umgelogen werden, wird die antisemitische Gesinnung abgesprochen. Stein konstatiert am Ende, dass der »Zorn der Welt«, welcher sich »über das deutsche Volk schlechthin« entladen habe, eine »moralische Bereinigung des Komplexes in Deutschland« erschwere.
Eine kritische Reflexion der Pogrome, auch in der weiteren Berichterstattung der FR, findet hauptsächlich seitens Angehöriger der jüdischen Gemeinde oder des Zentralrats der Juden statt. Es sind deutsche, nicht-jüdische Autorinnen und Autoren, die anhand der Rezeption der Novemberpogrome versuchen, Deutschland zu entlasten oder die Shoah identitätsstiftend in die deutsche Geschichtsschreibung einzuordnen. So wird etwa der damalige Bundespräsident Walter Scheel (FDP) in der FR vom 9. November 1978 mit den Worten zitiert, »die Deutschen« dürften »um ihrer Zukunft willen den November 1938 nicht vergessen«. Die Untaten von 1938 hätten in der Niederlage von 1945 geendet und das »Unrecht, das die Deutschen anderen angetan« hätten, sei furchtbar auf sie »zurückgeschlagen«.
Augenscheinlich geht es Scheel nicht um das Leid der Opfer, sondern vor allem um die Folgen der Pogrome für Deutschland. Hingegen forderte Heinz Galinski, damals Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Berlins, in der gleichen Ausgabe der FR, »in Solidarität mit den Überlebenden des nationalsozialistischen Infernos sicherzustellen, dass sich das Vergangene nirgends wiederholt«. Es solle mit den Opfern und für die Opfer erinnert werden.
Ab Mitte der siebziger Jahre wird die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus gegen die DDR in Stellung gebracht wird. Der damalige CDU-Bundesvorsitzende Helmut Kohl sagte in einer Rede, über die auch von der FR 1978 berichtet wurde: »Die Opfer von Buchenwald und Auschwitz stehen anklagend vor den Mauern von Bautzen und dem Stacheldraht der Lager in aller Welt, in denen Menschen gequält und gemordet werden, die aufgestanden sind, um für Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit zu kämpfen.« Die Verbrechen des Nazi-Regimes wurden mit den Verbrechen anderer Regimes verglichen. Kohl stellt die Opfer der Naziverbrechen in eine Reihe mit Unterdrückten anderer Regime. Die Opfer der Shoah waren aber nicht nur politisch Verfolgte, sondern Opfer eines Rassenwahns und Antisemitismus, welcher in der industriellen Ermordung von Millionen Menschen in den Vernichtungslagern gipfelte. Eine solche Feststellung hätte jedoch nicht zur moralischen Rehabilitierung der Bundesrepublik Deutschland beigetragen und es Kohl nicht möglich gemacht, den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei der DDR um eine Art Fortsetzung der nationalsozialistischen Diktatur.

»Die Deutschen schauen nach vorn«. Die Debatte in der »Berliner Republik«
In den Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer vollzieht sich in mehrfacher Hinsicht eine Neuausrichtung des Diskurses: Entgegen der vorherigen Entwicklung findet zwar eine verstärkte kritische Reflexion statt. Gleichzeitig wird jedoch auch die Tendenz deutlich, den 9. November identitätsstiftend in die deutsche Geschichte einzufügen. Politikerinnen und Politiker aus den Reihen von CDU, CSU und FDP sprechen davon, dass der Fall der Mauer »die Ereignisse des Dritten Reichs nicht vergessen machen« könne, und rufen auf zum »Mut zur Erinnerung an alle 9. November und an die Kausalität zwischen ihnen«. 1990 lässt unter anderem auch die FR einen kritischen Blick zu. Sophinette und Hans Becker, beide Psychologen, beschreiben den Prozess der Wiedervereinigung als das »Zusammenfügen der NS-Schuld«. Der Titel der FR lautet: »Von der ersten zur zweiten und jetzt zur dritten Schuld«.
Nur ein Jahr später, 1991, bringt Roderich Reifenrath in seinem Artikel »Schwieriges Gedenken« die rassistischen Pogrome dieser Zeit mit den Pogromen von 1938 in Zusammenhang. Seine Überlegungen sind außerordentlich ambivalent. Einerseits stellt er angesichts dessen, dass die »zusammengeführte Nation ein gesteigertes Problem mit Fremden« habe, die Frage, »wie am 9. November gedacht werden soll«. Andererseits merkt er an: »Schon einmal haben Rassisten unauslöschliche Schande über dieses Volk gebracht.«
Der deutsche Autor schreibt hier als Deutscher: Über »das deutsche Volk«, das er als unwissend und arglos darstellt, wurde »Schande gebracht«. Insbesondere die Wahl des Begriffs »Schande«, den einige Jahre später auch Martin Walser in seiner Paulskirchenrede gebrauchen wird und mit dem nicht das Verbrechen selbst beklagt wird, sondern das Gefühl, für das begangene Verbrechen von anderen bloßgestellt und verurteilt zu werden, deutet darauf hin, dass es dem Autor hauptsächlich um die Sorge um das öffentliche Ansehen der Täter und ihrer Nachfahren geht, nicht aber um das Leid der Opfer.
Die Jahre nach dem Mauerfall zeigen: Nationales Gedenken schafft »nationale Identität«. Im Jahr 1998 wagt sich die FR an den Versuch, zwei sogenannte Zeitzeugenberichte zu den Novemberpogromen abzudrucken, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dabei wird nicht benannt, ob die Autoren zu jener Zeit Opfer oder Täter waren. Hans Winter schildert, wie sein Vater »in die Festhalle, Sammelort für KZ-Transporte, gebracht wurde«. »Jubelgeheul von Hunderten Zuschauern«, die die Worte »Schlagt die Juden tot!« riefen, hätten die Deportierten begleitet. Willy Musiol behauptet hingegen: »kein Publikum anwesend; man erkannte kein Feuer, es war alles ruhig«. Durch eine solche Gegenüberstellung zweier sogenannter Zeitzeugenberichte wird dem Leser der Eindruck vermittelt, dass der Verlauf der Pogrome und deren Ausmaße reine Ansichtssache seien. Warum die FR überhaupt einen Artikel abdruckte, der den historischen Tatsachen widerspricht, bleibt unbeantwortet.
Es beginnt die Phase der Integration der Novemberpogrome und der Shoah als »identitätsstiftende« Elemente des nationalen Selbstverständnisses. Die Forderung des damaligen Außenministers Joschka Fischer, nicht trotz, sondern wegen Auschwitz Krieg zu führen, ist Ausdruck dieses veränderten Umgangs mit der NS-Vergangenheit. So integrierte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am 60. Jahrestag der Pogrome diese als abgeschlossenes Kapitel in die deutsche Geschichte: »60 Jahre nach den Pogromen an den Juden schauen die Deutschen nach vorn, ohne das Vergangene zu vergessen.« Wie ernst kann Schröder es mit seiner zweiten Behauptung meinen, wenn er doch die historische Bedeutung der Shoah aus der Perspektive eines »Blicks nach vorn« verharmlost, wie es bereits seit Jahrzehnten fortwährend auch von sämtlichen Parteien rechts der CDU/CSU gefordert worden war?
Für Schröder scheint die Erinnerung an die Verbrechen, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten stattfand, ausreichend gewesen zu sein. Ein epochaler Wandel wird eingeläutet: Dank der kollektiven, d.h. institutionalisierten Erinnerung der Deutschen erübrigt sich das individuelle Gedenken an die Verbrechen und die Opfer. Mit der Schuldfrage verhält es sich hingegen umgekehrt. Die Schuld an den Pogromen trugen Einzelne, das Kollektiv ist schuldlos.
Die Erinnerung an die Pogrome verschwindet infolge dieser Entwicklung immer mehr aus der Berichterstattung und der öffentlichen Wahrnehmung. Es schließt sich eine Phase des kollektiven Desinteresses an, die bis heute andauert. Nicht Geschichtsrevisionismus prägt den Diskurs, sondern Ignoranz seitens der deutschen Öffentlichkeit. Die Pogrome finden kaum noch Erwähnung und verschwinden aus dem Bewusstsein der Lesenden.
Protest gegen das Vergessen regt sich während der Fußballweltmeisterschaft 2006. Salomon Korn, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Frankfurt, sieht durch Verschiebungen im erinnerungspolitischen Diskurs einen »Gezeitenwechsel in Sachen Erinnerung«. Diese Entwicklung und die Verbreitung von revisionistischen Meinungen würden von der Öffentlichkeit mit Gleichgültigkeit oder sogar Dankbarkeit aufgenommen. Heute dürften Dinge in der Öffentlichkeit gesagt werden, welche vor »zehn, zwanzig Jahren noch gar nicht zugelassen waren im öffentlichen Bereich«, zitiert Korn den hessischen CDU-Politiker Christean Wagner.
Die Berichterstattung vom 9. November 2008 zeigt, dass diese Beobachtung richtig ist. An diesem Tag, dem 70. Jahrestag der Pogrome, titelt die FR: »Sind wir ein Volk?« Der Jahrestag der Reichspogromnacht wird auf der Titelseite nicht erwähnt und findet nur in einem kurzen Artikel in der Zeitungsmitte Platz. Der Fall der Mauer bestimmt Bild und Text. Der damalige Chefredakteur der FR, Uwe Vorkötter, schreibt im Leitartikel zum Titelthema: »Am 3. Oktober feiert die Politik sich selbst. Am 9. November darf das Volk sich feiern.« Diese Aussage zeugt von einer Geschichtsvergessenheit, wie sie in der Berichterstattung seit 1945 ohne Beispiel ist. Der Fall der Mauer tritt in den Vordergrund und drängt die Erinnerung an die Pogrome beiseite. Deutlich wird das vor allem, da der Mauerfall sich in diesem Jahr zum 19. Mal jährt, die Pogrome hingegen zum 70. Mal. Die Meinung Vorkötters passt gut in das Bild, das in beinahe allen Medien von »den Deutschen« und »ihrer Geschichte« verbreitet wird: Sie hätten den Nationalsozialismus durch die positiven Errungenschaften der Nachkriegsjahre »überwunden« und dürften sich nun, moralisch reingewaschen, selbst feiern, »unverkrampft« und geschichtsvergessen, sogar und gerade am 9. November.

»Berliner Witz«. Die Rolle der Sprache
Der Diskurs um die Novemberpogrome unterlag einem ständigen Wandel. Kurz nach 1945 überwog eine kritische Sicht, zumeist angeregt von jüdischen Autorinnen und Autoren. Seit 1992 integrierte man die Pogrome in eine neue »Patriotismusdebatte«. In den vergangenen Jahren werden sie zugunsten eines Gedenkens an die Wiedervereinigung immer stärker marginalisiert.
Etwas, das sich durch den gesamten Diskurs zieht, ist das Bild der brennenden Synagogen. Durch dieses werden die Pogrome thematisch eingeführt, es wird ein Sinnbild geschaffen, welches die Geschehnisse dieser Tage für die Leserinnen und Leser visualisieren soll. Artikelüberschriften wie »Brennende Synagogen – Beginn der Katastrophe« verknüpfen dieses Bild zudem mit den Verbrechen der Shoah. Entscheidend ist, dass die Zerstörung der Synagogen zugleich die Zerstörung von jüdischem Leben überhaupt in Deutschland widerspiegelt. Dem industriellen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden ging eine Zerstörung aller Symbole und Einrichtungen des Judentums voraus: der Synagogen, Friedhöfen, Geschäften und anderen Institutionen.
Die Benennung der Pogrome unterliegt hingegen einem ständigen Wandel. Die Sprache trägt immer auch zur Konstruktion von Geschichte bei. Gerade die Novemberpogrome erhielten in den letzten Jahrzehnten wiederholt neue Benennungen. Der Begriff »Reichskristallnacht« wurde dabei am stärksten problematisiert: Willy Brandt sprach am 44. Jahrestag vom »Jargon der Mörder«. Im Rückblick ist nicht sicher festzustellen, ob der Begriff vom Nazi-Regime oder aus dem Berliner Volksmund stammt. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt sagte in einer Rede 1965, dass »Reichskristallnacht« ein »Berliner Witz« der regimekritischen Bürgerinnen und Bürger gewesen sei, mit dem sie ihrer Empörung angesichts der Verbrechen ein Ventil geben wollten.
Unstrittig ist jedoch, dass der Begriff von Nazi-Funktionären bewusst benutzt wurde, um die Verbrechen zu verherrlichen. So sagte der NSDAP-Funktionär Wilhelm Börger 1939, dass die »Sache als Reichskristallnacht in die Geschichte eingehen« werde, woraufhin im Zuschauersaal schallendes Gelächter ausbrach. Abgesehen davon, dass dem Begriff »Reichskristallnacht« allein wegen des Bildes, das er heraufbeschwört, die Funktion zukommt, die Verbrechen zu beschönigen, ist er auch deswegen problematisch, weil er lediglich auf die zersplitterten Glasscheiben der jüdischen Geschäfte verweist. Dass infolge der Pogrome viele Menschen deportiert und getötet wurden, darüber schweigt der Begriff.
Jüdische Zeitzeugen sprechen kurz nach den Pogromen von der »Grünspan-Affäre«, der »Rath-Aktion« oder der »Mordwoche«. Nach 1945 werden die Novemberpogrome in der DDR als »faschistische Pogromnacht« bezeichnet, während in der Bundesrepublik eine Fülle von Begriffen den Diskurs prägt, darunter »Judennacht«, »Synagogensturm«, »Synagogenbrand«, »Reichstrümmertag«, »Verfolgungswoche« oder »Synagogenstürmernacht«, um nur einige Beispiele zu nennen. Das zeigt: Die Verbrechen sind wichtig für die nachkriegsdeutsche »Erinnerungskultur«. Verschiedene politische Strömungen bilden je eigene Begriffe aus, um die Geschichte aus ihrer Perspektive zu interpretieren. Im Rahmen der Studierendenproteste 1968 beispielsweise entsteht die Bezeichnung »Beginn der Katastrophe«, mit der auf die Kausalität zwischen den Pogromen und der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden verwiesen werden sollte.
In der heutigen Debatte tauchen besonders die Begriffe »Pogrom« und der hier verwendete Begriff »Novemberpogrome« auf. Die Bezeichnung »Pogrom« ist insofern ungenau, als sie die Po­grome des 9. November 1938 nicht von anderen unterscheidet. Die Bezeichnung »Novemberpogrome« soll die Geschehnisse konkreter fassen, der Plural soll darauf verweisen, dass die Verbrechen nicht auf wenige Orte begrenzt waren und mehrere Tage andauerten. Dennoch sprach 2002 der Hamburger Politologe Harald Schmid erneut von der »Reichskristallnacht«. Er betont, dass der Begriff einen nützlichen »Stolperstein« aufweise. »Denn die scheinbar bloß etymologische und semantische Kontroverse führt geradewegs zum Gespräch über die ganze NS-Vergangenheit, den kritischen Umgang mit ihr und das Bemühen um moralische Genauigkeit – auch in der heutigen Benennung politischer Verbrechen.«
Wie sich die Begriffe weiterentwickeln werden, wenn die Überlebenden des Holocaust verstorben sein werden, ist fraglich. Die Berichterstattung in der FR zeigt, dass die Novemberpogrome mehr und mehr in den Hintergrund zu treten drohen. Das erweist sich auch an der Funktion des 9. November als Gedenktag. An Relevanz gewinnt der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer spricht dem Tag eine symbolische Bedeutung zu für die staatlich organisierte Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa und der Sinti und Roma. Diese sei zentral für das Wesen des NS-Regimes gewesen. Das Konzentrationslager Auschwitz befand sich in den besetzten Gebieten Polens, wohingegen am 9. November in fast jeder größeren deutschen Stadt die Synagogen und Geschäfte brannten und die jüdische Bevölkerung verletzt, deportiert oder ermordet wurde. Ortmeyer zufolge ist dieser Tag auch deshalb so wichtig, weil »alles vor aller Augen geschah, jeder konnte es sehen und wusste es«. Der 9. November war nicht typisch für die Vernichtungspolitik der Nazis, aber er zeigte eindrucksvoll »die Beteiligung der großen Mehrheit, mindestens das Mitwissen und Dulden am Programm ›Juda verrecke – Deutschland erwache‹«. Das NS-System und der deutsche Antisemitismus waren komplex und vielschichtig. Wenn man den 9. November und den 27. Januar als Gedenktage kombinierte, könnte so die Erinnerung an die Rolle der deutschen Bevölkerung und an das Ausmaß der Vernichtungspolitik der Nazis im Gedenken wach gehalten werden.
Im Ensemble der Gedenktage wird ein weiterer oft vergessen, der aber ebenfalls auf einen wichtigen Aspekt in der Debatte hinweist. Am 8. Mai 1945 erfolgte die bedingungslose Kapitulation der Nazis. Dieser Tag zeigte, dass es in Deutschland keinen relevanten militärischen Widerstand gegen das NS-Regime gab. Die Rote Armee und die Alliierten mussten Deutschland besetzen, in Berlin wurde um jedes Haus gekämpft. Ortmeyer weist darauf hin, dass objektiv die »Befreiung Deutschlands« stattfand, aber »die Mehrheit der Bevölkerung sah das ganz und gar anders«.

»Jetzt kommen die Miesmacher«. Das unverkrampft patriotische Deutschland

Es ist im derzeitigen öffentlichen Diskurs weder die Rede von einer möglichen Verbindung zwischen Nazi-Faschismus und dem Bau der Mauer noch von moralischen Bedenken aufgrund der doppelten Bedeutung dieses Tages. Grund hierfür ist, dass eine Behandlung dieser Themen einem »unverkrampften Patriotismus« im Wege stünde. Der Wandel des Diskurses um die Novemberpogrome und die Herausbildung eines »neuen Patriotismus« finden gleichzeitig statt und bedingen einander. Die Phase der »Integration« der nationalsozialistischen Verbrechen in den deutschen Patriotismus ermöglichte die diskursive Legitimierung von deutschem Patriotismus im Allgemeinen. Die Phase des Vergessens ermöglichte es dem Nationalismus, zu einem »unverkrampften Patriotismus« zu werden, da die Ignoranz gegenüber der Geschichte des NS-Regimes auch ermöglicht zu vergessen, dass es problematisch sein könnte, die deutsche Nation zu feiern.
Dem deutschen Nationalismus kommt deswegen im Vergleich zu anderen Nationalismen eine besondere Rolle zu: Er wird von seinen Befürwortern gewissermaßen als Protest gegen ein vermeintliches Patriotismus-Verbot und als etwas Neues gesehen. Dies stellt sich als eine Kontinuität in der Formulierung des deutschen Nationalismus dar. Aussagen wie »Endlich können die Deutschen sich unbeschwert zu ihrem Land bekennen« verdeutlichen, dass die Formulierung von Patriotismus zur Überwindung einer diffus negativen Vergangenheit dienen soll. Dabei wird im Diskurs immer wieder verdrängt, dass die Deutschen auch unmittelbar nach 1945 kein Problem mit einem positiven Bezug zur Nation hatten. Bereits während der Fußballweltmeisterschaft in Bern 1954 bekannten sich die Deutschen »unbeschwert zu ihrem Land«. »Den Deutschen aber bricht das Lied aus der Brust, unwiderstehlich. Soweit ihnen die Tränen der Freude nicht die Stimme im Hals ersticken, singen sie alle, alle ohne Ausnahme, das Deutschlandlied. Niemand, auch nicht ein einziger, ist dabei, der von ›Einigkeit und Recht und Freiheit‹ singt. Spontan, wie aus einem einzigen Munde kommend, erklingt es ›Deutschland, Deutschland über alles in der Welt‹« (Bunte Nr. 15/1954, zitiert nach: Benjamin Ortmeyer: Argumente gegen das Deutschlandlied).
Jeder Patriotismus benötigt die Konstruktion einer Nation, die eine historische Kontinuität unterstellt. Der neue »unverkrampfte Patriotismus« ist deswegen paradox. Auf der einen Seite will er ein ahistorischer Patriotismus sein, der sich anhand von Großereignissen wie der Fußball-WM ausdrückt. Jeder, der im Kollektiv »mitfeiert«, kann und darf temporär ein »Deutscher« sein. Andererseits wird die Schuld der Deutschen am »Dritten Reich« ausgeblendet: Verantwortlich seien einige wenige Nazis in der Führungsriege gewesen, die »normalen Deutschen« hätten damit nichts zu tun gehabt. Positiv bezieht man sich hingegen auf das deutsche »Wirtschaftswunder« nach 1945 und die sogenannte Wiedervereinigung nach 1989. Gerade jüngere Menschen sehen die Vergangenheit als eine Last, von der die Deutschen sich lösen oder »befreien« müssten.
Im Diskurs spiegelt sich diese Entwicklung im Vergessen wider. Das Bild vom »unverkrampften Patriotismus« und vom »friedlichen Deutschland« bekommt Risse, sobald auch nur die geringste Kritik formuliert wird. Dass »unverkrampfter Patriotismus« und die Erinnerung an die Shoah im Widerspruch zueinander stehen, lässt sich an den Reaktionen auf diese Kritik an den Feiern der deutschen Nation erkennen. So titelte etwa die Bild-Zeitung während der Fußball-WM: »Jetzt kommen die Miesmacher«. Gemeint waren die Kritikerinnen und Kritiker des neuen, sich den Anschein des Modernen gebenden Nationalismus in Deutschland. Es folgten Drohungen, Gewaltakte und öffentliche Diffamierungen. Die Reaktionen auf Kritik zeigen, wie wenig der neue Nationalismus von der Vergangenheit hören will und wie aggressiv er gegen vermeintliche Bedrohungen vorgeht.
Eine Folge des »unverkrampften Patriotismus« und des Vergessens ist überdies, dass die Frage des Ausmaßes der Shoah und der Täterschaft der Deutschen fortwährend neu verhandelt wird.
In den vergangenen Jahren tritt mehr und mehr eine Geschichtsinterpretation in den Vordergrund, der daran gelegen ist, die Deutschen zu entlasten, wobei eine klare Verurteilung der Deutschen als »Hitlers willige Vollstrecker« (Daniel J. Goldhagen) ausbleibt. So wurden im Spiegel vom 17. Mai dieses Jahres glorifizierende Bilder von sogenannten Trümmerfrauen veröffentlicht, die Deutschland nach dem Bombardement der Alliierten wieder aufbauten. Solche Darstellungen, in denen die Deutschen als Opfer inszeniert werden, auch als Opfer des Nazi-Faschismus, zeigt eine Verschiebung im öffentlichen Erinnerungsdiskurs. Es stehen nunmehr nicht die Opfer der Shoah und der deutschen Vernichtungs- und Konzentrationslager im Vordergrund des öffentlichen Erinnerungsdiskurses. Der Fokus der Berichte richtet sich immer häufiger auf die »leidenden Menschen in Deutschland« nach 1945. Der Spiegel schreibt in dem erwähnten Artikel in Bezug auf die zerstörten deutschen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg: »So etwas war einmalig in der neueren Geschichte, eine Zerstörung ohne Beispiel als Reaktion auf die nicht minder beispiellose Barbarei der Nazis.«
Das Bombardement der Alliierten wird hier mit der Shoah verglichen. Derlei kannte man bis dahin hauptsächlich von Neonazis. Auf diese Weise wird offengelassen, ob der Nazi-Faschismus schlimmer als das Bombardement war oder ob sich Vernichtung und Bombardement als gleichwertige Grausamkeiten gegenüberstehen.