Erzählt aus dem bizarren Leben einer Katholikin

So weiß wie das Mark vom Holunder

Wie eine junge Katholikin, die ein schamlos intimes Verhältnis zu Gott, seinem Sohn, Mutter Maria und dem Heiligen Geist hat, in einer heidnischen Stahlfabrik Arbeit findet und dort von einer wunderlichen Maschine hören muss, während ihr der Speichel eines Säufers an den Knien klebt, erzählt Eckard Sinzig

Ihr seid zwei ehrbare Töchter aus katholischem Hause, verstanden!« mit diesem Befehl unserer Mutter im Ohr standen wir vor dem Altar der Schulkapelle. Zuchtvoll die Hände auf dem Rücken verschränkt haltend, sangen wir das montagmorgendliche »O Haupt voll Blut und Wunden«, mit dem das Nonnenkollegium der Marienschule die frisch eröffnete Unterrichtswoche dem Schutze des Himmels anzubefehlen pflegte, und in dem Tone unerschütterlichen Glaubens, den wir bei unserem Gesang anschlugen, schwang zugleich die Überzeugung mit, dass wir im Begriff waren, uns unweigerlich in die feine Gesellschaft der Samt-und-Seiden-Stadt Krefeld emporzusingen.
Denn die Marienschule war die Höhere Töchterschule aller römisch-katholischen Seidenweber und Krawatten-Fabrikanten Krefelds. Und sie trug ihren Namen zu Recht: So wie von 500 Bäckerlehrlingen und Fleischersgesellen am Niederrhein 500 Joseph heißen, so hießen von 500 Schülerinnen der Marienschule 500 Maria: Eva-Maria, um meine Schwester herauszugreifen; Herta-Maria, meine Banknachbarin stellt sich vor; Gerda-Maria, meine Hintermännin tippt mich an. Und der Rest der 497 teilte sich in Maria-Mia, Mia-Maria, Mimi-Marie, Mimi-Mia und Marie-Mimi.
Bei der erwähnten Gleichzahl an Joseph Be­namten hinter allen Metzger- und Bäckertheken der Stadt hätte ein Auswärtiger annehmen können, Krefeld sei die organisierte Brutstätte der heiligen Paare. Und meine persönliche Überzeugung geht dahin: Sollte der Welterlöser Jesus Christus je noch einmal die Erde besuchen – seine Mutter Maria hätte ihr Latein auf der Marienschule erlernt und sein Vater Joseph hätte entweder Hammelkeulen an den Fleischtheken der Krefelder Markthalle tranchiert oder Brötchen auf dem Ostwall rundgefahren. Grund zur Annahme besteht allerdings, dass die Krefelder Muttergottes bereits vor dem Einjährigen von der Schule fliegen würde. Ein Spruch nämlich ging in Schülerinnenkreisen um: Wer die Marienschule besucht, fliegt entweder in der Quarta heraus und wird vom Fleck weg geheiratet oder er bleibt ledig – nicht nur bis zum Abitur, sondern bis an sein Lebensende.
Ja, gehässige Stimmen äußerten sich dahingehend, dass der Erwerb des Reifezeugnisses auf der Marienschule einem Verdammungsurteil zum trostlosesten Jungferndasein gleichkäme. Wer von der Marienschule mit dem Abitur abgeht, so lästerten diese Zungen, bleibt ein streberhafter Brillengucker sein Leben lang, steigt mit unversehrtem Hymen ins Grab, isst alle Freitage des Jahres Schellfisch mit Pellkartoffeln, wäscht sich grundsätzlich nicht zwischen den Beinen, holt sich aschermittwochs das Aschenkreuz, ist bei Fronleichnamsprozessionen immer die erste und strandet in einem der drei Standard-Berufe für die römisch-katholische Abiturientin: Caritas-Helferin, Fürsorgerin oder Lichtbild-Assistentin des Krefelder Bildungsvereins.
»Schwestern vom Heiligen Herzen Jesu«, so nannten sich die Erzieherinnen dieser verlästerten Anstalt.
Das verbogenste Erziehungsprodukt dieser Lehrstätte aber war ich. Keine Marienschülerin mit Reifezeugnis hat größere Schwierigkeiten im Leben gehabt als ich, und keine Undeflorierte hat je so vielen christlichen Vereinen angehört, so viele christliche Pflichten, so viele kleine Marterkreuze auf sich genommen wie ich.
Zeit meiner Jugend beispielsweise war ich Mitglied in irgendeinem Sankt-Cäcilien-, Sankt-Anna- oder Sankt-Magdalena-Chor. Bis zur Vorsängerin hatte ich es in einem dieser Musikzirkel gebracht. Jedes Jahr Ostern, wenn in der Krefelder »Königsburg« die »Johannes-Passion« aufgeführt wurde, legte ich mein schwarzes Samtkleid an und zeigte dem erlesenen Burg-Publikum die Akne-Pickel eines kränklich blassen Dekolletees vor. Dasselbe Samtkleid trug ich dann auch noch Weihnachten bei der »Missa solemnis« auf der Orgelempore der Elisabeth-Kirche, und froh war ich dann jedes Mal, dass die Aufführung in solch luftiger Höhe und in sicherem Abstand von den empfindlichen Nasen des Festpublikums stattfand, denn die Achselzwickel des Kleides rochen von der »Passion« her meist immer noch ein wenig sauer nach erkaltetem Schweiß.
Doch nicht nur zur christlichen Sopranistin, auch zur fanatischen Friedhofsbesucherin erzog mich die Marienschule.
Schon im Zeichenunterricht der Sexta begann die Einführung ins Totenreich. Perspektivisch gesehene Grabsteine und Gedenkkreuze standen auf dem Kunstplan. In der Tertia waren Grabengel-Profile und von schräg unten gesehene Urnen an der Reihe, und in der Prima skizzierten wir dann nur noch Rückansichten von Leichenschauhäusern und führten wuchtige Mausoleen im realistischen Käthe-Kolbe-Stil auf.
So kam es, dass ich zeit meiner Jugend für Kirchhöfe schwärmte und jede Gelegenheit wahrnahm, mich an Särgen, Gräbern und todesschwangerem Herbstlaub zu schaffen zu machen.
Eine Kleingärtner-Werkzeugtasche besaß ich während all meiner Schuljahre daheim. Auch ein Dutzend ewiger Lichter hatte ich stets in Reserve. Mit dieser Tasche und einigen ewigen Ampeln ausgerüstet, fuhr ich viermal die Woche auf den Städtischen Hauptfriedhof hinaus – nicht nur um das Grab meiner Großeltern zu harken, sondern sämtliche anderen vergessenen Gräber mit, die in Reichweite meines Harkenstieles lagen.
An besonders frommgestimmten Tagen trieb ich den Totenkult soweit, den Friedhofsgärtnern beim Leeren der Papierkörbe und beim Abkarren des Blumen- und Kranzkompostes zu helfen. Sogar verrußte Grabsteine konnte man mich mit Hilfe einer Wurzelbürste und etwas Kernseifenlauge abschrubben sehen. Und eines Tages, als mich wieder einmal christliches Gärtnerinnengefühl zu einem verwilderten Grabhügel hingetrieben hatte, stach ich die jätende Schuffel im Eifer so tief, dass mir erste Schlüsselbeinknochen und Zwischenrippen entgegenkamen.
War meine wöchentliche Pflicht auf dem Leichenanger getan, harrte ich ungeduldig dem Sonntag entgegen, um mich einem christlichen Wanderverein zuzugesellen und mir, wie es in den Pfadfinder-Broschüren heißt, »die Schönheiten meiner Heimat zu erwandern«. Auch hierbei brachte ich nur zur Frucht, was die Hände der Marienschwestern in mich eingesät hatten. Denn wer ab Sexta an daran gewöhnt ist, auf Schulausflügen seinen Rucksack voll kalter Picknick-Eier über die Rübenfelder seiner Heimat zu tragen, der gehört selbst noch mit sechzig dem Wandervogel-Verband Katholischer Jungmädchen an und hält jede Feldmaus für eine Grußbotschaft Gottes.
Der funktioniert überhaupt bei allen frommen Anlässen mit einer geschmierten Automatik, wie man es sonst nur bei den Kreiselfiguren gut geölter christlicher Glockenspiele beobachten kann.
Und so lauerte ich jedes Jahr Fronleichnam auf den Glockenschlag der Sankt-Dionysius-Kirche, um pünktlich zum Korps der freiwilligen Prozessionshelferinnen zu stoßen. Im Vereine mit diesen dienstwilligen Christinnen mottete ich in der Krypta der Kirche die Prozessionsflaggen ein. Sauber zog ich den holzgeschnitzten Prozessionsheiligen die staubabweisende Plastikhülle für das nächste Jahr über den Kopf, kämmte gewissenhaft die verknoteten Saumfransen kostbarer Altarmäntel aus und polierte mit Andacht die Sichtscheiben jener glanzvollen Monstranzen, die man bei Prozessionszügen als Schaugepränge voraus zu tragen pflegt.
Den etwas zwitterhaften Ruhm gebenedeiter Monster erwerben sich Marienschülerinnen durch solche Volontärdienste.
Der schlimmste Ruf aber, den sich ein Marien-Zögling zuziehen kann, ist der, zeitlebens etwas mit Büchsen zu tun zu haben. Von Henkelbüchsen ist hier die Rede – jenen nimmersatten Sammelbüchsen, die dauernd irgendetwas zu rappeln haben und gierig milde Groschen für irgendeinen karitativen Allerweltszweck schlucken.
Wer solch eine Büchse vor sich her schwenkt, der rappelt sich durch vom »Tag der Mutter« bis zum »Tag des Hundes«. Der rappelt für spinalgelähmte Blinde und hungernde Spinalgelähmte. Der rappelt für Asien, Afrika und die Antarktis. Den wird man einfach nicht mehr los mit seinen Anstecknadeln, Mutterblümchen, Revers-Kreuzchen, Busen-Dörnchen, Bierseidel-Kapellchen, blinden Knopfloch-Terriern, Gelähmten-Plakettchen, Lepra-Medaillen, Hunger-Anhängerchen und afrikanischen Missionswindmühlchen. Denn wie man so eine Büchse schüttelt, das lernt man auf der Marienschule schon in der Sexta.
Mit unter die Sieben Plagen werden Marienschülerinnen darum zuweilen gerechnet. Und rückblickend kann ich nur jenen rüden, aber aufrechten Stimmen beipflichten, die da sagen:
Wer die Marienschule absolviert hat, der ist so von Grund auf ein anderer, dass selbst der Kalender anders für ihn lautet. Der kann kaum noch in Ruhe sein Sonntags-Ei genießen vor lauter Maria-Empfängnis, Maria-Verhütung, Maria-Geburt, Maria-Steißgeburt, Maria-Spätgeburt, Maria-Frühgeburt, Maria-Sturzgeburt, Maria-Nachgeburt, Maria-Totgeburt. Der hat ein solch ununterbrochen strapaziertes, ein solch schamlos intimes Verhältnis zu Vater, Mutter, Sohn und Heiligem Geist, als wäre er allen vieren schon einmal in den Mastdarm gekrochen, um nachzuschauen, ob sie an Spulwürmern leiden. – Denn das lernt eine Marienschülerin schon in der Sexta – so zwischendurch, beim Spritzgebäckbacken im Kochunterricht.
Als ich schließlich die Schule verließ, die mich solches gelehrt, brach eine Welt für mich zusammen. Denn wer sich so im Uterus der Gottesmütter auskennt wie eine Marienschülerin, der wird mit dem irdischen Leben nicht mehr fertig.
Hölle waren die zwei Jahre Höhere Handelsschule, die ich nach dem Abitur absolvierte. Unfassbar schien es, dass es Mitschülerinnen geben sollte, die keinem Sankt-Cäcilien-Chor angehörten und Palmsonntag grätschbeinig auf den Sozius einer Vespa stiegen, um den Arm um den nietenbeschlagenen Hosenbund eines texanisch gekleideten jungen Mannes zu legen und sich vom Fahrtwind die Röcke über die Strumpfbänder hochkrempeln zu lassen.
Auch der Tod der Eltern traf mich unvorbereitet. Obwohl ich mir Tag für Tag schwarze Fingernägel am Humus irgendeines Grabhügels zu holen pflegte, gehörte das Sterben nicht in meine Welt. Und so sah ich die tödlichen Krebsgeschwulste an den Brüsten meiner drallen Xantener Mutter als höhnisch pralle Boskop-Äpfel des Satans an und nicht als sanfte Herbstgaben des Heilands. Der Gehirntumor aber, an dem mein Vater starb, kam mir als ein großes, schwarzes Lokomotiv-Geschwür vor. Und Beelzebub persönlich schien von der Spitze des Aachener Domes herab zu lachen, als ich mein Friedhofsbesteck auspackte, um Vater und Mutter mit kurzschäftiger Schuffel die Erde zur letzten Ruhe zu lockern.
Die wahre Hölle aber begann, als ich als Auslandssekretärin in die Krefelder Maschinenfabrik »Gebrüder Nettelbeck & Co.« eintrat.
Spanplatten- und Aluminiumpressen wurden in den Werkhallen dieser Weltfirma hergestellt, die 9 000 Metallarbeitern Beschäftigung gab. Ihre weitgespannten Geschäftsbeziehungen reichten von Paris bis Moskau und von Toronto bis Teheran, und wenn die Konstrukteure und Einkäufer dieser Firma in einen Boeing-Jet stiegen, dann konnten sie sicher sein, dass der stratosilberne Aluminium-Mantel der Flugmaschine auf einer Nettelbeckpresse gefertigt worden war. Kamen dieselben Geschäftsherren dann in Los Angeles an und begaben sich zu den Barhockern des Flughafen-Ausschanks, um ihren Drink einzunehmen, konnten sie schwören, dass die Furnierhölzer der Thekenverkleidung, vor die ihre pendelnden Knie stießen, auf einer Nettelbeckpresse geleimt worden waren.
Wer bei Gebrüder Nettelbeck arbeitete, lag also mit dem Ohr ganz dicht am Puls einer atem­beraubenden, maschinengehetzten, Stahltürme schmiedenden Zeit. Und wie ich, die »katholische Juffer«, als die mich einige rüpelige Lehrlinge der Versandabteilung beschimpften, in diesem weltlichen Unternehmen Unterschlupf finden konnte, wird mir für immer ein Rätsel bleiben.
Mein Französisch und Englisch wiesen jenen hoffnungslosen plattdeutschen Beiklang von kollernden Kohlköpfen und zäh schmatzenden Lehmfladen auf, an dem man den niederrheinischen Flachlandsiedler erkennt. Mein Gesicht, stelzknochig, bebrillt und von muffig bleichem Hauttyp, hatte mehr mit einem blöndlich beflaumten, brillendrahtumsponnenen Kuhsteiß als mit den profilierten Zügen einer Empfangsdame gemein und hätte jeden Chef in die Flucht schlagen müssen. Meine Brüste und mein Gesäß, fern davon, stippender Köder oder prall wabbelnder Augenfang zu sein wie bei anderen Sekretärinnen, hätten nicht einmal auf einem »Ball der einsamen Herzen« erotischen Appetit zu wecken vermocht. Ja, mein ganzes Äußeres war von solch hoffnungsloser Ländlichkeit, war ein solch maßgetreuer Plattabklatsch der trostlosen Flachlandschaft des Niederrheins, dass es mir manchmal vorkam, als hätten welke Porree-Stengel aus allen Knopflöchern meiner Kleider vorgehangen, um gegen jede meiner witz- und reizlosen Körperpartien hin die matte Abwinkgeste der Resignation zu vollführen.
Ich kann also nur annehmen, dass es die Noten meiner Zeugnisse und die Zahl meiner Schreibmaschinenanschläge gewesen sein müssen, die den Personalleiter der Firma Nettelbeck bei meiner Anstellung für mich eingenommen haben. Gehörte ich doch seit je zu jener Art von geschwindfingrigen, gewissenhaften Streberlingen, die sich mit krummem Rücken und verbissen zusammengekniffenen Lippen durch schier unüberwindlich scheinende Berge von Arbeit hindurchwühlt und bei aller verknöcherten Berserkerwut noch die Säuberlichkeit eines pedan­tischen Bankbeamten walten lässt, der sich nach jedem Aktenblatt, das er berührt, das Nagelweiß des kleinen Fingers auffrischt.
Doch, wie gesagt, Seelen- und Gewissensqual war es, bei dieser Firma zu arbeiten.
Gebrüder Nettelbeck nämlich gingen sonntags nicht zur Kirche. Keine Kruzifixe hingen in Werkhallen und Büros. Kein schwarzes Rußkreuz erschien zu Aschermittwoch auf den Stirnen des Verkaufsstabes. Kein Palmsonntagswedel hatte Platz zwischen den malmenden Kolben dieser heidnischen Stahlfabrik, die tagaus, tagein eine sodomitische Orgie metallkalter Kalkulation und Nüchternheit zu feiern schien mit ihren quietschenden Verladerampen und millimetergenau dreschenden Häckselwölfen.
Ich aber saß inmitten dies kalten Präzisionsgestanzes an meiner Schreibmaschine. Rundrückig über meine zwei ärmlichen Brüste gebeugt, tippte ich dem Prokuristen des Verkaufs die Auslandskorrespondenz. »Fräulein Rosa« pflegte mich dieser grauschläfige, fettnackige Genüssling zu nennen. Ein ironisches Lächeln spielte dabei jedesmal um seine Mundwinkel, denn er schien zu ahnen, dass meine Weltkenntnis nicht weiter reichte, als zu beurteilen, wie braun ein Spritzgebäck aus dem Ofen kommen muss, um ein echt katholisches zu sein.
Und in der Tat, ich wusste nicht, ob ich rot oder blass werden sollte, wenn dieser frivole Weltmann von seinen Geschäftsreisen aus Paris zurückkehrte.
Ein bebildertes Programmheft des bekannten Pariser Nachtkabaretts »Elle« brachte er mir dann jedesmal ins Büro mit. »Schauen Sie mal her, Fräulein Rosa«, forderte er mich auf, neben ihn zu treten, nachdem er mich mit der Aufgeräumtheit eines heimgekehrten Ehemannes begrüßt hatte. Und dann schlug er unter feistlich glucksendem Lachen das Programmheft auf, deutete mit manikürtem Zeigefinger auf die glatt­rasierten Venushügel der Nackttänzerinnen und pulte grinsend ein Loch in das Papier, als hätte er mit akkurat hervormodelliertem Fingernagelmöndchen ins Eingeweide der abgebildeten Schönheiten eindringen wollen.
Kleine weiße Speichelflocken erschienen dabei in seinen angeregt wässernden Mundwinkeln. Die seidigen Silberhärchen auf seinem krebsig roten, von Schmarren und Duellierschmissen entstellten Specknacken stachen in erektiver Steife ihre Spitzen aus den groben Hautporen vor, und ein überraschend angenehmer Frischehauch von »47 11« und »Dr.-Hillers«-Pfefferminz entströmte seinem glucksenden Mund, der in atmender Verbindung mit einem persilgewaschenen, hausfraulich betreuten Eingeweide zu stehen schien. So aus fetten Nackenporen eine zwittrige Atmosphäre von blitzblanker Biederkeit und schmuddeliger Altmännergeilheit ausstrahlend, versetzte er mir kleine, animierende Stüber mit der Schulter vor den Oberarm. »Wach auf, katholisches Unschuldslamm!« schien er sagen zu wollen, und er blätterte zur nächsten Seite des Programmheftes über, knipste mit den Fingernägeln gegen die tätowierten Brüste einer schwarzhäutigen Schautänzerin, fuhr mit scharf ritzendem Daumennagel durch den flitterbehangenen Gesäßscheitel einer die Rückseite darbietenden Balletteuse und deflorierte das Heft an allen Stellen, wo nur irgendein kosmetisch gekählter oder straßgeschmückter Schamberg im Bild erschien.
Schlaflose Nächte verbrachte ich nach solchen Büroauftritten, und ich wusste nicht, ob ich zur Kriminalpolizei oder zu meinem früheren Beichtvater, Kaplan Hansel, in die Dionysius-Kirche laufen sollte, um das Vorgefallene zu melden.
Ähnliche Gewissensnot litt ich nach Betriebsausflügen.
Der Stahleinkäufer der Firma, ein Diplom­ingenieur namens Wittges, galt als gefürchteter Alkoholiker. Die intimsten Geschäftsgeheimnisse pflegte er im betrunkenen Zustand zu verraten. Torkelig auf die Laubenbank irgendeines Biergartens hingefläzt und seine Zechkumpanen in Schunkelstellung untergehakt haltend, lallte er von Steuerschwindel, Werkspionage, Tantiemen-Schiebung und Bücherfälschung. Haltlos pendelte ihm dabei der Kopf an dem suffmatten Halse, und sein Körper schlotterte wie von Schüttelfrost ergriffen. Am Ende solcher unfreiwilligen Geständnisse erbrach er sich meist, als hätten die ausgeplauderten unsauberen Delikte sich zu breiigem Unflat auf seiner Zunge verwandelt und ihm den Magen umgestülpt.
Heimgekehrt von solchen Betriebsausflügen, wägte ich das Gehörte nächtelang ab – doch ohne einen Ausweg aus meiner sündhaften Verstrickung zu finden.
Zwar hatte ich unterscheiden gelernt, dass es lässliche Sünden und Todsünden gibt. Auch wusste ich, dass zum Beispiel Naschen eine lässliche Sünde ist und den Namen Gottes entweihen eine Todsünde. Aber worunter fällt es, den Staat um 1,2 Millionen Mark Steuergelder zu betrügen? Grenzt das näher an Naschen und ist mit einer Buße von drei Rosenkränzen erledigt? Oder hinterlässt das einen schwarzen Fleck auf der Seele, der erst beim Jüngsten Gericht wieder weggewaschen werden kann?
Die gleichen Fragen stellte ich mir bei jenem anderen Kriminaldelikt, das der trunkene Wittges im Rausche verriet. Zu Spionage war es bei irgendwelchen Geschäftsverhandlungen mit der Kanadischen Walzhütte gekommen – »die übliche Masche« – wie Wittges es speichelnd und sabbernd beschrieb.
Die Verhandlungspartner hatten sich aus dem Konferenzraum in die Kantine begeben, um Erfrischungen einzunehmen; draußen im Vorzimmer saß die Abgesandtschaft der Krefelder Konkurrenzfirma »Däumler und von der Nullen«; gewisse Angebotsunterlagen des lästigen Mitbewerbers lagen auf dem Konferenztisch herum; der nettelbecksche Fachmann für Sabotage stiehlt sich aus der Kantine in den Verhandlungsraum zurück, schießt ein paar Bilder mit seiner »Mini-Minox« und … der Auftrag geht an Nettelbeck & Co., da sich das gegnerische Angebot anhand der vorliegenden Preisdaten aufs bequemste mattsetzen lässt.
Und da fragte ich mich denn in meinem Bett: Kann so viel Hinterhältigkeit durch einen dreimaligen Verzicht auf einen leckeren Nachtisch gesühnt werden oder muss man da mit der Abrechnung warten, bis die Posaunen von Jericho ertönen?
Auch bei dem Abteilungsleiter Maukes, dem die Firma nahegelegt hatte, Zyankali zu nehmen, war schwer zu beurteilen, ob Jesus darüber nichts als das Herz bluten oder ob er den Fall mit Hölle ahnden würde.
Denn Maukes, ein labiler Typ, stark zu Depressionen neigend und allzu viele belastende Geschäftsgeheimnisse in seinem schwachbenervten Kopfe mit sich herumtragend, hatte das Zyankali wirklich genommen. Eine sieben­köpfige Familie ließ der Tote zurück; eine herzleidende Frau, zwei contergan-geschädigte Söhne und vier anämische Töchter. Nicht mitleiderregend genug jedoch war den Gebrüdern Nettelbeck diese Hinterbliebenschaft erschienen, als dass sie sich dazu hätte entschließen können, sie mit 1 200 DM monatlich zu unterstützen. Auf diese Summe nämlich lief der Pensionsvertrag. Allerdings hätte Maukes das Zyankali einen Monat später schlucken und noch vier Arbeitswochen dranhängen müssen, um dem Vertrag zur Rechtswirksamkeit zu verhelfen.
Doch welches Mädel katholischen Glaubens kann sich anmaßen, hier zu richten? Ich jedenfalls konnte es nicht. Der einzig eindeutige Fall, bei dem es wohl besser gewesen wäre, die Polizei zu verständigen, war der Fall des Chefkons­trukteurs Rhodenberger, von dem ich gleichfalls durch den betrunkenen Wittges erfuhr.
Einen Patentantrag hatte Rhodenberger im Dritten Reich dem Reichspatentamt zugeschickt, denn er hatte eine aufsehenerregende Erfindung gemacht.
Eine neue Presse war auf dem Reißbrett seines technischen Büros entstanden. Im Grunde unterschied die sich nicht wesentlich von einer der normalen Nettelbeck-Pressen, die unter hohem Druck Furniere auf Spanplatten leimen. Zwei wichtige Abweichungen von der Standard-Ausführung allerdings gab es bei dem neuen Modell: Eine Vielzahl von Sickerlöchern wies der siebartig perforierte Presstisch auf, und rund um die »Bühne« der Maschine lief eine Raufe zum Auffangen des Blutes. Eine Tötungskapa­zität von 2 000 Juden pro Stunde nämlich rühmte Rhodenberger seiner Maschine nach – »bei geringstem Anfall von Leichenmüll«, wie er mit der nüchternen Begeisterung des sachbesessenen Technikers hinzuzufügen liebte.
Im betrunkenen Zustand lallt man natürlich manches. Ja, Stahleinkäufer Wittges schien nicht einmal in nüchterner Verfassung der Mann zu sein, dem man ein Wort für wahr hätte abnehmen können. Als verdächtig fiel nur auf, dass die mitzechenden Direktoren der Firma den Betrunkenen jedesmal zum Schweigen zu bringen suchten, wenn sich seine Ausführungen über das rhodenbergersche Patent einem gewissen kritischen Punkt näherten. Meist schüttete man dem Lallenden den nächstbesten Sektkübel über den Kopf, um ihm den Mund zu stopfen. Der Rest seines Gestammels ging dann unter in dem üblichen Gejohle und Gegröle, in das die Betriebsfeste bei Nettelbeck aus­zuarten pflegen.
Einmal jedoch gelang es dem Betrunkenen, seine Erzählung zu Ende zu bringen.
Auf einem niederrheinischen Landgasthof war die Betriebsgesellschaft gegen Abend eingekehrt. Rote, nach Art einer Ziehharmonika ­gefältelte Lampions brannten im Wirtsgarten. Zu matt opalisierenden Bernsteinkugeln verwandelte der Mond die Zuckerrüben auf den Äckern ringsum, der Nachtwind trug einen ­Geruch von Froschlaich, Schilf und fauligen Seerosen herbei, und wieder steuerte die Stimmung auf jenen Höhepunkt zu, auf dem unweigerlich der Sektkübel zum Einsatz kommen musste.
Und da klirrten auch schon die Eisstücke auf den kantigen Kahlschädel des betrunkenen Wittges nieder. Auch mich erwischte der frostkalte Guss, denn als Sitznachbarin hatte man mich dem Trinksüchtigen zugewiesen, und so hing sich der Übergossene nun triefend in meinen Arm ein und suchte tappend Halt an meinen Schenkeln, um nicht unter den Tisch zu sinken.
Plötzlich aber erhob sich der Zusammengesackte mit einer letzten Kraftanstrengung. »Hier ess ich mein Brot nicht länger«, sprach er mit einem blödig-beleidigten Gesichtsausdruck über die erstaunte Runde hinweg. »Komm, Frau!« Und mit diesen Worten führte er mich beiseite, als hätte man uns gemeinsam brüskiert.
Schwankend drängte er mich etwas abseits zu einer Efeulaube hin und zog mich vertraulich auf die Bank neben sich nieder, als hätte er mich zur Zuhörerin erwählt, um seinen Schauderbericht zu Ende zu bringen.
Anstatt nun jedoch mit seiner Beichte zu beginnen, brütete er nur stumm vor sich hin und starrte mit nassen Augen in meinen Schoß. Säufertränen und Schweißperlen kollerten über sein gedunsenes Gesicht. Die Tabakfetzen einer zerkrümelten Zigarre klebten an seinen bläulichen Wulstlippen, die ihm gleich Doggenlefzen um das Kinn herumhingen. Sein Atem roch nach kaltem Bierschaum und sauren Gurken und brachte in kurzen asthmatischen Stößen die verhedderten Zierbänder eines vom Schädel gesunkenen Strohhutes zum Flattern.
Plötzlich sank der Gebrochene aufstöhnend über mir zusammen und barg den Kopf in meinem Schoß. Tastend und streichelnd glitt er mir mit seinen schwarzbehaarten Monteurhänden zwischen die Knie, um mir die Röcke aufzuschieben. Hündisch winselnd die mütterlichen Gerüche meiner Haut einsaugend, bettete er die unrasierten Wangen zwischen meine Schenkel. Bunt ringelten sich die Hutbändel des Schutzsuchenden in meine Strumpfansätze ­hinein, ein ätzender Geruch von Männerschweiß mischte sich in die eierstockwarmen Froschlaichdünste der Abendluft, und während die Blätter der Efeulaube leise raschelten unter dem Fächeln des Nachtwindes und mir ein schlüpfriger Säuferspeichel zwischen den Kniekugeln durchrann, beichtete Wittges unter Tränen die Wahrheit in meinem Schoß.
»Dir werd’ ich’s erzählen, Fräulein, jawohl, ich tu’s, Mädelchen!« schluchzte er und wühlte die glitschigen Wulstlippen tiefer in meine Unterwäsche. »Dir sag ich’s, Kindchen, weil du so liebe Kniechen hast, so süße, runde Kniechen, die sich so lieb nach Mutti anfühlen. – Also, hör zu, Kindchen! Hundert Juden haben sie uns zugeschickt, die vom Patentamt, und eine Prüfkommission haben sie auch gesandt. Da haben wir die Juden nackt antreten lassen und haben sie in die Maschine getan, die der Rhodenberger da gebaut hat, und haben gepresst und gepresst – oh, so hart, oh, so lange. – Weißt du, wie dünn eine Spanplatte ist, Kindchen? Weißt du, wie dünn die ist, Schätzchen? Was meinst du, wenn dein Kniechen zwischen 9 000 Atü geraten würde? Was meinst du, wie platt das war, Kleines? Oh, platt wie ein ganz armes kleines Plätzchen, glaub’s mir, Kindchen! – Und da haben die von der Prüfkommission so ein Stückchen totes Fleisch vom Presstisch gekratzt und haben’s gemessen. 0,3 Millimeter war’s dick, und gekrümelt hat es, weiß wie das Mark vom Holunder, und der Zeiger vom Tank, wo das rausgepresste Blut drin war, hat auf 915 Kubik gestanden – oh, 915 Kubik, Kindchen, reines Wasser und Blut.«
So hatte der Betrunkene gestammelt, und Wochen danach noch trug ich mich mit dem Gehörten herum. Nach langem Zögern begab ich mich endlich zur Beichte.
Es war das erstemal seit Jahren, dass ich wieder eine Kirche betrat, und so fühlte ich die Scheu eines Erstkommunikanten, als ich mich mit klopfendem Herzen in den Beichtstuhl von Kaplan Hansel kniete, der mir während langer Jahre ein vertrauter Freund gewesen war.
Alle Nöte und kleinen Vergehen meiner Jungmädchenzeit hatte ich zu diesem bleichen, rundgesichtigen Mann getragen, der mir trotz seiner pausbackigen Jungenhaftigkeit und der femininen Grübchen in seinen Wangen stets Vertrauen eingeflößt hatte.
Diesem Seelsorger bekannte ich nun die »ganze Wahrheit« über Gebrüder Nettelbeck & Co. Hauchend sprach ich von unterschlagenen Millionen und gefälschten Büchern. Als ich aber zu Rhodenberger und seinem Reichspatent kam, da sagte die milde, weltfremde Jungmännerstimme hinter dem raschelnd mit Zellophan überspannten Sprechgitter:
»Weißt du, mein Kind, die Welt ist voller Sünde. Wir wollen es nicht jenen geilzüngigen Übelsprechern nachtun, die mit lüsternem Mund die Schande der anderen verbreiten. Wir wollen ganz bei unseren eigenen Sünden bleiben. – Sag, mein Kind, bist du noch Jungfrau? Ist es noch unversehrt, jenes von Gott geschenkte Häutchen in deinem Schoße, jene güldene Hostie deiner Scham, deren allzeitige Bewahrung und achtsame Behütung ich dir schon vor Jahren ans Herz gelegt?«
Da hatte ich mit einem kurzangebundenen »Natürlich« geantwortet und abrupt den Beichtstuhl verlassen. Verraten fühlte ich mich in meiner Bedrängnis. Allein würde ich von jetzt ab die gotteslästerliche Wahrheit über Nettelbeck & Co. mit mir herumtragen müssen.

Redaktionell gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Eckard Sinzig: Die Jungfrauenhatz. Eine Horrorburleske. Salier-Verlag, Leipzig 2010. 339 Seiten, 24,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen. Die Originalausgabe erschien 1970 im Hamburger Gala-Verlag.

Eckard Sinzig, geb. 1939, studierte in den sechziger Jahren Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte und Philosophie, zog nach England und veröffentlichte mehrere Romane, die nicht den seinerzeit herrschenden Zeitgeschmack des Literaturbetriebs trafen. 1971 kehrte er in die Bundesrepublik Deutschland zurück, machte eine Ausbildung als Bank- und Bürokaufmann, arbeitete als Übersetzer und zuletzt als Manager eines japanischen Gastronomiekonzerns in Genf. Sein schriftstellerisches Werk, das nie die Anerkennung erfuhr, die es verdient, wird derzeit wiederentdeckt.
Ulrich Holbein lobt im Nachwort zu dem Roman Sinzigs »weitläufig flirrenden, giemenden und flitschenden Wortschatz« und schreibt über ihn: »Kein Wunder, dass Sinzig die deutschsprachige Gegenwartsliteratur magersüchtig schalt, anämisch, outdated, in allen Töpfen der gleiche Diabetiker-Quark, mit Valium III angereicherte Senioren-Schonkost, organisiertes Mittelmaß. Dranhängende Lesereisenprofis, Preisträger, Erzähltalente und Lyriker definierte Sinzig summarisch als betulich-bräsige Weichkäsehersteller, als Zipfelmützengarde der Vorgestrigkeit, als Gartenzwerg-Liga von krimineller Nettigkeit.«