Appropriation Art in Hamburg

Aneignung ist nicht Klauen

In Hamburg feiert eine Werkschau den großen Vertreter der Appropriation Art, Rodney Graham.

Wenn zeitgenössische Kunst in erster Linie Kunst über Kunst ist, so trifft das in ganz besonderem Maße auf das Werk von Rodney Graham zu. Der kanadische Konzeptkünstler bedient sich in seinen Arbeiten ganz unterschiedlicher Kunstgattungen, wie Malerei, Objektkunst, Fotografie, Performance, Film und Literatur.
Sein Vorgehen ist häufig an die Appropriation Art angelehnt: Graham greift bestimmte künst­lerische Motive oder Strategien auf, untersucht und seziert sie in bester surrealistischer Manier, kopiert sie und führt wiederum Manipulationen an seinen Kopien aus. Er spielt mit seinem Material, positioniert sich zu ihm anerkennend, ironisch, kritisch oder gar verächtlich und entwickelt es in seinem Sinne weiter.
Graham soll einmal in einem Antiquariat eine Ausgabe von James Joyces »Ulysses« gekauft, zwei Sätze verändert und sie anschließend in einem anderen Antiquariat wieder abgegeben haben. Er bedient sich sowohl bei Richard Wagner und Edgar Allan Poe als auch bei Sigmund Freud, wildert bei seinem Freund Jeff Wall, dem Minimalisten Donald Judd und Pablo Picasso. Er macht dabei auch immer sich selbst und seine Arbeit als Künstler zum Gegenstand solcherart umbildender Aneignungen.
Die Hamburger Kunsthalle gibt zurzeit mit der Retrospektive »Through the Forest« einen Überblick über sein Werk. Der Titel der Ausstellung spielt auf die Schwierigkeit an, sich in Grahams komplexen Arbeiten zurechtzufinden. Der ebenfalls aus Kanada stammende Künstler Jeff Wall hatte Ende der achtziger Jahre einen Aufsatz über Grahams Frühwerk »Into the Forest« genannt. Der Hamburger Ausstellungstitel verweist auch auf Grahams in Hamburg ausgestellte »Reading Machine for Lenz« von 1983 – womit man gleich bei der Bearbeitung literarischer Stoffe als einem der zentralen Themen Grahams wäre. Dem Künstler fiel bei der Lektüre einer englischen Übersetzung von Georg Büchners Erzählung »Lenz« an zwei bald aufeinander folgenden Stellen eine Wiederholung im Seitenumbruch auf: through/the forest. Daraus bastelte er eine Art Loop, der beim Betrachter zu existentiellen Orientierungsproblemen führt, weil man auf diese Weise immer wieder in den Wald hineingehen muss, ohne je wieder herauszukommen. Durch den Loop, der im Grunde ja ein originär filmisches Mittel ist, wird der Text zum Bild.
Graham stellt auch dort, wo er die Werke anderer thematisiert, eigene biografische Bezüge her. Bäume und Wälder spielen kunstgeschichtlich in der Ikonografie des waldreichen British Columbia, wo Rodney Graham geboren wurde und bis heute lebt, eine wichtige Rolle, so auch etwa in den Büchern und Bildern von Jack Shadbolt und Emily Carr. Graham bezieht sich recht häufig auf diese Tradition. Bäume und Wälder tauchen bei ihm allerdings immer als Teil von Kulturgeschichte auf. Es gibt keine Glorifizierung, keine Romantisierung der kanadischen Urwälder, wie etwa bei den Landschaftsmalern der »Group of Seven« zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Graham stellt die Baumporträts seiner großformatigen und bis heute unabgeschlossenen Fotoserie »Flanders Trees« auf den Kopf, während er in seiner frühen Polaroidreihe »75 Polaroids« bei nächtlichen Spaziergängen in den Wäldern rund um seinen Wohnort Vancouver mit Blitzlicht Bäume und Sträucher fotografierte, die so bar jeder Romantik in künstlichem Licht erstrahlen.
Ebenfalls in der Hamburger Werkschau zu sehen ist eine Reihe unterschiedlicher Arbeiten, in denen Graham sich mit der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds auseinandersetzt. Infolge einer intensiven Beschäftigung mit Freuds Traumdeutung hatte er die Nachbildung einer 1898 publizierten botanischen Monografie über das Alpenveilchen angefertigt. Das Buch lag damals in den Schaufenstern der Wiener Buchhandlungen aus; Freud hatte es unbewusst und nur aus dem Augenwinkel gesehen und später in einem Traum verarbeitet. Das Alpenveilchen war die Lieblingsblume seiner Frau. Das Cyclamen L., wie es von den Botanikern genannt wird, avancierte zum Namensgeber für diese Art des bloß beiläufigen Sehens, das von Freud seitdem als »Clinamen« bezeichnet wurde. Grahams Nachbildung ist eine Attrappe, deren Zweck es ist, auf den Gedanken Freuds hinzuweisen. Gleichzeitig gibt sie aber auch einige Hinweise auf seine eigene Arbeitsmethode und die Rolle, die Traum, Erfahrung und Zufall hier spielen. Graham nimmt darüber hinaus Bezug auf die Schriften von Freud, indem er orientiert an Form und Volumen seiner Standard-Gesamtausgaben Wandskulpturen im Sinne von Donald Judd baut. Genauso wie Judds Skulpturen weisen die aus Aluminium und Plexiglas gefertigten Objekte eine makellose, glatt spiegelnde Oberfläche auf, und genauso wie das Unbewusste als Container angesehen werden kann, in dem Wünsche und Triebe ihren Platz haben, verhält es sich mit den spiegelnden Kästen.
In der Ausstellung ist auch eine Serie in Öl gemalter Bilder zu sehen, in denen Graham sich als Imitator eines Epoche machenden Stils betätigt. In »Picasso, my Master« aus dem Jahr 2005 huldigt er seinem vermeintlichen Idol halb ironisch. Die Bilder wirken wie ungelenke, aber doch ambitionierte Nachahmungen des kubistischen Malstils Picassos. Das dilettantische Nacheifern erscheint hier als weitere Spielart der Aneignung.
Ein weiterer wichtiger Wirkungsbereich Rodney Grahams ist der Film. Neben einigen berühmten Werken, wie der Kronleuchterarbeit »Torqued Chandlier Release« und »Lobbing Potatos at a Gong«, mit dem sich Graham über Fluxus lustig macht und völlig unmotiviert Kartoffeln gegen einen Gong wirft, ist in der Hamburger Schau »Rheinmetall/Victoria 8« zu sehen. Die Filminstallation beschreibt den Dialog zweier Maschinen, einer Schreibmaschine und eines Filmvorführapparats. In einem kleinen, abgedunkelten Raum spielt ein klobiger alter 35-mm-Filmprojektor einen Kurzfilm ab, dessen Hauptfigur eine deutsche, in den dreißer Jahren gefertigte Schreibmaschine der Rheinmetallwerke ist, eines bis heute erfolgreichen Kriegs­industrieunternehmens. Graham fährt mit seiner Kamera die Oberfläche der Schreibmaschine ab, als handele es sich um eine Landschaft. Irgendwann beginnt Schnee (oder Asche?) auf das deutsche Metallfabrikat zu rieseln, bis es vollkommen bedeckt ist. Rodney Graham bedient sich hier üblicher filmischer Narrativmuster und erzählt doch eine eigentlich unerzähl­bare Geschichte. Das mag mit der sezierenden Kunstpraxis zusammenhängen, und je schärfer das Messer ist, dessen man sich bedient, desto größer die Irritation, desto tiefer die Wunden.

Rodney Graham: Through The Forest. Hamburger Kunsthalle. Bis 30. Januar 2011