Esther Webman im Gespräch über die arabische Welt und den Holocaust

»Das Wissen über das Schicksal der Juden wurde beiseite geschoben«

Die israelische Historikerin Esther Webman über ihre gemeinsam mit Meir Litvak publizierte Studie »Von der Empathie bis zur Leugnung: Arabische Reaktionen auf den Holocaust«

In Ihrem Buch »Von der Empathie bis zur Leugnung: Arabische Reaktionen auf den Holocaust«, das Sie zusammen mit Meir Litvak verfasst haben, betonen Sie, dass Sie »als Juden und Israelis« über dieses Thema schreiben und versuchen, »sich so leidenschaftslos wie möglich anzunähern«. Weshalb haben Sie Ihre nationale Zugehörigkeit als »unsere Unzulänglichkeit« qualifiziert?
Wenn es um den arabisch-israelischen Konflikt geht, gibt es leider den weit verbreiteten Glauben, dass ein Israeli voreingenommen ist, wenn er sich mit arabischen Angelegenheiten befasst. Wir wissen jedoch, dass wir als Historiker immer unsere subjektive Position haben, die in unserem Schreiben reflektiert werden kann. Als Historiker kennen wir diese Begrenzung, die ja für alle Historiker bei allen Themen gültig ist. Man kommt mit den eigenen Erfahrungen, mit den eigenen kulturellen und politischen Anschauungen und muss versuchen, empathisch zu sein, sich in die Situation des Objekts der Forschung hineinzuversetzen und irgendwie – so weit, wie man es kann – die eigenen Anschauungen zu neutralisieren. Das ist der Punkt, den wir klären wollten. Wir sind uns bewusst, dass wir als Israelis und Juden in diesem Konflikt involviert sind, und man nimmt an, dass wir mit einem gewissen Gepäck daherkommen, das uns in den Augen anderer befangen macht oder unausgewogen werden lässt. Dennoch haben wir – so weit möglich – ein objektives und umfassendes Bild gegeben von dem, was geschehen ist, und den aufrichtigen Versuch unternommen zu verstehen, warum diese oder eine andere Position im öffentlichen Diskurs von den arabischen Führern eingenommen wurde.
Ich habe gerade eine sehr positive Rezension Ihres Buches gelesen. Ihre Objektivität als Historiker wird also nicht in Frage gestellt?
Richtig, wegen unserer Arbeitsmethode bei all unseren Forschungen gelten wir – wenn ich es so sagen darf – als seriöse Historiker. Ich bin froh, dass alle Rezensionen, die ich bislang kenne, unser Buch als eine tiefgreifende, gut präsentierte und ausgewogene Forschung beurteilen. Wir haben zum Beispiel Anschauungen nicht ignoriert, die im Widerspruch zu dem stehen, was wir traditionellen arabischen Antisemitismus oder die arabische Auffassung über den Holocaust nennen. Wir haben versucht aufzuzeigen, wie verschieden die Auffassungen sind, insbesondere seit den neunziger Jahren. Wir haben nie behauptet, dass diese oder eine andere Auffassung die einzige ist, die existiert.
Wie schwierig war es, an die Quellen heranzukommen?
Es war gar nicht so schwierig, nur in dem praktischen Sinne, dass wir es mit einer großen Menge von Material zu tun hatten und wir uns hinsetzen mussten, um insbesondere das ägyptische und palästinensische Material seit 1945 anzuschauen. Die größte Sammlung arabischer Zeitungen seit den vierziger und fünfziger Jahren fanden wir im Moshe-Dayan-Zentrum in Tel Aviv. Wir haben uns verschiedene Quellen angeschaut. Nehmen wir Ägypten als Beispiel: Da haben wir al-Ahram, die wichtigste Zeitung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, ausgewertet, zusätzlich haben wir noch eine genommen, die damals sehr populär war: al-Misri.
Wir haben Tageszeitungen, Wochen- und Monatszeitschriften durchgesehen. Für die Zeit nach der Revolution 1952, als al-Gomhuria zum Sprachrohr des Regimes wurde, betrachteten wir auch diese Tageszeitung und fanden Unterschiede in den Nuancen. Wir nahmen Filastin und al-Difa, weil diese beiden palästinensischen Tageszeitungen auch während der jordanischen Herrschaft publiziert wurden. Selbstverständlich haben wir auch Monats- und Wochenzeitschriften wie die populäre Rose al-Youssef untersucht.
Und wir haben auch Bücher einbezogen, die seit 1945 in den wichtigen arabischen Ländern, in Ägypten und Libanon, herausgegeben wurden. Wir fanden sie in Israel, in den USA in der Library of Congress und in den Bibliotheken der Universitäten Harvard und Princeton. Wir haben uns Mühe gegeben, die wichtigsten Quellen zu finden, um ein genaues Bild geben zu können.
Sie haben in Ihrem Buch zwischen verschiedenen Themen und Perioden unterschieden. Schauen wir uns die erste Periode 1945 bis 1948 an.
Tatsächlich ist das die interessanteste Periode, denn zu dieser Zeit wurden die Grundlagen der Annäherung an das Thema Holocaust gelegt. Wir haben festgestellt, dass es einen Konflikt gab, als die Informationen über das, was in Deutschland und den Konzentrations- und Vernichtungslagern mit den Juden geschah, in den Nahen Osten gelangten und die Araber ­sofort mit einem Dilemma konfrontiert waren, als sie realisierten, dass die Sache der DPs, der Displaced Persons, in Palästina geregelt werden sollte. Als sie wahrnahmen, dass die Zionisten sich immer stärker für die Errichtung eines Staates einsetzen, sie aber andererseits wussten, dass die Juden in einer fürchterlichen Weise verfolgt wurden, waren sie gezwungen, einen Weg zu finden, wie sie damit umgehen und eine Art Kompromiss finden könnten. Denn sie erkannten, dass diese DPs nach Palästina kommen wollten, aber die Araber wollten Palästina nicht verlieren bzw. teilen.
Diesen Konflikt gab es später nicht mehr, denn sie haben nicht nur das Wissen über das Schicksal der Juden beiseite geschoben, sondern auch verhindert, dass Wissen darüber in die arabischen Länder gelangt, nicht nur Wissen, sondern auch Filme, Bücher, alles, was den Holocaust betrifft.
Warum?
Weil sie Angst hatten, dass solche Informationen ihre Kriegsanstrengungen gegen Israel, gegen die Zionisten beeinträchtigen könnten. Sie wussten, dass es sich um eine delikate Angelegenheit handelt. Die arabischen Meinungsbildner wollten nicht, dass sich ihre Bevölkerung mit dem schrecklichen Leid und mit den Opfern identifizieren. Am Anfang kamen diese Informationen in den Berichten von al-Ahram vor. Als der Krieg zu Ende ging und die Zeitungsleser und diejenigen, die Entscheidungen fällten, wussten, was geschehen war, mussten sie eine Art Lösung finden, um ihre Empathie gegenüber dem, was den Juden geschah, nicht ignorieren zu müssen und trotzdem für Palästina kämpfen zu können.
Wann begann die Opferkonkurrenz?
Ganz von Anfang an …
Mit dem Nakba-Diskurs?
Die Nakba ereignete sich erst 1948, wir waren aber überrascht, als wir herausfanden, dass dieses Wort bereits 1945 benutzt wurde. Die Araber schauten in die Zukunft und behaupteten, wenn dieses oder jenes geschehen sollte, dann wird es eine schreckliche Nakba (Katastrophe; K.P.). Es wurde schon damals behauptet, dass die Araber in Palästina sogar mehr leiden werden als die Juden. Es wird eine Art Schandfleck der Menschheit, ja die Katastrophe des 20. Jahrhunderts werden. All das wurde gesagt, bevor der Staat Israel gegründet wurde.
Wann begannen die Anschuldigungen, die Zionisten würden den Holocaust ausnützen?
Wiederum, es ist erstaunlich, bereits ganz am Anfang. Wir gingen bei unserer Forschung zu diesem Thema zunächst von der gegenwärtigen Situation aus. Wir wussten, dass »das Ausnützen des Holocaust durch die Zionisten« und sogar »die Zusammenarbeit der Zionisten bei der Vernichtung der Juden« ein Thema sind.
Schon vor der Errichtung des Staates Israel?
Genau, da gab es diejenigen, die das bereits 1944, 1947 und Anfang 1948 betonten. Noch bevor Israel gegründet wurde, haben sie den Zionismus mit dem Nazismus verglichen, und als wir das Material aus der Zeit von 1945 bis 1948 überprüften, fanden wir dieselben Themen wie heute, die allerdings noch nicht so ausgefeilt waren wie heute. Doch finden wir schon den Vergleich von Nazismus und Zionismus. Im April 1948 haben wir das Geschehen in Dir Yassin*, und wir finden sofort den Vergleich zwischen den Naziverbrechen und den von Juden gegen Palästinenser unternommenen Aktionen. Doch anders als später gab es allerlei Stellungnahmen, es gab einen Versuch, das jüdische Leiden vom Palästina-Problem zu trennen, trotzdem wurden schon damals das Ausmaß und die historische Bedeutung des Holocaust verharmlost, und man beschuldigte die Juden, für ihr Schicksal verantwortlich zu sein. »Wir sollen doch nicht diejenigen sein, die den Preis für die Verbrechen anderer an einem anderen Ort zu bezahlen haben«, diese Argumentation wurde bereits seit Kriegsende benutzt.
Die Palästinenser hätten ihren eigenen arabischen Staat errichten können?
Richtig, aber versuchen Sie doch, die Sache von ihrem Standpunkt zu sehen. Sie wollten nicht teilen, was sie als ihr Eigentum betrachteten. Sie haben einen Kompromiss vor und nach der Errichtung des Staates Israel abgelehnt, unglücklicherweise für uns alle. Es war ja nicht nur eine Entscheidung der Zionisten, einen ­jüdischen Staat zu schaffen, sie wussten, dass die Völkergemeinschaft diesen Beschluss akzeptierte.
Es gab 600 000 Juden im Heiligen Land, und die hatten das Recht zur Selbstbestimmung.
Genau, aber in ihren Augen waren das Neuankömmlinge.
Ich fragte vor ein paar Wochen Tom Segev, ob denn der Mainstream-Antisemitismus in der arabischen Welt die Wende nach Rechts in Israel bestärkt habe. Er verneinte dies entschieden. Dann sagte er, dass der Kampf gegen den Antisemitismus nicht seine Aufgabe sei, Araber mögen doch dagegen kämpfen. Unglücklicherweise tun das die meisten nicht, das Gegenteil geschieht. Was denken Sie über Historiker und Journalisten, die sagen, wir müssen über gewisse Themen nicht sprechen, denn sie könnten die Möglichkeit eines palästinensisch-israelischen Friedens beschädigen? Wir sollten nicht sprechen über …
… Antisemitismus …
Ja, wir sollten nicht über Antisemitismus und Holocaustleugnung in der arabischen Welt sprechen. Hören Sie das auch?
Selbstverständlich höre ich das, doch das sollte nicht tabuisiert werden. Denn eines der Probleme des Friedensprozesses war – und ich habe sehr an Oslo geglaubt, trotz der Tatsache, dass es eine Vereinbarung der Führung war und nicht von unten kam –, dass es trotz des Vertrages zu einer Aufwiegelung gegen Israel und die Juden kam.
In den Schriften über Israel und über Juden und in allerlei Predigten von verschiedenen Imamen in der arabischen Welt wurde nicht der Frieden gefördert, sondern in sehr vielen Fällen versucht, Feindschaft zu erzeugen. Man kann nicht Frieden schließen wollen und auf der anderen Seite weitermachen mit der Verleumdung desjenigen Volkes, mit dem man versucht Frieden zu machen. Wir hatten dieses Problem auch mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), doch dort ist die Lage ein bisschen anders, und mehr und mehr ist diese Art von Antisemitismus vor allem bei Islamisten vorzufinden. Doch unglücklicherweise sind Antisemitismus und gewisse Vorurteile, die den klas­sischen Antisemitismus charakterisieren – die es so früher nicht gab –, in die arabische öffentliche Meinung eingedrungen. Das gilt auch für Ägypten, mit dem wir seit 1979 ein Friedensabkommen haben, aber das hat die Wahrnehmung insbesondere der Mehrheit der Elite nicht geändert.
Die ägyptischen Gewerkschaften schließen Mitglieder aus, die Israel besuchen.
Natürlich, und sie lassen sogar noch heute bestimmte Filme über den Holocaust nicht zu.
»Anne Frank« wurde nicht gezeigt.
Unter keinen Umständen, sogar der Benigni-Film »Das Leben ist schön«, der eine Diskussion auslöste, wurde in der arabischen Welt nicht gezeigt. Sie betrachten das als »zionistische Propaganda«. Sie haben Angst vor einer kulturellen israelischen oder westlichen Beherrschung. Aber das ist genau, was man tun müsste, genauso wie es während der sechziger Jahre eine Indoktrination in Ägypten gab, man müsste eine entgegengesetzte Indoktrination realisieren, um die Bevölkerung auszusöhnen, damit sie die Idee akzeptiert, dass Israel bestehen bleibt. Unglücklicherweise geschieht dies nicht.
Wird Ihr Buch in andere Sprachen übersetzt? Ich denke, viele deutschsprachige Leser wären interessiert am Thema Holocaust und an der Reaktion in der arabischen Welt.
Das Buch wird jetzt ins Hebräische übersetzt. Das Projekt Aladin ** wird das Buch vielleicht ins Arabische übersetzen, ich versuche auch, französische Verlagshäuser dafür zu interessieren.

* Bei der Eroberung des arabischen Dorfes Dir Yassin in der Nähe Jerusalems am 9. April 1948 durch 120 Mitglieder der Splittergruppen Ezel und Lechi wurden zirka 100 bis 120 Einwohner des Dorfes und vier Juden getötet. Die Anzahl der Toten wurde von den Parteien mit 254 angegeben, und die Gräuelpropaganda führte zu einer Panik unter Arabern.

** Das in diesem Jahr aus Anlass des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar initiierte »Aladin-Projekt«, eine Initiative der Stiftung zur Erinnerung an die Shoah unter Vorsitz von David de Rotschild und unter Schirmherrschaft der Unesco, übersetzt Werke zum Thema Holocaust ins Arabische, Türkische und ins Farsi. Vier Bücher zum Herunterladen finden Sie auf:
Der »Minister« für religiöse Angelegenheiten des Hamas-Regimes in Gaza, Abdullah Abujarbou, rief einer Hamas-Pressemitteilung vom 20. Februar zufolge während einer Hetzrede in einer Schule dazu auf, »einen ernsten Standpunkt« gegen das Aladin-Projekt einzunehmen, wobei er die Wichtigkeit des Widerstandes gegen dieses Projekt betonte und alle religiösen Führer und muslimischen Gelehrten aufforderte, sich dieser »intellektuellen und kul­turellen Offensive« entgegenzustellen.