Über die italienische Regierungskrise

Einer gegen alle

Die Regierung von Silvio Berlusconi verliert einen Minister nach dem anderen, die Mehrheit im Parlament wird immer instabiler. Seine Gegner wollen die Krise mit einer Übergangsregierung überwinden, doch daran denkt der Premierminister gar nicht. Er will die Vertrauensfrage stellen. Sollte er scheitern, fordert er Neuwahlen.

Die italienische Regierungskrise ist noch einmal vertagt. Sie soll erst im Dezember fortgesetzt werden. Alle Parteien sind sich einig darüber, dass derzeit wichtigere Entscheidungen auf der politischen Tagesordnung stehen. Zwar erklärten am Montag vier Kabinettsmitglieder der neu entstehenden Partei Zukunft und Freiheit für Italien (FLI) ihren Rücktritt aus der Regierung, gleichzeitig aber beteuerten sie ihre Loyalität in den kommenden Abstimmungen. Zwar reichte die Opposition bereits am Wochenende zwei Misstrauensanträge gegen Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein, doch erklärte sie gleichzeitig, dass die Abstimmung verschoben werden könne.
Alle Beteiligten berufen sich auf ein übergeordnetes Verantwortungsgefühl: Zum Wohle der Nation soll in Parlament und Senat zuerst das Haushalts- und Stabilitätsgesetz verabschiedet werden. Die Abstimmungsprozedur dauert mindestens drei Wochen, durch nachträglich eingereichte Änderungsverschläge kann die Regierung das Verfahren noch in die Länge ziehen. Der Regierungschef spielt auf Zeit. Die Verzögerung kommt aber auch der Opposition gelegen. Beide Seiten spekulieren darauf, den unvermeidlichen Wendepunkt der seit Juli schwelenden Regierungskrise zu ihren Gunsten herbeiführen zu können.

Im politischen Jargon Italiens unterscheidet man eine Krise mit ungewissem Ausgang von einer genau geplanten Krise, in der der Ministerpräsident erst gestürzt wird, nachdem die Parteien inoffiziell seinen Nachfolger ausgehandelt haben. Gianfranco Finis Rede beim Gründungskongress der FLI Anfang November kann als Vorschlag für eine »geplante Krise« betrachtet werden. Fini forderte Berlusconi zum Rücktritt auf, plädierte aber gleichzeitig für eine Fortsetzung der rechten Regierung unter Miteinbeziehung der Union der Christdemokraten (UDC). Berlusconi wies die Forderung nach seinem Rücktritt erwartungsgemäß zurück. Stattdessen kündigte er am Wochenende an, sich nach Abschluss der Haushaltsdebatte in beiden Abgeordnetenkammern einer Misstrauensabstimmung zu stellen. Taktisch geschickt will er zuerst im Senat abstimmen lassen, wo seine Koalition weiterhin über ausreichend Stimmen verfügt, um die Vertrauensfrage für sich zu entscheiden.
Seit sich die Anhänger Finis von Berlusconis Partei Volk der Freiheit (PDL) abgespalten haben, verfügt die Regierung in der zweiten Kammer des italienischen Parlaments dagegen über keine eigene Mehrheit mehr. Verliert Berlusconi die Abstimmung in der Abgeordnetenkammer, müsste er beim Staatspräsidenten seinen Rücktritt einreichen. Im Wahlkampf könnte er dann Fini des »Verrats« bezichtigen und sich zum Opfer seines »undankbaren« langjährigen Weggefährten stilisieren.
Der Staatspräsident Giorgio Napolitano ist jedoch nicht gezwungen, im Falle einer Abwahl Berlusconis umgehend Neuwahlen auszuschreiben. Er kann zunächst die beiden Kammerpräsidenten und alle Fraktionsvorsitzenden konsultieren, um festzustellen, ob sich im Parlament nicht eine neue Regierungsmehrheit findet und somit Neuwahlen vermieden werden können. Tatsächlich setzen die Gegner Berlusconis parteiübergreifend auf die Möglichkeit, die Krise so zu lenken, dass sie mit der Einberufung einer Übergangsregierung beendet werden kann. Allerdings ist derzeit völlig offen, wer wen wohin lenkt.

Fini wurde in den vergangenen Monaten wegen seiner Kritik an Berlusconis Politik und Führungsstil auch von vielen Linken als Garant der Verfassung betrachtet. Weil er den Ministerpräsidenten wiederholt an die Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung gemahnte, lobten sie seinen Respekt für die staatlichen Institutionen, als verpflichtete ihn dazu nicht allein seine Position als Präsident der Abgeordnetenkammer. Dabei wird leichtfertig übersehen, dass sein umjubelter Aufstieg zum Oppositionsführer im Hinblick auf die Neutralität, die ihm sein Amt im politischen Tagesgeschäft vorschreibt, verfassungsrechtlich eher problematisch ist. Spätestens in den vergangenen Tagen müsste den linken Anhängern Finis aber klar geworden sein, dass sich der Postfaschist von Berlusconi distanziert, um sein Projekt einer neuen italienischen Rechten voranzubringen. Er wirbt offen um das Vertrauen enttäuschter PDL-Wähler und sucht das Bündnis mit den Christdemokraten.
Einigkeit herrscht über das Ziel der angestrebten Übergangsregierung. Sie soll eine Wahlrechtsreform ausarbeiten. Uneinigkeit herrscht darüber, wie weit die Änderung des derzeit gültigen Wahlrechts reichen soll. Finis FLI favorisiert ebenso wie eine Mehrheit der Demokratischen Partei (PD) nach wie vor eher ein Mehrheitswahlrecht, mit dem langfristig ein Zwei-Parteien-System in Ita­lien etabliert werden soll. Die christdemokratischen Zentrumsparteien sind ebenso wie die derzeit nicht im Parlament vertretenen Parteien der radikalen Linken für eine Rückkehr zum Verhältniswahlrecht nach deutschem Modell. Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich in Itali­en ein bipolares System nicht durchsetzen lässt: Die christlich-konservativen Parteien der Mitte bilden längst eine Art »dritter Pol«.
Die Einsetzung einer Übergangsregierung wäre verfassungskonform, dennoch bezweifeln poli­tische Beobachter, dass mit einer ausgehandelten Mehrheit bis zum Ende der Legislaturperiode 2013 stabile Regierungsverhältnisse gewährleistet werden könnten.
Berlusconi drängt auf Neuwahlen, und noch kann er sich der Unterstützung des PDL und seines Koalitionspartners, der Lega Nord, sicher sein. Das Rechtsbündnis wurde im Frühjahr 2008 mit einem Wahlgesetz gewählt, das formal an der Wahl des Ministerpräsidenten durch das Parlament festhielt, durch seinen Wortlaut aber suggerierte, der Regierungschef würde direkt gewählt. Deshalb hält Berlusconi jede Übergangs­regierung für nicht legitimiert und pocht auf die Volkssouveränität. »70 Prozent der Italiener sind für mich«, behauptete er am Sonntag.

Tatsächlich fürchten die Oppositionsparteien, es könne Berlusconi mit Hilfe der Propaganda seiner Medienunternehmen gelingen, noch einmal die (relative) Mehrheit der italienischen Bevöl­kerung für sich zu gewinnen. Sollten sich seine Gegner nicht auf eine Übergangsregierung einigen können, so wäre der Staatspräsident gezwungen, Neuwahlen anzusetzen. Gewählt würde dann nach dem derzeitigen Wahlrecht, das dem Wahlsieger eine komfortable Mehrheit sichert. Könnte Berlusconi die Wahlen noch einmal für sich entscheiden, dann könnte er fünf weitere Jahre die Regierungsgeschäfte führen und seinen langgehegten Traum verwirklichen: sich im Lauf der Legislaturperiode zum neuen Staatspräsidenten wählen zu lassen.
Bisher folgt die Dramaturgie der Krise der Logik des Berlusconismus. Die politische Auseinandersetzung findet vorrangig in Talkshows statt, Kritik reduziert sich auf die Gags beliebter Satiriker. Der aufgeheizten Stimmung in den Fernsehstudios steht eine eigenartige gesellschaftliche Schockstarre gegenüber. Trotz der jüngsten Enthüllungen über Berlusco­nis System aus Geld, Sex und Macht und trotz der desolaten wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Lage des Landes gelingt es der größten Oppositionspartei Italiens nicht, sich als politische Alternative zu präsentieren. Im Gegenteil. Die Führungsspitze der Demokratischen Partei tritt weiterhin für die Bildung einer »nationalen Einheitsregierung« ein, sie verhandelt lieber mit den christlich-konservativen Parteien des Zentrums, anstatt für ein neues Mitte-Links-Bündnis zu werben.
Das Ergebnis der Vorwahlen, mit denen am Wochenende in Mailand der linke Spitzenkandidat für das Amt des Oberbürgermeisters bestimmt wurde, zeigt jedoch, dass die Wählerbasis den Kurs der Parteiführung nicht mittragen will. Mit überraschend deutlichem Abstand verlor der PD-Kandidat gegen einen Vertreter der radikalen Linken. Der Wahlausgang in der norditalienischen Metropole könnte den Druck auf die Demokraten er­höhen, zur Vorbereitung auf vorgezogene Neuwahlen im Frühjahr auch auf nationaler Ebene Vorwahlen abzuhalten. Apuliens Regionalpräsident Nichi Vendola hat bereits im Sommer angekündigt, für das Amt des Spitzenkandidaten einer neuen Linkskoalition kandidieren zu wollen. Der Erfolg seines Parteigenossen in Mailand stärkt seine politische Einschätzung: Nur durch eine klare Abgrenzung zur konservativen Mitte hat die italienische Linke eine Chance. Andernfalls regiert in Italien auch zukünftig ein Rechtsbündnis. Mit oder ohne Berlusconi.