Ich kann nicht anders

Fast 1 000 Menschen waren am 9. November in die Frankfurter Paulskirche gekommen, wo die städtische Gedenkfeier zum Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 stattfand. Dass das Interesse in Frankfurt bedeutend größer war als sonst alljährlich zu diesem Anlass, dürfte vor allem einen – reichlich voyeuristischen – Grund gehabt haben: Dieter Graumann und Salomon Korn, beide Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatten angekündigt, den Saal zu verlassen, sollte der Hauptredner Alfred Grosser wie schon so oft zuvor mit antiisraelischen Tiraden aufwarten. Diesen Anblick wollten sich viele offenbar nicht entgehen lassen. Doch Graumann und Korn blieben bis zum Ende, und obwohl Grosser erneut den jüdischen Staat verbal angriff und dabei auch noch den Antisemiten Martin Luther zitierte (»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«), applaudierten sie ihm schließlich sogar.
Die Taz schalt die beiden dennoch »Funktionäre mit autoritärem Gehabe« und fand, Grosser habe ihnen »eine Lektion« erteilt. Das Neue Deutschland bat den Redner umgehend zum Interview und war mit ihm ganz der Meinung, dass man Israels Politik gegenüber den Palästinensern »gerade an einem solchen Tag« thematisieren müsse. Kritik an Grosser übte lediglich Spiegel Online mit der vorsichtigen Frage, »wie sensibel die Erinnerung an das Leid der Palästinenser an einem Gedenktag für die jüdischen Opfer des Naziregimes« eigentlich sei. Die Gefahr »einer Relativierung des beispiellosen Verbrechens an den Juden« sei jedenfalls »schwer von der Hand zu weisen«. Die übrigen Medien drückten sich weitgehend um eine Stellungnahme und unterließen auch jegliche Kritik an der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU), die Grosser als Redner eingeladen hatte. Doch das ist wenig verwunderlich, denn ihre »Israelkritik« lassen sich die Deutschen immer noch am liebsten von jüdischen Kronzeugen der Anklage salvieren. Seit diesem Jahr schrecken sie davor nicht einmal mehr am 9. November zurück.