Gewaltsame Räumung eines Protestcamps in der Westsahara

Soziale Kämpfe in der Wüste

Die gewaltsame Räumung eines Protestcamps der Sahauris in der Westsahara löste heftige Unruhen in der Hauptstadt der Region aus, Laâyoune. Dabei gab es zahlreiche Tote und Verletzte.

Zwei Tage nachdem in Marokko der 35. Jahrestag des »Grünen Marsches« gefeiert worden war, der Beginn der Besetzung der bis dahin spanischen Kolonie Westsahara durch das nördlich angrenzende Königreich Marokko, wurde das Protestcamp Agdaym Izik unter massiver Gewaltanwendung geräumt. 15 Kilometer östlich der Hauptstadt Laâyoune, die zur Kolonialzeit Sitz der Verwaltung der Westsahara war, hatten Jugendliche Anfang Oktober heimlich mitten in der Wüste einige haimas errichtet, große Zelte, wie jede Familie dort eines hat. Seit 1991 herrscht in der Westsahara ein von der UN-Mission Minurso bewachter Waffenstillstand zwischen Marokko und der Guerilla der Frente Polisario, die seit 1973 für eine unabhängige Westsahara kämpft.
Die als »Gandhi der Sahara« bekannte Unabhängigkeitsaktivistin Aminetu Haidar engagiert sich gegen die Diskriminierung der Sahauris in der Region, die auf dem Arbeitsmarkt besonders ausgeprägt ist. »Für Sahauris gibt es nie Posten mit Verantwortung. Befehlen tut immer der Marokkaner«, sagt sie. Wer protestiert, wie Haidar, hat rasch die Geheimpolizei auf dem Hals. Proteste, selbst von internationalen Delegationen, werden in der Regel sofort unterdrückt (Jungle World 36/10). Deshalb entstand das Protestcamp Agdaym Izik mitten in der Wüste. »Es wurde ermöglicht durch den Einfallsreichtum der sahaurischen Jugend in Kombination mit der Fehleinschätzung der Situation durch den Wali«, den von Marokko eingesetzten Gouverneur Mohammed Guelssous, »wenn sich eine Lücke im Sicherheitssystem auftut, nutzen die Sahauris dies aus«, sagt Haidar.
Bis zum Tag der Räumung am 8. November war das nicht genehmigte »Camp der Hoffnung« auf 6 400 Zelte angewachsen, in denen etwa 20 000 Menschen gegen ihre miserable soziale Situation und Marginalisierung protestierten. »Sie stellen soziale Forderungen«, sagte die bekannte Unabhängigkeitskämpferin Ghalia Djimi, »von der Teilnehmerzahl her ist das der größte Protest, seit Spanien das Gebiet verlassen hat«.

Eine Sprecherin des Camps ist Falile Alamine von der Vereinigung der arbeitslosen Sahauris. Wie viele hier spricht sie die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht, auch wenn ihr das Wort für Mar­ginalisierung erst auf Englisch einfällt: »Die Situation muss dringend verbessert werden. Es reicht! Hier gibt es viel Ignoranz, viel Marginalisierung, die Sahauris haben hier keine Rechte. Wir fordern ein Recht auf Arbeit, auf ein normales Leben. Unser Gebiet ist doch sehr reich an Bodenschätzen, an Phosphaten, an Fischvorkommen.« Der Anteil der Phosphate und der aus ihnen gewonnenen Produkte betrug im Jahr 2009 rund 33 Prozent des gesamten Exports von Marokko. Und das Geld, das die EU im Rahmen des Fischereiabkommens an Marokko zahlt, ist ein fest eingeplanter Haushaltsposten.
Die sozialen Forderungen des Protestcamps überschneiden sich mit den politischen Forderungen der Frente Polisario nach einer Unabhängigkeit der Westsahara. Das gesamte Camp und das zentrale Organisationskomitee zeigten jedoch immer wieder, dass es ihnen vor allem um die Verbesserung ihrer sozialen Situation ging, die Fahnen der Frente Polisario waren im Camp nicht zu sehen. Entsprechend überrascht war die marokkanische Geheimpolizei davon, dass ihr völlig unbekannte Jugendliche die Initiative für das Protestcamp ergriffen und nicht etwa die bekannten Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung. Der soziale Protest stößt in der sahaurischen Bevölkerung auf eine große Resonanz – in Laâyoune wurden einige Schulen geschlossen, weil die Schüler alle im Camp waren.
Die marokkanische Regierung reagierte mit einer Doppelstrategie auf das Protestcamp. Drei hohe Funktionäre versuchten zunächst, mit dem Organisationskomitee zu verhandeln, der Regierungssprecher Khalid Naciri erklärte gemeinsam mit Außenminister Taieb Fassi-Fihri, das Protestcamp sei ein Beweis dafür, wie frei und demokratisch die »sozialen Umgangsformen« in Marokko seien. Vier Tage später wurde das Camp geräumt.
Bereits seit Wochen war es eingeschlossen und von rund 2 000 Soldaten umstellt. Wer hinaus- oder hineinwollte, musste mehrere Sperren passieren. Regelmäßig wurde das Camp im Tiefflug von Militärhubschraubern überflogen. Nicht nur die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln war zeitweilig unterbrochen, sondern auch der Personenverkehr. Am 24. Oktober wurde ein Jugendlicher an einer Sperre von Soldaten erschossen. Das Auto, in dem er saß, hatte an der zweiten Sperre nicht angehalten. Gemeinsam mit seinem erwachsenen Bruder wollte er seine Mutter in dem Camp besuchen. Beerdigt wurde er heimlich vom Militär, um einen großen Protestzug zu verhindern.
Am 6. November, dem Jahrestag des »Grünen Marsches«, erklärte Marokkos König Mohammed VI., dass »die Freiheiten, die dieses Land großzügigerweise gewährt, nicht instrumentalisiert werden dürfen, um unsere territoriale Integrität zu beschädigen«. Marokko erlaube keine Provokationen.

Bei der Räumung wurde Tränengas in das Camp geschossen, aus Hubschraubern wurde kochendes Wasser geschüttet. Dann gingen die Soldaten und Paramilitärs vor und räumten jedes einzelne Zelt. Es gibt viele Zeugen, die über den Einsatz von Schusswaffen berichten. Brahim Ahmed vom Organisationskomitee sagte der spanischen Tageszeitung El País: »Die Soldaten haben mit Maschinengewehren geschossen, es war ein Massaker.« Und weiter: »Sie sind mit einer enormen Gewalt hereingekommen, als hätten sie sich für ein Gefecht mit einer zweiten Armee vorbereitet, obwohl sie wussten, dass wir keine Waffen hatten, nicht einmal große Küchenmesser.« Das Camp wurde dem Erdboden gleichgemacht, viele Zelte wurden verbrannt.
Die Bewohner wurden durch einen Militärkorridor in Richtung Laâyoune getrieben. Dort brachen unmittelbar nach Bekanntwerden der Räumung Straßenkämpfe aus. Das Gerichtsgebäude und eine Tankstelle wurden in Brand gesteckt, Barrikaden errichtet. Die Polizei wurde beim Vorgehen gegen die Protestierenden von vielen Siedlern unterstützt, die ihrerseits Geschäfte und Autos von Sahauris in Brand setzten. »Überraschend ist, dass wir mit einer Art Intifada von der anderen Seite konfrontiert sind«, sagte Antonio Velázquez, ein mexikanischer Aktivist und Sprecher des Organisationskomitees, als er in Laâyoune erlebte, wie marokkanische Siedler Unruhen gegen die Sahauris organisierten.

Eine Woche nach der Räumung stehen in Laâyoune an jede Ecke die Polizei und das Militär. Marokkos Regierung erklärte, zehn Polizisten seien getötet worden. Die Frente Polisario meldete 19 Tote und 723 Verletzte unter den Protestierenden. Es wird vermutet, dass die 163 Verschwundenen tot sind. »Die Verschwundenen sind die Toten«, sagte Haidar am Montag der spanischen Tageszeitung Público. »Ein Mann hat berichtet, in einem Krankenhaus eine Liste mit 37 Toten gesehen zu haben.«
Am Montag wurde zudem bekannt, dass sechs der verhafteten Jugendlichen, die im Organisationskomitee des Camps aktiv waren, vor einem Militärgericht angeklagt wurden – als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung. Es ist das erste Mal seit der Inthronisation von Mohammed VI., dass das Militärrecht angewandt wird.