Über eine Studie zum Verhältnis zwischen Bildung und Kriminalität

Wer lernt, bleibt brav

In einer neuen Studie ist die Bertelsmann-Stiftung den Ursachen der Kriminalität auf der Spur: Fehlende Bildung führe zu Straftaten, die Hauptschuldigen seien Förder- und Hauptschüler ohne Abschluss.

Konfessionslose Hauptschüler ohne Abschluss neigen zur Kriminalität. So lässt sich die neue Studie der Bertelsmann-Stiftung mit dem Titel »Unzureichende Bildung: Folgekosten durch Kriminalität« zusammenfassen. In etlichen Medien wurde die Veröffentlichung zustimmend aufgenommen. »Warum mangelnde Bildung zu Mord und Raub führt«, titelte die Welt. »Sicherheits­risiko – die beste Verbrechensvorsorge ist mehr Geld für die Bildung«, befand die Zeit. »416 Morde weniger durch eine bessere Bildung« meldete die Frankfurter Rundschau, »mehr Bildung, weniger Verbrechen« der Focus. »Schlechte Bildung verursacht Kriminalität«, berichtete der Sender 3Sat. Dabei gibt es Anlass zur Kritik: Die Studie wird von einem Blick auf die Kriminalität bestimmt, der sich einzig und allein auf die sogenannte Unterschicht beschränkt. Mord und Totschlag gehen hauptsächlich von Förder- und Hauptschülern ohne Schulabschluss aus, so der Tenor.

Die Wirtschaftswissenschaftler Horst Entorf und Philip Sieger stellen auf über 80 Seiten ihre Arbeitsergebnisse zur Kriminalität vor, die beiden haben dabei vor allem empirische Rechenspiele betrieben. Wäre es beispielsweise im vergangenen Jahr gelungen, die Anzahl der Schulabgänger ohne Abschluss zu halbieren, so wären in Deutschland 416 Morde, mehr als 13 000 Raubüberfälle und mehr als 318 000 Diebstähle weniger begangen worden, behaupten die Autoren. Mit einem Viertel weniger Schulabbrechern hätte es 219 Tote weniger gegeben. Hätten nur zehn Prozent weniger Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen, wären der Gesellschaft immerhin noch 90 Morde erspart geblieben. Was albern klingt, ist ernst gemeint und in der Studie in aufwendig gestalteten Tabellen nachzulesen. Die mögliche Kosteneinsparung durch eine größere Anzahl von Schulabschlüssen haben die Forscher ebenfalls berechnet. Würde die Zahl der Abgänger ohne Abschluss halbiert, könnte Deutschland die Summe von 1,42 Milliarden Euro einsparen. Selbstverständlich könnte so auch das »persönliche Leid der Betroffenen« reduziert werden.
Der Jurist und Kriminologe Christian Pfeiffer bezeichnet die Zahlenspielerei der Studie auf Spiegel online als »abstrus«. Der Zusammenhang von Bildungsstand und Kriminalität sei altbekannt, jedoch sei die fehlende Bildung nur eine von vielen möglichen Ursachen für Straftaten. Die Behauptung der Bertelsmann-Stiftung, dass eine direkte Korrelation bestehe, sei schwer nachvollziehbar. Entorf selbst räumte in der Presse ein, dass auch andere Faktoren, wie zum Beispiel die familiäre Situation, eine Rolle für die Entstehung von Kriminalität spielten. In der Studie werden solche Aspekte erwähnt, jedoch neigen die Autoren auch hier zur Monokausalität. Vorbestrafte Eltern erhöhten das Risiko, dass auch die Kinder straffällig werden. Alleinerziehende trügen ebenfalls zur Kriminalität bei: Die Trennung der Eltern erhöhe die Möglichkeit einer kriminellen Karriere erheblich – »besonders beim Einbruchsdiebstahl«. Konfessionslosigkeit ist auch ein Faktor, der Entorf und Sieger zufolge eine kriminelle Entwicklung fördert. Der Ratschlag, doch wieder regelmäßig in die Kirche zu gehen, bleibt jedoch aus. Ebenso fehlt ein gewagter Ausblick in die Zukunft: Wenn alle Schüler einmal dank der von der Stiftung geforderten Anstrengungen einen Abschluss haben sollten, könnten getrost sämtliche Gefängnisse geschlossen werden, auch die Zahl der Polizisten könnte erheblich verringert werden.

So weit gehen die Forscher selbstverständlich nicht. Für ihre Berechnungen haben sie nach eigener Aussage die einzelnen Aspekte isoliert betrachtet. Schulabgänger ohne Abschluss werden Realschülern und Abiturienten gegenübergestellt. Die Daten aus der Befragung von etwa 1 800 Strafgefangenen wurden ebenfalls zugrunde gelegt. In welcher Beziehung die verschiedenen Faktoren zueinander stehen, wurde nicht untersucht. So formulieren die Autoren eine einzige zentrale Forderung: Mehr Schulabschlüsse! Entorf gibt zwar zu, dass die einzelnen Faktoren, die eine kriminelle Karriere verursachen könnten, »kumulative Effekte« bewirken, doch im Wesentlichen betreibt die Studie nur eines: den Angriff auf die Unterschicht. Es ist also kein Wunder, dass sie Anerkennung in zahlreichen Medien fand: Die »Asozialen« sind kriminell – diese Aussage und der beinahe biologistische Blick auf die Kriminalität, demzufolge kriminelle Eltern ebensolchen Nachwuchs hervorbrächten, passen zur derzeitigen Stimmungslage. Selbstverständlich stellen sich weder die Autoren der Studie noch die Kommentatoren die Frage, was beispielsweise bei Steuern hinterziehenden Millionären und manchen Bankmanagern in der Schule schiefgelaufen ist. Der Besuch eines Gymnasiums und einer Universität scheint die kriminelle Energie nicht zwangsläufig einzudämmen. Doch Finanzbetrug, Untreue und Steuerhinterziehung tauchen in der Studie trotz ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen nicht auf, stattdessen werden ausschließlich die von Mitgliedern der Unterschicht begangenen Gewaltverbrechen oder Eigentumsdelikte herangezogen.
So erhellt die Studie keinesfalls die gesellschaftlichen Umstände, die zu kriminellen Handlungen führen. Sie ist ein mustergültiges Beispiel von Lobbyarbeit. Die Politik braucht schließlich handhabbare Zahlen. Diese bietet die Studie. Exakt 11,99 Euro pro Einwohner hätte das Saarland eingespart, wenn die Zahl der Schulabbrecher 2009 halbiert worden wäre, das Bundesland Bremen gar 35,11 Euro pro Person. Solche schlichten Berechnungen hatte die Bertelsmann-Stiftung in der Vergangenheit immer wieder angekündigt. Vor etwa einem Jahr bezifferte sie den wirtschaftlichen Schaden durch unzureichende Bildung in Deutschland auf 2,8 Billionen Euro. Die Stiftung hatte zudem Studien in Aussicht gestellt, die diese Schätzung belegen sollten.

Die Autoren der Kriminalitätsstudie waren offenbar an die Vorgaben der Stiftung gebunden. Entorf selbst sagte in der Presse, er hätte »auf diese Eurobeträge (…) verzichten« können. Doch dies hätte wohl den Interessen der Stiftung widersprochen. Die Bildung ist schließlich ein Markt, auf dem Milliardenbeträge erwirtschaftet werden – sei es mit der »Beratung« von Ministerien, pri­vaten Bildungsangeboten oder teuren Konzeptarbeiten für Schulen. In seinem Buch »Bertelsmannrepublik Deutschland« beschreibt Thomas Schuler die Interessen des Unternehmens: »Ganz gleich, wer in Berlin regiert, die Bertelsmann-Stiftung aus Gütersloh regiert immer mit. (…) Ob bei Sozialreformen, im Gesundheitswesen oder in der Bildungspolitik: Stiftungsexperten beeinflussen Gesetzesentwürfe und Reformen im Sinne der Unternehmens- und Familieninteressen.«
Von den Grundlagen der Hartz-IV-Reformen bis zu den Studiengebühren – es gibt kaum eine gesellschaftliche Veränderung der vergangenen Jahre, die nicht auch von der Bertelsmann-Stiftung beeinflusst wurde. Für Schuler ist diese »ein Zentrum der Macht«. Ihre Empfehlungen seien oftmals auch für das Unternehmen Bertelsmann von Vorteil. So setzt sich die Stiftung für »effizientere kommunale Verwaltungen« ein und rät zu einem »Outsourcing« von Dienstleistungen – woraus der Konzern ein Geschäft macht. In der Bildungspolitik geht die Stiftung mitunter ähnlich vor. Ihre Empfehlungen zur Ökonomisierung der Bildung und zur Einführung von Qualitätsüberprüfungen nach wirtschaftlichen Kriterien haben die Schulen und Universitäten in den vergangenen Jahren bereits verändert.