Blickt auf die nuller Jahre zurück

Das 2.0-Jahrzehnt

Das waren sie: die Nuller. Ein erster Rückblick.

Zuallererst einmal ist der Ausdruck »die nuller Jahre« ein wirklich besonders unschöner Begriff. Genauso wie die »zehner Jahre«. Erst in den zukünftigen »zwanziger Jahren« kann man diese Formulierung benutzen, ohne dass die Ohren wehtun. Man sollte Mitleid haben mit den Jugendlichen, die später einmal sagen müssen: »Meine schönste Zeit war in den Nullern.« Eine arme Generation.
Begonnen hat das neue Jahrzehnt, Jahrhundert, Jahrtausend mit Haarspaltereien der ganz besonders Schlauen. Die riefen laut: Haltet ein, ihr Idioten! Das neue Jahrzehnt beginnt nicht am 1.1.2000, sondern erst am 1.1.2001. Kaum jemand hat auf sie gehört, schließlich ging es nicht um mathematische Genauigkeit, sondern um die Welt 2.0 im Allgemeinen. Gehört haben allerdings viele auf Hysteriker, die uns den Weltuntergang vorhersagten, der fest für den 1.1.2000 eingeplant war. Y2K (year 2 kilo) ließ uns alle unsere noch spärlichen Daten auf Disketten (!) sichern und hoffen, dass die Computer irgendwie mit dem Problem der Zahlenumstellung zurechtkämen. Was sie im Großen und Ganzen auch taten. Am Morgen des 1.1.2000 war nichts anders als am Abend davor. Vielleicht war der Kater stärker spürbar, aber das hatte ganz analoge Ursachen. Lustigerweise traten ein paar der für 2000 vorhergesagten Probleme dann zum Jahreswechsel 2009/2010 auf, als niemand sie erwartete. Kreditkarten waren plötzlich ungültig, SMS wurden vordatiert, Mails als Spam gekennzeichnet und nicht zugestellt.
Als der große Weltcomputerbug am Anfang des Jahrzehnts weitestgehend ausblieb, markierte das einen Wendepunkt in der skeptischen Haltung gegenüber dem binären System, in dessen Folge die meisten von uns ihre Vorbehalte gegen die digitale Welt aufgaben. Wird schon nicht so schlimm sein, wenn sogar die Jahrtausendwende geklappt hat. Und seitdem wird unsere Welt von Nullen und Einsen bestimmt, wie man es sich in den Neunzigern nicht vorstellen konnte.
Nach und nach gaben wir beispielsweise jeg­lichen Widerstand gegen Handys auf, und 2006 gab es in Deutschland erstmals mehr Mobilfunkanschlüsse als Bewohner. So höre ich eigentlich nie mehr den Satz: »Ich will einfach nicht überall erreichbar sein.« Dafür wurde das öffentliche Sprechen ohne sichtbaren Gesprächspartner en vogue. Schön für die, die schon länger mit den Stimmen in ihren Köpfen laut plauderten. Sie fallen in der Masse der laut vor sich Schwafelnden kaum noch auf. Ob da jetzt ein Knopf im Ohr ist oder nur eine Meise im Kopf, kann man meistens nicht erkennen. Wer nicht mitmacht, erscheint wie ein Fossil, das auch gegen den Reißverschluss als modernistische Erfindung wettern könnte. Wir sind nicht mehr in der Lage, uns etwas Schlimmeres vorzustellen, als nicht jederzeit erreichbar zu sein. Auch wenn wieder mal niemand anruft, mailt, simst oder facebookt, man kommuniziert auf Teufel komm raus in die binäre Welt hinein.Und wenn jemand mal einen Moment freiwillig auf diese Arten der Kommunikation verzichtet, ist das so ungewöhnlich, dass gleich ein langer Artikel über dieses verrückte Erlebnis geschrieben wird. Welche Folgen die annähernd absolute Abhängigkeit von Computer und Co. tatsächlich auf die Welt haben werden, das kann man manchmal bereits ahnen, wenn man beispielsweise von künftigen Cyberkriegen spricht, in den Nullern aber herrscht größtenteils noch Euphorie und Zukunftsglaube.
Modisch waren die »00-Jahre« den achtziger Jahren ähnlich, und was damals galt, stimmte auch jetzt wieder: Leggins stehen fast niemandem. Echt nicht. Auch nicht, wenn man dazu irgendetwas »to-go« in der Hand hält. Die Männer tragen plötzlich alle wieder Bart, zumindest die unter 30jährigen. Dazu Ponys, die schräg über der Stirn getragen werden. Die Hosenmode hat sich vom sehr tiefsitzenden Baggystyle am Anfang des Jahrzehnts nach und nach wieder zu einer höher sitzenden Taille entschlossen. Vielleicht auch, weil die Tattoos am Steiß erst sehr, sehr modern waren und dann sehr, sehr peinlich wirkten und lieber bedeckt wurden. Ein paar Sommer lang platschte man in Flip-Flops herum, was außer am Strand natürlich Unsinn war, aber Mode hat ja nie viel mit Sinn zu tun. Was früher Turnschuh hieß, nannte man nun immer Sneakers und Croqs – die hässlichen Plastikbrocken an den Füßen waren unverständlicherweise ja auch mal in. Die Männer wurden metrosexuell, zumindest manche, und Frauenhaare, die nicht ausschließlich auf dem Kopf wuchsen, wurden endgültig eklig. Die Haarentfernungsindustrie freut’s. Modische Vorbilder waren Bill Kaulitz und Beth Ditto. Beide sehr viel interessanter als die Verursacher der Girliemode (Spicegirls) und Karohemden (Kurt Cobain) in den Neunzigern.
Aufgelöst hat sich in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends die einfache Weltsicht. Wer früher rechts war, ist es noch immer, trägt dabei aber Klamotten, die eigentlich die Erkennungszeichen der Linken waren. Öko und Spießer haben sich bunt gemischt, gut und böse ist nicht mehr so einfach zu bestimmen. »Alles ist so viel komplizierter geworden«, diesen Satz liest man in den letzten Jahren häufig. Ob er stimmt? Zumindest gefühlt ist er richtig und vielleicht ist das auch ein Grund, warum Religion in den Nullern so wichtig wurde. Wo wir uns kaum noch über Mode, Politik oder Musik definieren können, muss etwas anderes her, und das scheint die fast überwunden geglaubte Religionszugehörigkeit zu sein. Daran macht sich spätestens seit dem 11. September der Feind fest. Bist du Moslem oder Christ? Seitdem wird weltweit verzweifelt nach dem islamischen Superterroristen gesucht, dem man alles anhängen kann.
Womit wir bei der Politik wären. In Deutschland fing das Jahrzehnt mit Schröder an und endete mit Merkel, von der Agenda 2010 und Hartz IV bis zu »Multi-Kulti ist gescheitert«. ­Dazwischen lagen die »dot.com«-Blase, Massenentlassungen und Werksauslagerungen, aus Hausmeistern wurden »Facility Manager«, es kam die Euro-Einführung und erst der Atomausstieg und dann die Laufzeitverlängerungen.
Die Nuller waren nicht gerade die Zeit der großen Proteste, eher eine Dekade des allgemeinen Hinnehmens, der Lethargie, des Rückzugs ins Private mit dem Gefühl der eigenen Machtlosigkeit. Ob sich das wieder erwachte Teilhabenwollen am politischen Geschehen am Ende des Jahrzehnts langfristig etablieren wird? Die zehner Jahre werden es zeigen. Da ist dann auch wieder Weltuntergang, genauer gesagt am 12.12.2012. Diesmal haben die Maya es vorhergesagt. Schauen wir mal, ob’s klappt.
Was fehlt? »Wir sind Papst«, die Rechtschreibreform, Herta Müllers und Elfriede Jelineks Nobelpreise, DSDS und Botox, Glühbirnenverbot und MP3, das Fußballsommermärchen und das Vuvuzela-Dauerkonzert, Ayurveda und Feng-shui, Johnny Cash und Michael Jackson.