Autorinnen und Autoren der »Jungle World« erzählen ihre privaten Integrationserfahrungen

Wir sind alle integriert

Integration heißt so viel wie »Herstellung eines Ganzen«. Doch welches Ganze ist gemeint? Für die einen ist es Deutschland, für andere Europa und für die nächsten die ganze Welt. Ist es das christliche Menschenbild, die Umma, der demokratische Staatsbürger, der brave Untertan? Und manche haben auch ein ganz anderes Ganzes im Sinn. Punkrock kann eine Weltanschauung sein, Schwabentum eine Leitkultur, Schalke eine Religion, Geschlecht ein Konstrukt. Anpassungsdruck kennt jeder. Wir ­haben Autorinnen und Autoren nach ihren Inte­grationserfahrungen gefragt und an unseren Runden Tisch ­gebeten.

Die Westfalentaufe
von Jörg Sundermeier
Ich bin in Ostwestfalen geboren, und dort schweigt man, selbst wenn man etwas zu sagen hat. Das war mir als Kind völlig unbegreiflich, als Pubertierender allerdings war es mir gelungen, mich halbwegs einzureihen. Auch ich schwieg nun. Und ich wusste, dass ich alsbald vollends integriert werden würde, als ich aufgefordert wurde, auf einem Jahrestreffen der dörflichen Schützengilde Bier auszuschenken. Der Lohn – ein Jahr Ehrenmitgliedschaft in der Schützengilde. Zugegeben, mir ging es mehr um das Bier, das ich mir selbst einschenken würde, als um die Ehrenmitgliedschaft. Doch als ich, gerade mal 16 Jahre alt, mit einer Unzahl von älteren »Schützenbrüdern« mit Schnaps anstoßen musste, wurde mir klar, dass ich nun ein Vollmitglied der dörflichen Gemeinschaft geworden war. Es war ein erhebendes Gefühl. Ich war nun wer, war erwachsen und Vollostwestfale. Das konnte mir niemand mehr nehmen. Selbst als ich später mitsamt meinem Fahrrad im Straßengraben lag, fühlte ich mich immer noch erhaben. Vollostwestfale zu sein, war schwindelerregend schön!
Highheels im Schwarzen Block
von Elke Wittich
»Aber doch nicht in den Schuhen?!« Doch. Natürlich in den Schuhen. Im fernen Frankfurt ist zwei Tage zuvor jemand namens Günther Sare von einem Wasserwerfer überrollt und getötet worden, und deswegen muss man jetzt dorthin. Und zwar in exakt diesen Schuhen, nämlich ausgesprochen eleganten Stilettos. Abgesehen davon, dass jemand, der sich seit frühester Jugend unfallfrei auf Highheels durch die Welt bewegt, selbstverständlich einfach nix anderes im Schuhschrank hat als hoch Beabsatztes, ist die Frage aus einem anderen Grund sehr doof: Frank ist seit Samstag jeden Tag in Frankfurt, in Turnschuhen, und kann mittlerweile trotz vernünftiger Fuß­bekleidung vor lauter Blasen kaum noch laufen.
Die Stöckels werden sich als nützlich erweisen: Polizisten rennen einfach an einem vorbei, als sei man unsichtbar, was vermutlich auch am knallroten Lippenstift und am generellen Style liegt. Der übrigens ziemlich verächtliche Blicke vor allem weiblicher Demo-Teilnehmerinnen zur Folge hat, die jedoch durch ausgeklügelte Argumentation (»Fuck off, Öko-Schnalle«) meist sehr schnell davon überzeugt werden können, einfach die Klappe zu halten.
Dass nach einigen Stunden Hin- und Hergerenne die Demo aus den Augen verloren wird und man sich zu zweit, verfolgt vom Zieldingens eines dort postierten Wasserwerfers, vor dem US-Konsulat wiederfindet, ist da schon weit gruseliger. Aber nicht lange: Plötzlich hält ein Taxi, Frank reißt die Beifahrertür auf und erklärt, das sei der Kollege XY, der bedürftige Demo-Teilnehmer kostenlos transportiere, wegen der Solidarität. Und dem skeptisch Dreinblickenden versichert er: »Lass dich nicht von Äußerlichkeiten leiten. Die sieht anders aus, aber sie ist okay.« Ha!
Am Telefon die Mutter
von Bov Bjerg
Und dann war da so eine junge Frau, in Uniform, so eine hübsche, so eine ganz adrette. So eine Dunkle. Ich glaub, das war eine Türkin. Oder arabisch, das könnte auch sein. Jedenfalls sagt die, ich soll mal meine Tasche auspacken. Und dann sieht die die Flasche mit dem Wasser, und die hab ich ja ganz vergessen gehabt. Dann hab ich der das erklärt, dass ich halt die Flasche noch wegen meiner Enkelin dabei hab, wir sind ja gerade davor noch auf dem Spielplatz gewesen, und dass ich das einfach vergessen gehabt hab, dass ich die wieder rausnehme aus der Tasche, die Flasche, bevor ich nach Tegel fahr, und dann hab ich schon gedacht gehabt, die lassen mich gar nicht mehr mit nach Stuttgart fliegen, und du bist ja schon wieder weg gewesen, und ich hab mich schon wieder im Taxi gesehen, also dass ich halt wieder zu euch fahr, was einem halt so durch den Kopf geht, und das hab ich der auch alles gesagt.
Und dann guckt die mich an, und ich rede auf die ein, und dann sagt die zu mir: »Sprechen Sie Deutsch?«
Integrier mich zweimal, Babe!
von Deniz Yücel
Oh Baby, magst du mich integrieren? – Du denkst immer nur an das eine. – Logisch, Integration ist die schönste Sache der Welt. – Das ist aber nicht das, was ich mir unter einer Beziehung vorstelle. – Bitte, Baby, was ist so falsch daran? Lass uns Liebe machen! – Hä? – Faire d’amour, seviselim, let’s make love, ljubav, al-hub, amore, erotas, 18 Zentimeter lekker Integration! – Na gut, komm her. – Mmh. – Schmatz. – Schleck. – Oh ja! – Uhh ja. – Ohh! – Uhhhhh! – Oh Liebster, integrier dich tiefer, integrier dich höher, integrier dich schneller! – Wwwas?- Ich, iiiihhh … ich … quuiiitsch … uurrrrggg! – Ich … ich … grmprpmrd … bpffrmsch … ööwwrrrg! – Mmmmh! – Ööööfff! – Das hat gut getan. – Siehste! – Du? – Ja? – Nnnnoch mal! – Wie? – Ich will dich noch mal integrieren. Von hinten. – Aber du hast mich doch gerade integriert. – Doppelt integriert hält besser. – Aber ich bin doch keine Integrationsmaschine. – Wenn du dich verweigerst, integrier ich’s mir eben selbst. – Nee, brauchst du nicht. Eine Zigarette noch, okay? Und du liegst oben. – Hrmpf. – Was denn, Integration ist keine Einbahnstraße.
Frühe Ossifikation
von Ivo Bozic
Ich habe schon vor der Wiedervereinigung nach Ostberlin rübergemacht, in die DDR hinein also. Wir Hausbesetzer immigrierten direkt nach dem Fall der Mauer, wir waren dort echte Ausländer, die BRD-Deutschen auch, ich doppelt. Aber alles in allem haben die eingeborenen Nachbarn unsere bunte Parallelgesellschaft erstaunlich gelassen ertragen, obwohl ihnen klar sein musste, dass wir sie nach und nach aus ihrem Kiez verdrängen würden. Sogar die Sprache haben wir dem Friedrichshain schließlich genommen: Heute berlinert dort kaum noch jemand, man spricht jetzt Hochdeutsch, Schwäbisch, Englisch und Katalan. Ich aber habe damals durchaus versucht, mich anzupassen. Ich bin zu einer ostdeutschen Hausärztin gegangen, obwohl mich schon die Inneneinrichtung kulturell schwer herausforderte. Ich trank Club Cola und Aktiv mit Kronkorkenverschluss, trug eine GST-Jacke, benutzte Dederon-Beutel und ging ins »Müller Eck« (heute »Paules Metal Eck«), um Bockwurst, für, ich glaube, es waren 1,25 DDR-Mark, zu essen. Meinen endgültigen Integrationskurs bekam ich dann aber erst Jahre später im Neuen Deutschland, wo ich arbeitete. Ein netter Kollege führte mich in die Gebräuche und Sitten, in das Denken und Fühlen der DDR-Bürger ein. Ich lernte in der Kantine, richtig mit Alu-Besteck zu essen (Mund weit öffnen, denn Alu-Löffel an Amalgam-Plombe – das ziept!), ich lernte, zu berlinern und über die Ossis herzuziehen – ja, auch das habe ich von den Ossis gelernt. Und was hat mir meine Integrationsbereitschaft letztlich genutzt? Jarnüscht, wa?! So sieht’s ma’ aus, Atze.
Die Kelly Family und ich
von Christian Y. Schmidt
Ich glaube, ich bin ein sehr soziales Wesen und bis zur Demütigung anpassungsbereit. Selbst als ich als maoistischer Revolutionär zur Bundeswehr ging und auf einer »Stube« mit acht »Kameraden« landete, war ich schnell integriert. Ich schätze, man könnte mich auch in ein Gefängnis stecken und ich würde mich ohne zu zucken in die Knasthierarchie einfügen. Im Nachhinein macht mir meine Integrationsbereitschaft allerdings oft Angst.
So denke ich sehr ungern an die Zeit zurück, als ich für zwei Monate als Gagschreiber bei Thomas Gottschalks recht erfolgloser Show »Gottschalks Hausparty« angestellt war. In dem Studio auf dem Bavaria-Gelände in München arbeiteten ansonsten Menschen, die sich für nichts anderes als die Promiwelt des Unterhaltungsfernsehens interessierten. Jedenfalls versuchten sie, den Eindruck zu erwecken. Sie lasen ausschließlich Boulevardzeitungen und hielten mich für einen lebensuntüchtigen Hyperintellektuellen, weil ich morgens auch mal einen Blick in die ausliegende FAZ und Süddeutsche warf.
Dennoch versuchte ich, mich auch hier anzupassen, allein weil mir einige junge Praktikantinnen vom Äußeren her gefielen. Nach ein paar Wochen bemerkte ich die ersten Veränderungen in meinem Denken. Es begann damit, dass ich Wolfgang Fierek richtig toll fand, weil er Gitti von »Gitti und Erika« (oder war es Erika?) live vor der Kamera verarscht hatte. Dann kam die Kelly-Familie in die Sendung. Die Kellys waren damals absolute Megastars in Deutschland, doch jedem zurechnungsfähigen Menschen wegen ihres Gesangs und Outfits ein Gräuel. Außerdem standen sie in dem Ruf, ihre Umwelt mit Starallüren zu quälen. Bei den Proben traten sie jedoch überraschend freundlich und bescheiden auf. Ich konnte mir nicht helfen, aber plötzlich war mir die ganze Bande sehr sympathisch, vor allem Jimmy oder Joey (oder sollte es doch Johnny gewesen sein?). Also sprach ich zu einer der Praktikantinnen: »Ich hätte es nicht gedacht, aber ich glaube, mir gefallen diese Kellys.« Sie starrte mich an, als hätte ich wie ein Frosch gequakt. Da merkte ich, dass der Satz der falsche Move war. Meine Kollegen im Studio waren sicher auf ihre professionelle Art beschränkt. Aber so beschränkt, die Kellys gut zu finden, war offenbar nur ich.
Ich sah natürlich gleich ein, dass ich Unrecht hatte. Trotzdem blieb ich im Studio ein allenfalls belächelter Außenseiter. Heute bin ich der Praktikantin (war es Patricia oder Anke, oder doch Tina?) für ihre Reaktion allerdings sehr dankbar. Am Ende wäre ich noch vor lauter Sympathie mit der Kelly Family davongefahren und hätte mich auch noch in diesen Haufen vollständig integriert.