Eine kleine Geschichte der Piraterie

Kopflos gegen die Pfeffersäcke

Mit der Piraterie werden allerlei romantische Vorstellungen verbunden. Tatsächlich konnte ein Piratenschiff eine »Republik zur See« sein, doch gelang es den Freibeutern nie, sich dauerhaft aus der Abhängigkeit von Investoren und Herrschern zu befreien.

Eine letzte Bitte hatte der Piratenkapitän Klaus Störtebeker noch, als er am 20. Oktober 1401 auf dem Richtplatz stand: Alle Männer, an denen er nach seiner Enthauptung noch vorbeigehe, sollten begnadigt werden. Das versprach ihm Bürgermeister Kersten Miles, doch zu dessen Überraschung lief der geköpfte Störtebeker an elf Männern vorüber, bevor der Henker ihm ein Bein stellte. Miles brach sein Versprechen und ließ alle Gefangenen hinrichten.
Unter Historikern ist mittlerweile sogar umstritten, ob die Hinrichtung überhaupt stattgefunden hat. Die Quellen sind dürftig, möglicherweise hieß der »wahre« Störtebeker Johann und lebte mindestens bis 1413. Dass er seinen Namen der Fähigkeit verdankte, einen vier Liter fassenden »Becher« voller Bier in einem Zug hinunterzustürzen, ist ebenfalls nicht wirklich belegt.
Doch auch Legenden sagen etwas aus. »Gottes Freund und aller Welt Feind« soll das Motto der Piraten gewesen sein, die von Klaus Störtebeker und Gödecke Michels geführt wurden. Sie genossen offenbar große Sympathie. Schließlich wird nur einem Freund Gottes das Privileg zuteil, ein solches Wunder zu tun. Dass Miles den Fingerzeig Gottes ignorierte und sein Wort brach, lässt erkennen, für wie perfide man die »Pfeffersäcke« hielt, die reichen Hamburger Kaufleute, die der Bürgermeister repräsentierte.

Dass die Piraten »Likedeeler« waren und jeder den gleichen Beuteanteil erhielt, ist vielleicht auch nur eine Erfindung. Vieles spricht jedoch dafür, dass sie tatsächlich andere, weniger hierarchische Organisationsformen hatten, ihnen die Feudalgesellschaft wie auch die oligarchische Kaufmannsherrschaft verhasst waren und sie sich, wie andere mittelalterliche »Klassenkämpfer«, auf das christliche Ideal der Gleichheit aller Menschen beriefen.
Anders als städtische oder adlige Herrscher, die Männer mit Gewalt zum harten, gefährlichen und entbehrungsreichen Leben auf einem Schiff zwingen konnten, mussten die Piratenkapitäne ihre Mannschaft anwerben. Die Freibeuter organisierten sich, soviel scheint gesichert zu sein, als Bruderschaft, vergleichbar den Zünften der Handwerker, doch ohne wie diese einer höherer Autorität zu unterstehen. Ihre Verbündeten waren Hovetlinge (Häuptlinge) in Ostfriesland. Sie waren von den Familienoberhäuptern gewählte Repräsentanten. Zwar hatte sich eine Oligarchie der reichen Familien herausgebildet, doch gab es weder Feudalherrschaft noch Steuern.
Die Likedeeler waren jedoch abhängig von städtischen Investoren, denn ein Schiff auszurüsten, erforderte Kapital, Fachwissen sowie einen Hafen als Basis. Nach einem erfolgreichen Raubzug mussten die Piraten ihre Beute auf einem Markt verkaufen, und sie benötigten ein Rückzugsgebiet, um sich vor ihren militärisch überlegenen Feinden verbergen zu können. Überdies erhielten sie Kaperbriefe, von Städten oder Feudalherrschern ausgestellten Lizenzen zum Plündern der Schiffe feindlicher Städte oder Feudalherrscher.
Ein Pirat musste meist auch als Politiker handeln, der Verbündete sucht und Kompromisse eingeht.Dennoch gibt es für die Romantisierung der Piraterie gute Gründe. Zwar erscheint es bei näherer Betrachtung nicht sehr romantisch, mit Dutzenden Männern wochen- oder monatelang bei schlechtem Essen und knappen Wasservorräten auf einem Schiff zu leben, das selten länger als 30 Meter war. Überdies bringt dieses Gewerbe es zwangsläufig mit sich, dass man andere Seeleute tötet. Doch war es für Piraten möglich, nach eigenen Regeln zu leben, die im Widerspruch zu den herrschenden Normen standen.
Nicht jeder Seeräuber ist ein Pirat. Sir Francis Drake plünderte als englischer Offizier, in dessen ertragreiche Beutezüge Königin Elizabeth persönlich investierte, und führte seine Schiffe nach den Regeln der Marine. Auch viele Piratenkapitäne hielten an der absoluten Macht fest, die dem Kommandanten eines Schiffs traditionell zukam. Oftmals wurde jedoch ein Kodex erstellt, der eine Art Arbeitsvertrag war, aber auch einer Verfassung ähnelte, da er ein unabhängiges politisches Gemeinwesen konstituierte.
Ja, den in »Fluch der Karibik« erwähnten Piratenkodex gab es wirklich. Tatsächlich waren es allerdings mehrere Kodizes, in dem von Captain John Phillips findet sich sogar die Regelung, die auf Jack Sparrow angewendet wurde. Wer sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht hatte, wurde »ausgesetzt mit einer Flasche Pulver, einer Flasche Wasser, einer kleinen Waffe und einem Schuss«. Wichtiger ist jedoch, dass die Piraten 200 Jahre vor Otto von Bismarck die Sozialversicherung erfanden und auch viele Prizipien der französischen Revolution um 100 Jahre vorwegnahmen.
Im Fall der Piraten des 17. Jahrhunderts, die vor allem in der Karibik, aber auch vor den Küsten Afrikas und in Südasien tätig waren, bleibt ebenfalls unklar, was Legendenbildung und was historische Wahrheit ist. Einige Kodizes aber sind überliefert worden. Bereits ihre Existenz ist erstaunlich in einer Zeit, da Sklaverei, Zwangsarbeit und Leibeigenschaft selbstverständlich waren.
Wer bei Bartolomeu Português an Bord ging, hatte »eine Stimme in den Angelegenheiten des Moments« und das Recht auf die gleiche Menge Nahrung und Schnaps wie jedes andere Besatzungsmitglied. Likedeeler waren die meisten karibischen Piraten nicht, der Kapitän erhielt den anderthalbfachen, manchmal auch den fünffachen Anteil, was immer noch weit weniger war als das, was der Kommandant eines staatlichen Kriegsschiffs beanspruchte. Und während ein Matrose, der im Dienst dieser oder jener Majestät verstümmelt wurde, im Armenhaus oder als Bettler endete, konnte ein invalider Pirat Henry Morgans eine Art Rente beanspruchen. Wer etwa sein rechtes Bein verloren hatte, erhielt 600 Dublonen – oder sechs Sklaven.
Die Morgan-Rente entsprach also noch nicht ganz modernen Vorstellungen. Viele Piraten ­beteiligten sich am Sklavenhandel, andere aber nahmen befreite Sklaven in die Mannschaft auf. Manche scheinen gegen die Sklaverei gekämpft und sich eine Art republikanische oder demokratisch-sozialistische Verfassung gegeben zu haben.

Ein abtrünniger Geistlicher namens Caraccioli habe im späten 17.  Jahrhundert Captain Mission nach einem Sieg im Gefecht überzeugt, »dass es nun an der Zeit sei, den Prinzipien der allgemeinen Rechte zu folgen, über die sie so oft diskutiert hatten«, berichtet Don C. Seitz in seinem Buch »Under the Black Flag«. Über den neuen Kurs wurde abgestimmt, die Schiffskasse wurde zum gemeinsamen Eigentum erklärt, und der neu gegründeten »Republik zur See« gab Caraccioli das Ziel, »für gleiche Rechte gegen alle Nationen zu kämpfen, die der Tyrannei einer Regierung unterworfen sind«. Später soll Captain Mission in Madagaskar die Kommune Libertatia gegründet haben, in der eine freiheitliche Verfassung galt.
Seitz’ Buch diente William S. Borroughs als Anregung für seinen Roman »Die Städte der Roten Nacht«: »Man stelle sich einen Ring solcher Stützpunkte vor (…), die den Opfern von Sklaverei und Unterdrückung eine Zuflucht bieten: ›Kommt zu uns und lebt unter den Artikeln.‹« Eine bürgerliche Revolution ohne Bourgeoisie und Sozialismus ohne Bürokratie – ein reizvoller Gedanke. Doch neben dem Zwang zur Realpolitik, dem sich nur wenige Piraten entziehen konnten, und der militärischen Überlegenheit der Staatsflotten, denen es nach 1700 gelang, die Piraterie mehr und mehr zurückzudrängen, gab es ein wichtigeres Hindernis. Die Piraterie hat keine eigene produktive Basis. Sie ist abhängig vom Vorbeiziehen der Handelsschiffe, und wenn kein Schiff kommt oder die Handelswege zu gut geschützt werden, muss auch der stolzeste Pirat seinen Acker bestellen. Sofern er einen hat. Eine befreite Gesellschaft lässt sich auf dieser Grundlage nicht aufbauen.
Während die Piraterie früherer Zeiten wenigstens manchmal der Versuch eines Ausbruchs, eine Rebellion gegen die herrschende Ordnung war, ist sie heute die Folge eines Zusammenbruchs, ein Produkt der Warlordisierung nach dem Zerfall Somalias. Als Geiseln genommen werden überwiegend Lohnabhängige, meist miserabel bezahlte Matrosen aus asiatischen Ländern. Wenn knapp 610 Jahre nach der mutmaßlichen Hinrichtung Störtebekers in Hamburg wieder ein »Piratenprozess« stattfindet, gibt es dennoch gute Gründe, die Freilassung der An­geklagten zu fordern. Eine »internationale Gemeinschaft«, die Sharif Sheikh Ahmed, einen islamistischen Kriegsverbrecher, der derzeit als Präsident Somalias gilt, militärisch unterstützt, sollte nicht kleinlich sein, wenn es um Männer geht, die sich bei ihren Raubzügen bislang vergleichsweise zivilisiert verhalten haben.