Über den Fall Julian Assange

Sex, Lügen und Geheimdokumente

Erst wurde er international gesucht, dann wurden seine Konten gesperrt, nun stellte er sich in London der Polizei. Zum Fall Julian Assange.

Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der sogenannte Red Warrant, die von Interpol erlassene Aufforderung, die schwedische Polizeibehörde bei der Suche nach einem Verdächtigen zu unterstützen, zur Festnahme von Julian Assange geführt hätte. Der Gründer von Wikileaks kam den Behörden am Dienstag zuvor und stellte sich in London.
Es ist ein Gemisch aus Halbwahrheiten, Spekulationen und Verschwörungstheorien, das derzeit über den bereits im August von der schwedischen Staatsanwaltschaft erlassenen Haftbefehl gegen Assange kursiert. Dass er am Ende wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung von Interpol gesucht wurde und nicht wegen der vielen veröffentlichten Geheimdokumente, wollen vor allem viele Internet-Aktivisten nicht glauben.
Die Fans des Whistleblowers, der nach der Veröffentlichung der Berichte aus den US-Botschaften zu einer Art Weltstar geworden ist, sind unermüdlich damit beschäftigt, Beweise für die Unschuld ihres Idols zu suchen. Und so können selbst obskure schwedische Maskulisten-Blogs oder Verschwörungstheoretiker-Foren massenhaft mit internationalen Besuchern rechnen, ­solange die Einträge über bösartige Feministinnen oder finstere Mächte, die Schweden regieren, in Englisch gehalten sind. Selbst in winzigsten deutschen Blogs findet man mittlerweile flammende Anklagen gegen das schwedische Rechtssystem, das langjährige Gefängnisstrafen für ungeschützten Geschlechtsverkehr vorsehe sowie detaillierte Erläuterungen der schwedischen Gesetze.

All diese Hinweise, die via Twitter und andere soziale Netzwerke über den Fall Assange verbreitet werden, haben Eines gemeinsam: Sie sind leicht zu entkräften. Wie der, dass die schwedischen Behörden lediglich willige Vollstrecker seien und die Vergewaltigungsanklage in Wirklichkeit nur vorgeschoben sei, um die Auslieferung an die USA vorzubereiten. Die schwedischen Behörden erklärten mehrfach, Assange in Schweden zwar vor Gericht stellen zu wollen, eine Überstellung an ein anderes Land im Anschluss an ein mögliches Verfahren sei jedoch ausgeschlossen.
Dass die Vorwürfe gegen Assange an den Haaren herbeigezogen wirken, haben sich die schwedischen Anklagebehörden selbst zuzuschreiben, denn alles, was sie in dem Fall unternahmen, war auffallend unsouverän. Der Eindruck mangelhafter Ermittlungen entstand bereits am 21. August, als der Haftbefehl gegen Assange wegen Vergewaltigung, der einen Tag zuvor ausgestellt worden war, außer Kraft gesetzt wurde. Es gebe keinen Grund »zu glauben, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt«, erklärte die damalige Chefanklägerin Eva Finne dazu.
Im August soll Assange mit zwei Frauen Sex gehabt haben, in beiden Fällen soll er gegen den Willen der Frauen kein Kondom benutzt haben. Über die vorliegenden Beweise und die Aussagen der beiden Frauen ist nur wenig bekannt, so dass weiterhin unklar bleibt, wie daraus ein Vergewaltigungsvorwurf entstehen konnte. Aus­zügen aus dem Verhör-Protokoll zufolge gab Assange jedoch zu, dass eine der Frauen in der fraglichen Nacht seine »sexuellen Avancen abgelehnt« habe, allerdings, wie er hinzufügte, nicht »auf eine bedeutsame Art und Weise«.
Anfang September erklärte die mittlerweile für den Fall zuständige Oberstaatsanwältin Marianne Ny, die Ermittlungen würden wieder aufgenommen und der Verdacht der Vergewaltigung bleibe weiter bestehen. Als Grund nannte sie »neu hinzugekommenes Material«, auf weitere Einzelheiten ging sie jedoch nicht ein. Am selben Tag wurde Assange von Beamten der Abteilung »Gewalt in Familien« der Stockholmer Polizei zur Sache vernommen. Er wies die Anschuldigungen entschieden zurück und beschrieb die Vorwürfe als Teil eines vom US-Verteidigungsministerium gesteuerten »Komplotts«. Mitte November erließ ein Gericht in Stockholm einen zweiten Haftbefehl gegen Assange, der sich seit einiger Zeit in Großbritannien aufhält. Begründet wurde der Antrag damit, dass der Verdächtige zu den Vorwürfen erneut befragt werden müsse.
Warum sich der Eindruck durchgesetzt hat, dass Assange wegen einer wie auch immer gearteten Weigerung, ein Kondom zu benutzen, nun international gesucht wird, ist schnell erklärt. In der schwedischen Zeitung Expressen wurden verschiedene Passagen aus seinem polizeilichen Verhör abgedruckt. Darin geht es auch detailliert um die Kondom-Frage, die offenbar der Ursprung der Vorwürfe gegen Assange ist.
Eine der beiden Frauen soll angegeben habe, Assange habe zwar zunächst auf ihren Wunsch hin ein Kondom benutzt, es dann jedoch »absichtlich« kaputtgemacht, um ungeschützten Geschlechtsverkehr mit ihr zu haben. Nun gilt in Schweden, entgegen dem, was derzeit so massenhaft über die schwedische Gesetzgebung verbreitet wird, keine zwingende Vorschrift, Kondome zu benutzen, nicht einmal für Prostituierte. Ungeschützter Geschlechtsverkehr ist dort, wie in Deutschland, nur strafbar, wenn jemand wissentlich in Kauf nimmt, seinen Partner durch den Verzicht auf ein Präservativ mit Aids anzustecken.
Was das alles mit Assange zu tun hat? Eigentlich nichts, denn dem Haftbefehl zufolge wird er von der schwedischen Justiz der »Vergewaltigung, sexuellen Belästigung und Nötigung« beschuldigt. Warum Kondome auch während seiner Vernehmung durch die schwedische Polizei ein Thema waren, erschließt sich aus den geleakten Protokollen nicht, denn unter Verweis auf die Persönlichkeitsrechte wurden einige Einzelheiten zensiert.
Dafür, dass Einzelheiten aus dem Verhör überhaupt an die Öffentlichkeit gelangten, sorgte ironischerweise ausgerechnet ein Passus im schwedischen Pressegesetz, auf den sich Wikileaks monatelang in punkto Quellenschutz berief – fälschlicherweise, wie sich herausstellte. Dass die Vorschriften für den Whistleblower-Dienst nicht galten und potenziellen Informanten dadurch eine Sicherheit vorgegaukelt wurde, die es nicht gab, weckte vor allem bei Medienvertretern, die zuvor Assange und seinen Kollegen gegenüber wohl gesonnen waren, Misstrauen und führte zur Enthüllung vvon Ungereimtheiten in dem Fall.
Für schwedische Journalisten gilt der strikte Quellenschutz allerdings sehr wohl, und so braucht derjenige, der die Aufzeichnungen über die Vernehmung an die Zeitung Expressen weitergab, auch keine Angst vor Entdeckung zu haben. Karin Rosander, Pressesprecherin des Riksanklagarens, dem schwedischen Pendant zur Bundesstaatsanwaltschaft, erklärte zum geleakten Verhör: »Bei uns herrscht Pressefreiheit. Ich würde mich strafbar machen, wenn ich versuchen würde herauszufinden, wer die Quellen waren oder aus welchem Grund sie Informationen an die Medien weitergaben.«
Sollte Assange wirklich in Schweden vor Gericht gestellt werden, dürften immense Kosten auf ihn zukommen. Diese zu bewältigen, wird für ihn immer schwerer. Denn am Montag schloss die Schweizer Bank Postfinance das Konto des »Julian Assange Defence Fund«, auf das Spendengelder für die juristische Verteidigung von Wiki­leaks-Mitarbeitern geflossen waren. Assange hatte das Konto kürzlich in der Schweiz eröffnet. Der Pressesprecher der Bank, Marc Andrey, erklärte, Assange habe bei der Kontoeröffnung angegeben, einen Wohnsitz in Genf zu haben. Ausländische Kunden müssen, wenn sie ein Konto bei der Postfinance führen wollen, in der Schweiz oder im benachbarten Ausland wohnen oder aber »über Beziehungen zur Schweiz verfügen«, indem sie im Land Immobilien besitzen oder ein Geschäft betreiben. Dies scheint auf Assange nicht zuzutreffen.
Inzwischen hat auch der Online-Bezahldienst Paypal die Geschäftsbeziehungen mit Wikileaks beendet. Auch Zahlungen an Wikileaks über Mastercard sind nicht mehr möglich. Grund sei die Regel, wonach Kunden gesperrt würden, die »illegale Handlungen direkt oder indirekt unterstützen oder erleichtern«, erklärte ein Sprecher der Kreditkartenfirma am Montag.

Ob Assange Asyl in der Schweiz beantragt hat, wie er im vorigen Monat bei einer Pressekonferenz angekündigt hatte, steht auch nicht fest. Aus datenschutzrechtlichen Gründen könne man über einzelne Personen keine Auskunft geben, erklärte das Bundesamt für Migration. Ob ein Asylgesuch erfolgreich wäre, ist unklar – in einer Umfrage des Tageszeigers sprachen sich 67,4 Prozent der Befragten für die Aufnahme des Whistle­blowers aus. Immerhin hat Assange möglicherweise ein Druckmittel: 500 Depeschen, in denen es um die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen USA und der Schweiz geht, wurden bislang von Wikileaks noch nicht veröffentlicht.
Eine andere Veröffentlichung hat nun, nach der Verhaftung von Assange, vielleicht Vorrang: Er hatte in zahlreichen Interviews immer wieder betont, dass er für einen solchen Fall Vorkehrungen getroffen habe. Wann immer ihm etwas passiere, würden automatisch hochbrisante geheime Dokumente, die bislang bewusst zurück­gehalten worden seien, veröffentlicht. Da Assange im Falle einer Verhaftung die Auslieferung an die USA befürchtet, wo einige Hardliner bereits die Todesstrafe für ihn forderten, wie er mehrfach betonte, wird sich vermutlich bald erweisen, ob er nur geblufft hat.